El-Gawhary im Interview
"Sind mit arabischer Welt in Schicksalsgemeinschaft"

Karim El-Gawhary leitet das ORF-Korrespondenten-Büro in Kairo, ist einer der besten Kenner der Region und der mittlerweile der dienstälteste deutschsprachige Korrespondent im arabischen Raum. Wir sprachen mit ihm vor Ort über die Auswirkungen der weltpolitischen Lage auf die arabische Welt und was das für Österreich bedeutet, die Sicht der dortigen Menschen auf unser Land, aber auch über seine persönlichen Erfahrungen.

ÖSTERREICH/KAIRO. Wir treffen Karim El-Gawhary in seinem liebevoll eingerichteten Büro im Herzen von Kairo. Als Destination wählen wir den Balkon mit Blick auf den Nil, von wo aus auch immer die Einstiege in der Zeit im Bild stattfinden. Während des Interviews kommt immer wieder Chipsy vorbei - ein Hund, den er von den Straßen der Stadt gerettet und bei sich aufgenommen hat.

Herr El-Gawhary, wir sind hier im ORF-Korrespondenten-Büro – mitten in Kairo.
Ja, auf der Nil-Insel Zamalek. Das ist nur ein Teil des Nils, den wir hier im Hintergrund sehen.

Bei dieser ganzen Idylle stellt sich mir eine Frage: Wie oft sind Sie eigentlich hier in Kairo? Sie sind ja für einen großen Teil dieser arabischen „Welt“ verantwortlich.
Die Arabische Liga hat 22 Mitgliedsstaaten – natürlich kann man es nicht schaffen, das wirklich alles abzudecken. Ich war aber in den Corona-Zeiten tatsächlich relativ viel zuhause. Erst seit einem halben Jahr fing es wieder an, dass man wirklich reisen kann – da sind wir in den Libanon, in den Irak oder nach Tunesien gefahren. Es fängt nun also Gott sei Dank wieder an, dass man reisen und von vor Ort berichten kann. Es war natürlich frustrierend, wenn man in Kairo sitzt und von Kairo aus etwa über den Irak oder Syrien berichtet.

Mittlerweile haben wir mit der Ukraine auch in Europa eine Krisenregion – über diese gibt es aber eine emotionalisiertere Anteilnahme in Österreich im Vergleich zu Kriegen hier im Nahen Osten. Würden Sie dem zustimmen?
Das stimmt absolut. So sollte Kriegsberichterstattung sein: Dass man das Schicksal von Menschen mitbekommt, dass die Menschen Gesichter und Namen haben, dass man ihre Geschichte kennt und, dass sie selbst ihre Geschichte auch erzählen. Das wird nun erstmals im Ukraine-Krieg relativ gut gemacht. Ich würde mir wünschen, dass die Latte in der Kriegsberichterstattung, die da jetzt doch sehr hoch gelegt wurde, auch in anderen Kriegen außerhalb Europas anwenden.

Eine ehrliche und persönliche Einschätzung: Wird sich das ändern? Etwa beim nächsten Krieg hier im Nahen Osten?
Ich fürchte nicht. In der Ukraine ist es ein Krieg mitten in Europa mit Leuten, die genau so aussehen, wie die Leute in Österreich – das macht sicherlich viel aus. Trotzdem sollte man, wenn die Latte schon so hoch gelegt wurde, trotzdem fordern, das es in Zukunft überall so gemacht wird. Ich habe in den letzten 20, 30 Jahren hier viele Kriege mitgemacht und für mich war es immer eines der Ziele, Leute zu Wort kommen zu lassen – dass Menschen Subjekte sind und nicht Objekte. Am Ende sollte es so sein, dass sich jemand in seinem Fernsehsessel zurücklehnt und sich die einfache Frage stellt: „Wie würde ich mich in dieser Situation verhalten, was würde ich denken und fühlen?“ Dann hat man eigentlich einen guten Bericht gemacht und ich hoffe, dass das in Zukunft so der Fall sein wird.

Wir haben einen Krieg in Europa, aber die Auswirkungen sind nicht nur bei uns, etwa in Österreich, spürbar, sondern auch hier im Nahen Osten. Glauben Sie, dass das in weiterer Folge zu Unruhen in diesem Raum hier führen wird?
Ich glaube, es hat auf alle Fälle das Potential dazu. Was in Europa die Energiekrise ist, präsentiert sich hier als Lebensmittelkrise. Es gibt wahnsinnig steigende Lebensmittelpreise, da geht es um weit mehr, als „nur“ um Weizen – Ägypten ist aber etwa der größte Weizenimporteur der Welt. 80 Prozent des Weizens hier kamen vor dem Krieg aus der Ukraine und aus Russland. Die Krise ist aber viel größer und das kommt auf eine soziale Krise, die ohnehin schon vor dem Krieg da war. Wenn man von den reichen Golf-Staaten absieht, leben ein Viertel der Bevölkerung in der arabischen Welt unter der Armutsgrenze. Was vielleicht noch dramatischer ist: Über 40 Prozent stehen kurz davor, unter diese Armutsgrenze abzustürzen. Und das war vor der Pandemie und vor dem Ukraine-Krieg – so kann man sich ungefähr vorstellen, was das jetzt für Auswirkungen hat. Ich bin mir sicher, dass es hier nicht ruhig bleiben wird: Wir haben jetzt schon massive Probleme im Libanon, in Tunesien, in Ägypten, im Jemen. Man merkt: Die Leute stehen wirklich mit dem Rücken zur Wand, da geht´s nun um´s Eingemachte.

