Nachtfahrten
Ein Lokal, das von vier Uhr nachmittags bis weit jenseits Mitternacht geöffnet hat, gleicht einem Fährschiff. Meist ist es kleinen Ausflugsfahrten gewidmet, manchmal einer Abenteuerreise. Gelegentlich muß es einen Fluß des Vergessens überqueren.
Es könnte aber auch sein, daß dieses Gleisdorfer „Wahnsinns Beisl“ als eine Art Brückenkopf verstanden werden sollte. Es besteht in jener Zone, wo die Bürgergasse von der Oberstadt in die Unterstadt übergeht. (Fährschiff!)
Das sind freilich keine Begriffe, die in Gleisdorf gebräuchlich wären: Oberstadt, Unterstadt. Beachtet man das gewachsene soziale Gefüge im Inneren Gleisdorfs, das grade erst über sich hinausgewachsen ist, müßte man sogar von wenigstens drei Zonen sprechen, denn die Oberstadt wäre ferner mit der „Drüberstadt“ belegt, in der ein etwas ermüdetes Bildungsbürgertum zuhause ist.
Doch das sind Kategorien, die im Wahnsinns Beisl, dieser Zone schillernder Überfahrten, keine Rolle spielen.
Selbstverständlich führt eine Straße der gebrochenen Herzen mitten durch das Lokal. Manchmal fällt das Licht auf eine Stelle des Tisches, die frei bleibt. Aber gleich daneben, im Schatten der Nacht, sitzt jemand verborgen und drückt den Rücken gegen die Wand.
Wo die Bar vorne von einer Seite ausgeht, ist die hellste Passage der Strecke, auf welcher bewegte Menschen lange nach Mitternacht ihren Heimweg verfehlen. Am frühen Abend blättert sich da oft eine Runde von Männern auf, wie sie direkt von Baustellen kommen.
Kleiner Einschub! Mark Knopfler hat den Soundtrack zu der Bar-Belegung durch diese Burschen geschrieben. In „Why aye man” singt er: “We're nomad tribes, travelling boys, In the dust and dirt and the wrecking noise. Drills and hammers, diggers and picks, Mixing concrete, laying bricks…“
Wenn sich die Hackler hier vom Arbeitstag etwas erholt haben, gerät die Zone zur Bühne. Später werden sich jene im gut beleuchteten Bereich aufhalten, die sich sehen lassen, die durch ihren Auftritt ein entspanntes Statement zuwege bringen. Dort müssen sich auch jene zurechtsetzen, die gefunden werden möchten.
Es gibt freilich auch die Stunde, in der ein fröhliches Jagen anbricht. Es werden einige scheue Wesen sich den entlegendsten der Tische suchen. Andere werden sich zu Heftigkeiten aufraffen, über die wir den Mantel des Schweigens breiten, damit nicht zu viel nackte Haut sichtbar wird.
In manchen ist ein Wüten, in manchen ist ein Weinen, in manchen rollt die Sehnsucht wie schlecht vertäute Ladung auf hoher See. Das sind gefährliche Schwankungen. Es gibt auch Schweigsame, die mit wallendem Blut zu brüllenden Poeten werden.
Es gibt wilde Mädchen und sanfte Draufgänger. Es gibt welche, die nicht einmal mehr dank wohlmeinender Freunde einen nächsten Drink erhalten, weil sie dadurch zuallererst sich selbst die größte Gefahr würden. Es gibt andere, denen die Trunkenheit nichts anhaben kann, während sie sich in ihnen entfaltet wie Tinte in einem Glas Wasser.
Auf diesen Nachtfahrten bleibt nichts unberührt, ereignen sich Aufgänge und Untergänge, was zum geringsten Teil die Sonne meint.
+) Kleine Reportagen [link]
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