Vermehrter Griff zur Flasche im Bezirk Braunau
Berauscht durch die Corona-Krise
Corona ließ Menschen im Bezirk Braunau vermehrt zur Flasche greifen. Das weiß auch Jürgen* von den Anonymen Alkoholikern.
BEZIRK BRAUNAU, SIMBACH. "Die Nachfragen beziehungsweise Hilferufe haben bei den Anonymen Alkoholikern sowie bei der Al-Anon-Familiengruppe verstärkt zugenommen", erzählt Jürgen*. Er und seine Frau Iris* leiten sowohl die Selbsthilfegruppe für Anonyme Alkoholiker (AA) als auch jene für deren Angehörige, die "Al-Anon-Familiengruppe", in Simbach.
Beratung aus Erfahrung
Jürgen hatte selbst jahrelang zur Flasche gegriffen. Dass er unter einer Suchtkrankheit litt, wollte er sich aber viele Jahre nicht eingestehen: "Der Alkohol bestimmt das Denken und den Alltag. In meinem Job habe ich immer öfter heimlich im Büro getrunken. Wenn ich am Gang jemanden kommen hörte, wurde ich stets nervös und habe gehofft, dass mein Zittern nicht zu sehr auffällt. Dann habe ich einen Schluck Whiskey getrunken, und es ging mir wieder besser." Doch nicht nur für die Patienten selbst ist der regelmäßige Griff zur Flasche belastend – auch für die Angehörigen stellt die Situation eine große Herausforderung dar. "Als Familienmitglied oder Partnerin muss man dieser Abwärtsspirale zusehen. Man ist ständig damit beschäftigt, die Krankheit zu vertuschen. Wenn wir am Sonntag zum Mittagessen eingeladen waren, haben wir unsere Sonntagsmaske aufgesetzt und die heile Familie gespielt. Kaum zuhause angekommen, nahmen wir die Maske ab", erinnert sich Iris. Jürgens Frau fand schließlich Hilfe bei einer Al-Anon-Gruppe, die sie mittlerweile leitet, er selbst nahm an den zeitgleich stattfindenden Treffen der Anonymen Alkoholiker teil und ist ebenfalls seit einigen Jahren Leiter der Selbsthilfegruppe. "In den Al-Anon Familiengruppen ist es für die Betroffenen eine große Erleichterung, zu hören, dass Alkoholismus eine Krankheit ist, an der sie nicht schuld sind, und dass sie in ihrer Situation nicht alleine sind. Der Betroffene erhält das Gefühl, endlich verstanden zu werden. Es werden keine Ratschläge erteilt. Die Teilnehmer sprechen über ihre Erfahrungen und vermitteln dadurch Hoffnung", weiß Iris.
Online-Hilfe in der Krise
Als Alternative zu den Live-Treffen, die während der Krise nicht stattfinden konnten, wurden Online-Meetings angeboten. "Erfreulicherweise nahmen einige Suchende diese Möglichkeit in Anspruch, hier Erfahrung und Hilfe zu sammeln. Anderen konnte telefonisch Hilfestellung angeboten werden", berichten die beiden Gruppenleiter. Generell empfehlen sie, sich Hilfe zu holen, sobald das Trinkverhalten auf eine Abhängigkeit hinweist. "Ein Alkoholiker hat oft lange Zeit keine Einsicht und leugnet sein Trinkproblem", weiß Jürgen. Angehörige sollten sich Hilfe holen, sobald ihr Leben durch das Trinken beeinträchtigt wird. Ab 29. Juni finden auch wieder Live-Treffen der beiden Selbsthilfegruppen statt. "Diese finden jeden Dienstag unter Einhaltung der geltenden Covid-Bestimmungen statt. Zusätzlich wird weiterhin jeden Sonntag ein Zoom-Meeting angeboten", berichtet Jürgen.
*Namen der Personen von der Redaktion geändert
Hier wird geholfen
Anonyme Alkoholiker
• Treffen ab 29. Juni immer dienstags
• Start: 19.30 Uhr
• Räumlichkeiten der evangelischen Gnadenkirche in Simbach, Albert-Seidl-Straße 6
• Einhaltung der Covid-Bestimmungen
• Kontakt: 0664/4117 335
Al-Anon-Familiengruppe
• Für Angehörige von Menschen mit Alkoholproblemen
• Ab 29. Juni immer dienstags ab 19.30 Uhr
• Räumlichkeiten der evangelischen Gnadenkirche in Simbach, Albert-Seidl-Straße 6
• Einhaltung der Covid-Bestimmungen
• Kontakt: 0650/7626 666
Online-Meeting
• Sonntags: 19 bis 20.30 Uhr
• Zoom-Meeting: Mittels Kennnummer kann sich jeder Betroffene/Interessierte einwählen und anonym teilnehmen
• Kontakt: 0664/4117 335
Kommentar: Wenn die Flasche die Krise erleichtert
Vor über einem Jahr wurden unsere Leben auf den Kopf gestellt: Corona traf uns mit voller Wucht. Viele von uns stürzte die Einschränkung der persönlichen Kontakte in die Einsamkeit. Der einzige und treuste "Freund" dabei war für manche Menschen leider ein hochprozentiger. Im Kampf gegen die physischen Auswirkungen der Krise blieben die psychischen Folgen, wie in unserer Gesellschaft üblich, meist zu wenig berücksichtigt. Ein Resultat daraus ist im Bezirk die steigende Zahl an Alkoholkranken. Die Anonymen Alkoholiker erlebten einen Zulauf an Hilfesuchenden. Durch Schutzmaßnahmen sind die körperlichen Auswirkungen des Virus derzeit weitestgehend unter Kontrolle. Wäre es nun nicht an der Zeit, der Psyche dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken? Damit der Griff zur Flasche nicht der einzig potenzielle Ausweg für Viele bleibt.
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