Wenn wir das nun aus österreichischer Sicht betrachten: Man versucht immer wieder zu helfen, aber die Frage ist, ob diese Hilfe auch wirklich ankommt. Wie soll ein Land wie Österreich mit dieser Krise, mit möglichen Unruhen, umgehen? Wie kann am besten Hilfe geleistet werden?
Das Wichtigste ist zu verstehen, dass man unmittelbar miteinander zusammenhängt, dass es keine altruistische Geschichte ist. Wenn Sie in Österreich Ihr Auto auftanken – woher kommt der Treibstoff!? Wenn hier aus dieser Situation heraus irgendwelche militanten Organisationen, wie Al Kaida oder der IS, entstehen, dann wird das automatisch auch zum Sicherheitsproblem für Europa. Wenn es hier zu Krisen oder massiven wirtschaftlichen Problemen kommt – wohin flüchten dann die Leute!? Sie haben es vermutlich gesehen: In drei Stunden ist man von Wien in Kairo und all das, was hier passiert, ist kein theoretisches Konzept für Europa, es geht um die unmittelbare Nachbarschaft und wir sind mit dieser Nachbarschaft verbunden in einer Art Schicksalsgemeinschaft. Daher ist es überhaupt nicht unerheblich, was hier passiert. Jetzt ist gerade der Ukraine-Krieg im Vordergrund, aber ich sage immer: Ich habe einen der krisensichersten Jobs des ORF – also meine Krise kommt bestimmt.

Es ist auch damit zu rechnen, dass viele Flüchtlinge aus dem arabischen Raum in naher Zukunft wieder in Richtung Österreich kommen werden. Wie soll man Ihrer Meinung nach damit umgehen?
Wenn sich die wirtschaftliche Situation hier so verschlechtert und die Verzweiflung dementsprechend größer wird, kann man davon ausgehen, dass wieder mehr Leute nach Europa kommen. Die werden immer gerne als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, ich würde sie eher als Armutsflüchtlinge bezeichnen. Auch das ist aber ein Problem, mit dem man umgehen muss – ich glaube nicht, dass man sich davon abschotten kann. Auch da haben wir gemerkt, was die Ukraine angeht, wie man mit flüchtenden Menschen umgehen kann. Ich würde mir auch in diesem Punkt wünschen, dass die Latte dann für den Raum hier genauso gelegt wird und, dass Menschen als Menschen betrachtet werden und nicht als Flüchtlinge.

Man sieht, dass die Kultur in Nahost den Österreichern sehr zusagt – man fährt gerne auf Urlaub hier her und genießt die Kultur. Aber wenn Menschen von hier dann zu uns nachhause kommen, existiert die Willkommenskultur und das Näheverhältnis plötzlich nicht mehr. Warum?
Weil Leute einfach als fremd wahrgenommen werden. Wenn eine Million Menschen aus Afrika nach Europa kämen, dann würden wir nicht über den Islam diskutieren, sondern wahrscheinlich über Hautfarbe – alles, was mich von dem anderen unterscheidet, macht Leuten erstmal Angst. Aber es gibt keine Alternative dazu: Wir werden diese Bewegungen immer haben. Seit der Pandemie merkt man in Europa erstmals seit langer Zeit, was überhaupt eine Krise ist. Nun hatte man eine Pandemie und nun einen Krieg mitten in Europa. Vielleicht entwickelt man nun auch ein bisschen mehr Gefühl dafür, was es bedeutet, wenn Leute in wirklichen Krisen leben. Keiner geht freiwillig von zuhause weg.

Immer wieder hört man hier, dass Österreich im arabischen Raum besonders angesehen ist. Entspricht das tatsächlich der Wahrheit?
Österreich hat seit der Bruno Kreisky-Zeit einen guten Stand. Aber ich glaube, Österreich hate einen guten Stand, weil es ein kleines Land ist, dass mit irgendwelchen kolonialen Abenteuern noch nicht sehr viel in Erscheinung getreten ist, wie das etwa für Großbritannien oder Frankreich gilt, und auch nicht mit Großmachtallüren, wie die USA. Deshalb betrachtet man Österreich immer sehr wohlwollend.

Abschließend: Wo stehen der Nahe Osten bzw. Ägypten in zehn Jahren und auch im Vergleich zu Österreich: Wie wird sich das Zusammenleben gestaltet haben?
2032? Ich glaube, das ist vollkommen unmöglich einzuschätzen. Wenn ich mir überlege, was in den letzten zehn Jahren in der arabischen Welt hier passiert ist: Von Autokratien, Umstürzen, Unruhen und wieder Autokratien, plus dem Thema Klimawandel, wo die Auswirkungen in dieser Region massiv sein werden. Wir haben Themen, über die wir heute noch gar nicht nachdenken, sodass wir heute nicht sagen können, was 2032 sein wird. Wir wissen auch gar nicht, was in Europa 2032 sein wird.

Hoffentlich können wir trotzdem optimistisch in diese Zeit blicken. Danke für das Gespräch und alles Gute hier in Kairo.

Vielen Dank. Ich bin immer froh, wenn Leute kommen und sich für diese Region interessieren. Für mich ist es immer wichtig, nicht die Exotik dieses Ortes zu zeigen, sondern die unglaublichen Gemeinsamkeiten. Eine normale ägyptische Familie hat dieselben Wünsche, wie eine österreichische Familie – sie möchten möglichst in Ruhe und in Frieden leben, sie möchten ein halbwegs vernünftiges Auskommen haben und sie möchten, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung haben. All das sind Dinge, die sie überhaupt nicht von dem unterscheiden, was eine österreichische Familie gerne möchte. Es ist ganz wichtig, dass man diese Gemeinsamkeiten betont und nicht die Unterschiede.

ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary im Interview mit MeinBezirk-Reporter Lukas Moser in Kairo | Foto: MeinBezirk.at

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