"Psychiatriegeschichte soll Tabu brechen"

- Dr. Elisabeth Dietrich-Daum bei der Eröffnung der Ausstellung.
- hochgeladen von Hubert Daum
Die viel beachtete Wanderausstellung zur Psychiatriegeschichte in der Imster Hörmanngalerie hat ein wissenschaftliches „Gehirn“, das in Nassereith lebt.
Sie ist Historikerin mit Leib und Seele: Die Nassereitherin Dr. Elisabeth Dietrich-Daum. Die gebürtige Silzerin verschrieb sich der Wissenschaft und schlug unmittelbar nach ihrem Studium eine Universitätskarriere ein. Mittlerweile ist sie speziell in ihrer Kernkompetenz Medizingeschichte international eine renommierte Größe. Dietrich-Daum war maßgeblich an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Aufsehen erregenden Quellen beteiligt, die in der alten Psychiatrie in Hall entdeckt. Die Ausstellung über die Psychiatriegeschichte in der Hörmanngalerie, die bis 11. Mai dort stationiert ist, zeigt wichtige Ergebnisse der aufwändigen Forschungsarbeit. Die BEZIRKSBLÄTTER konnten exklusiv mit ihr darüber sprechen.
BEZIRKSBLÄTTER: Warum sind Forschungen in der Psychiatriegeschichte wichtig?
Dr. Elisabeth Dietrich-Daum: Mindestens zehn Prozent der Bevölkerung haben im Laufe ihres Lebens mindestens einmal mit psychischen Problemen zu tun, entweder persönlich oder im Umfeld. Psychische Probleme werden aber immer noch tabuisiert. Psychiatriegeschichte soll und kann dieses Tabu brechen und zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema einladen. Probleme werden nur kleiner, wenn man sie angeht.
BEZIRKSBLÄTTER: Wie ist die Ausstellung entstanden, warum „wandert“ sie und wer finanziert sie?
Dr. Elisabeth Dietrich-Daum: Die Ausstellung ist Teil eines großen Projektes zur Psychiatriegeschichte des ehemaligen Landes Tirol, zudem bis 1919 auch Südtirol und das Trentino gehörte. Die Ausstellung wurde schon an insgesamt 12 Orten gezeigt, darunter auch in Deutschland und Italien. Mit dieser Ausstellung wollen wir zur Bevölkerung hin gehen, und diese lebt nicht nur in der Landeshauptstadt. Finanziert wurde die Ausstellung im Rahmen eines INTERREG IV-Projekts (Italien-Österreich), das die Universität mit dem Südtiroler Landesarchiv eingereicht hatte.
BEZIRKSBLÄTTER: Was brachten die Forschungen Neues zutage?
Dr. Elisabeth Dietrich-Daum: Als Forschungsergebnis konnten wir unter Anderem herausarbeiten, dass psychiatrische Erkrankungen sehr viel mit Armut zu tun haben. Außerdem wurde klar, dass in den psychiatrischen Anstalten, in Tirol also in Hall und in Pergine bei Trient, nur ein Bruchteil der Kranken untergebracht war. Mindestens 50% der Psychiatriepatientinnen und –patienten wurden stets zu Hause versorgt, von den Angehörigen und weitere 20-30Prozent der Kranken waren in den Gemeindeversorgungshäusern, z. B. in Nassereith, Imst oder Ried zum Teil während ihres halben Lebens untergebracht. Und da der Großteil der Versorgungshäuser von den Barmherzigen Schwestern geleitet wurde, und diese bevorzugt Frauen aufnahmen, haben wir in den psychiatrischen Anstalten stets mehr Männer als Frauen.
BEZIRKSBLÄTTER: Die Ausstellung ist bis zum 11. Mai in Imst stationiert. Hat sie einen Oberlandbezug?
Dr. Elisabeth Dietrich-Daum:
Ja, das hat sie definitiv: Wir haben noch nicht ausgezählt, wie viele Menschen aus dem Bezirk Imst und Landeck in der „Irrenanstalt“ je waren. Der Bezug stellt sich vor allem her, weil die Versorgungshäuser, vor allem Ried, sehr eng mit der Haller Anstalt zusammengearbeitet haben und auch, weil aus unseren Versorgungshäusern im Frühjahr 1941 13 Kranke aus Imst, 20 Menschen aus Nassereith und 21 Menschen aus Ried im Oberinntal abgeholt und zur Ermordung nach Hartheim transferiert wurden.
BEZIRKSBLÄTTER: Wie wirkt die Ausstellung auf die Besucher?
Dr. Elisabeth Dietrich-Daum: Für viele Menschen wirkt sie natürlich beklemmend. Sie macht nachdenklich, bietet aber auch unerwartete Einblicke. Wir erzählen ja nicht die Fortschrittsgeschichte der Psychiatrie, sondern versuchen die Situation der Patientinnen und Patienten zu thematisieren. Das macht natürlich betroffen, aber Betroffenheit ist ein wichtiger Impuls, um endlich über diese Geschichte auch nachzudenken und auch, um Familienangehörige, die in Anstalten gelebt haben und dort vielleicht sogar verstorben sind, zumindest in Gedanken nach Hause zu holen, ihre Geschichte als Teil der Familiengeschichte aufzunehmen und zu akzeptieren.
BEZIRKSBLÄTTER: Welche „Behandlungen“ mussten die Insassen früher in einer Irrenanstalt über sich ergehen lassen?
Dr. Elisabeth Dietrich-Daum: Wir finden hier ein weites Spektrum, von der fürsorglichen Betreuung bis zum Töten. Eigentliche Psychopharmaka gibt es ja erst seit rund 50 Jahren, bis in die 1960er Jahre wurden je nach Diagnose Menschen mit Elektroschock, in Form der Insulinkrampftherapie, der Malaria-Fieber-Therapie, dem Dauerbad, mit Isolierung, Zwangsjacke sowie mit einfachen Medikamenten oder in der Arbeitstherapie behandelt.
BEZIRKSBLÄTTER: Wohin „wandert“ die „Irrenanstalt“ in Zukunft bzw. was geschieht mit ihr?
Dr. Elisabeth Dietrich-Daum:
Es gibt noch eine Reihe von Anfragen, auch aus Vorarlberg und Italien. Es ist letztlich unser Ziel, dass Elemente der Ausstellung einmal im Lern- und Gedenkort in Hall Aufnahme finden werden. Wir möchten dieses gesellschaftlich und sozial so wichtige Thema auch in Zukunft wach halten und dazu braucht es eben diesen Lern- und Gedenkort.
Die BEZIRKSBLÄTTER danken herzlich für das interessante Gespräch.
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