Die Praxis der Koexistenz
Die Stichworte schwirren uns praktisch jeden Tag um die Ohren: Flüchtlinge, Asylwerber, Integration, Grenzzäune, Polizeieinsatz.
Viele von uns fürchten sich gerne davor, daß die Welt sich gerade wieder massiv verändert. Andere stellen sich ganz konkret den neuen Aufgaben und den ankommenden Menschen.
Die Arbeitsgemeinschaft „I am Gleisdorf“ hat eben ihr 7. offenes Arbeitstreffen absolviert. Das fand, symbolträchtig, im großen Sitzungssaal statt, an eben jenem Tisch, den sonst der Gemeinderat besetzt. Da wirkt ein kontrastreicher Querschnitt durch die lokale Gesellschaft. Kein Rahmen für ideologische Debatten, sondern für praktisches Problemlösen.
Wer eine Weile zuhört, hat von den Sorgen der Vertriebenen, die hier ankommen, eine klarere Vorstellung. Es zeigt sich auch, wie stark die österreichische Verwaltung gefordert ist und sich der Situation in manchen Fragen noch längst nicht gewachsen zeigt. Da ist ergänzender privater Einsatz gefordert, um Stabilität zu stärken.
Wer nun denkt, ein Engagement für Vertriebene sei bloß der Einsatz für Fremde, hat nicht kapiert, was „Gemeinwesen“ bedeutet, versteht nicht, was die Bürgerinnen und Bürger bei „I am Gleisdorf“ auch für uns, für das eigene Land leisten.
Bürgermeister Christoph Stark hat es kürzlich bei einem Round Table im „Museum im Rathaus“ offen ausgesprochen. Wenn dieses Engagement der Zivilgesellschaft für die Flüchtlingsbelange plötzlich zusammenbrechen würde, wären die Kommunen in ernsthaften Schwierigkeiten.
Das bedeutet unter anderem, hier üben und praktizieren Menschen, was uns alle als Staatsvolk überhaupt erst ausmacht; nämlich den ehrenamtlichen Einsatz für diesen Staat, der alles Nötige nicht bloß leisten kann, indem die öffentliche Hand wirkt. Anders ausgedrückt, viele unserer vertrauten Annehmlichkeiten wären längst dahin, bliebe das Ehrenamt innerhalb des Staatsvolkes geringer.
Das steht im Kontrast zu jenen unserer Mitmenschen, die den Staat, die Gemeinde, die öffentliche Hand bloß als Serviceeinrichtung verstehen und sich in zurückgelehnter Haltung die Erfüllung ihrer privaten Wünsche nach Annehmlichkeit erwarten. Von dieser Mentalität können heute in jeder Amtsstube Lieder gesungen werden.
Die Ungnade des Geburtsortes hat aktuell Millionen von Menschen vor unsäglicher Gewalt fliehen lassen. Von diesen Millionen kommen bloß einige hunderttausend nach Europa. Die paar tausend Vertriebenen, derer sich das wohlhabende Österreich annehmen muß, haben Politik und Verwaltung schon mehrfach in tiefe Verlegenheiten und erhebliche Schwierigkeiten gebracht.
Wir könnten auch froh sein, daß wir in so gesicherten Verhältnissen proben dürfen, wie uns die Bewältigung solcher Aufgaben gelingen kann, indem Staat und Zivilgesellschaft lernen, sich derlei Aufgaben zu teilen. Darin erwerben wir Fertigkeiten, die uns in anderen Verhältnissen noch von großem Nutzen sein werden.
Übrigens, die friedfertige Koexistenz mit Andersdenkenden, mit Menschen, die kulturell anders geprägt sind, wird ja nicht nur durch Immigranten zum Thema. Oder denken Sie ernsthaft, daß etwa meine Existenz und mein Denken als freischaffende Kraft sozial und kulturell mit jenen Praktiken der Lehrerschaft, der Handelsangestellten, der Verwaltungskräfte etc. anstandslos kompatibel ist?
Sie dürfen auch nicht davon ausgehen, daß sich mein Verständnis österreichischer Kultur, Traditionen und Identität ohne weiteres mit den Vorstellungen verträgt, die ich von allerhand Schreihälsen an heimischen Theken zu hören bekomme, da sie sich gerade um unsere Kultur und die Werte Europas so lauthals Sorgen machen, aber ihre Bücherschränke kleiner sind als ihre Zigarettenschachteln.
Wenn wir also von Integrtion reden, dürfen wir in der sich gerade massiv verändernd Welt getrost bei uns selbst ansetzen. Und wer Fragen der Praxis einer Koexistenz verschieden geprägter Menschen ignoriert, könnte schon bald sehr alt aussehen.
+) I am Gleisdorf [link]
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