Wiener Rathaus
Bleibt der sogenannte "Hitler-Balkon" eine Erinnerungslücke?
Nur wenige wussten, dass Adolf Hitler 1938 nicht nur auf dem Altan der Hofburg, sondern auch auf einem eigens für ihn errichteten Balkon des Wiener Rathauses auftrat. Kaum jemandem war bekannt, dass dieser provisorische Holzbalkon einige Monate später "zu Ehren Hitlers" in Stein nachgebaut wurde. Und so gut wie niemand wusste, dass er auf dem Hauptturm des Rathauses heute noch existiert; unkommentiert, gereinigt, Jahr für Jahr mit Pflanzen dekoriert und von nichtsahnenden Touristen fotografiert.
Bereits wenige Wochen nach dem "Anschluss" verkündete Joseph Goebbels von diesem Balkon aus, am 9. April 1938, um 12 Uhr, den "Tag des Großdeutschen Reiches". Minuten später trat im Rahmen derselben Propagandaveranstaltung auch Hitler auf den Holzbalkon. Er blickte auf die ihm zujubelnde Menge herab. Der Rathausplatz hieß zu diesem Zeitpunkt längst Adolf-Hitler-Platz. Am darauffolgenden Tag erfolgte die "Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich".
Wie ein "Denkmal für Hitler"
Wie soll heute mit einer solchen "Wiener Erinnerungslücke" umgegangen werden? Der im Volksmund Hitler-Balkon genannte Mittelbalkon des Rathauses ist kein Originalbauteil, sondern wurde ausdrücklich wie ein Denkmal für Hitler nachträglich an die Turmloggia angefügt. Hitler stand auf dem Holzbalkon, doch niemals auf dem heute noch existierenden Steinbalkon. Warum letzteren also erhalten? Noch dazu an einem der wichtigsten Gebäude Wiens? "Memory Gaps" empfahl daher den Abriss des Balkons. Insbesondere auch deshalb, weil er gegen die architektonische Linie des Hauptturmes – an dem davor niemals ein solcher Balkon existierte – verstößt.
Im Zuge der im Herbst 2020 zu Ende gehenden Restauration und Instandsetzung des gesamten Hauptturmes hätte ein sehr kostenschonender Abriss und Rückbau erfolgen können. In Zeiten des brüchig werdenden Humanismus hätte ein solcher Abriss sogar erheblichen historisch-kulturpolitischen Symbolwert gehabt und weit über Wien hinaus gestrahlt.
Die historische Auseinandersetzung mit belastetem Erbe ist schwierig. Mit diesem "Unort des Proklamierens" hätte vieles geschehen können. Lediglich "Dienst nach Vorschrift"-Messingtafeln anzubringen, diese mit QR-Codes für Touristen zu versehen, und das Ganze "Kontextualisierung" zu nennen, erschiene im 82. Jahr des Gedenkens jedenfalls unzureichend und beliebig.
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