"SOS" im Klassenzimmer
Warum Wörgl die Schulsozialarbeit kündigen will

Wörgls Bürgermeister hat die Schulsozialarbeit gekündigt. Man plant nun "personelle Veränderungen". | Foto: Nimpf
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In Wörgl sorgt die Kündigung der Schulsozialarbeit durch den Bürgermeister für Aufregung – dabei brauchen die Schulen eigentlich mehr Hilfe, nicht weniger. Eine "personelle Änderung" soll Abhilfe schaffen.

WÖRGL. Wenn Schülerinnen und Schüler weinend aus dem Klassenzimmer laufen, wenn Konflikte eskalieren, Eltern überfordert sind oder sich Kinder schlicht niemandem anvertrauen wollen – dann ist sie da, die Schulsozialarbeit. In Wörgl wurde die Schulsozialarbeit 2016 eingeführt und ist mittlerweile für viele Kinder unentbehrlich. Umso größer war die Verwunderung, als kürzlich bekannt wurde: Die Stadtgemeinde Wörgl will die vom Land Tirol mitfinanzierte Schulsozialarbeit nicht weiterführen. In einem Schreiben kündigte Bürgermeister Michael Riedhart das bestehende Kooperationsverhältnis mit der Tiroler Kinder- und Jugend GmbH, die diese Unterstützung bisher organisierte. Dass Riedhart die Schulsozialarbeit abschaffen will, sorgte zuletzt für Aufruhr in sozialen Medien gleichermaßen wie auf Landesebene. Doch hinter dem Kündigungsbrief ans Land Tirol steckt auch ein dringender Hilferuf aus den Wörgler Schulen selbst.

Neustart statt Rückschritt

Die Entscheidung, den bestehenden Vertrag mit dem Land Tirol zur Schulsozialarbeit zu kündigen, war für viele überraschend – doch sie sei keineswegs als Ablehnung gemeint, heißt es auf Anfrage aus der Pressestelle im Wörgler Stadtamt. Vielmehr sei es ein Schritt hin zu einem neuen Modell, das den aktuellen Bedürfnissen im Schulalltag besser gerecht werden soll.

"Gemeinsam mit den Pflichtschul-Direktorinnen und Direktoren haben wir festgestellt, dass das bisherige Modell nicht mehr zu den heutigen Abläufen passt",

so das Statement aus dem Stadtamt. Besonders bemängelt wurde die geringe Präsenz der Fachkräfte im Unterricht sowie die eingeschränkte Erreichbarkeit – oft war eine Beratung nur mit Termin möglich, spontane Hilfe in akuten Krisen damit kaum umsetzbar.

Wörgl möchte nun eigene Schulsozialarbeiter vor Ort beschäftigen, weil die des Landes der Situation nicht mehr gewachsen seien. | Foto: Nimpf
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Um dem entgegenzuwirken, plant die Stadt ein umfassendes Update der schulischen Unterstützung: Statt punktueller Beratungstermine soll die Sozialarbeit künftig direkt im Klassenzimmer stattfinden, enger mit Lehrpersonen zusammenarbeiten und auch ohne Vorlaufzeit für Kinder ansprechbar sein. Erstmals sollen zudem alle Volksschulen in Wörgl mit eingebunden werden. "Die Unterstützung fällt nicht weg, sondern wird neu gestaltet", betont die Stadt. Noch vor Beginn des neuen Schuljahres sollen zwei neue Stellen ausgeschrieben werden, die besser auf die Anforderungen abgestimmt sind. Ziel ist ein Neustart im Herbst – mit mehr Präsenz, kürzeren Reaktionszeiten und einer breiteren Verankerung im Schulalltag.

Sollte Wörgl eigene Sozialarbeiter anstellen - auch wenn dadurch Fördermittel vom Land verloren gehen?

"Brauchen eine Art SOS-System"

Für Gottfried Schneider, Direktor der Mittelschule 1 in Wörgl und Ersatzgemeinderat (WFW), steht eines fest: Die Schulsozialarbeit ist in seiner Schule nicht nur wichtig – sie ist unverzichtbar. Aber eben nicht in der bisherigen Form. Niemand – selbst der Bürgermeister nicht – wollte die Schulsozialarbeit komplett beenden. Doch das bestehende Modell sei der Situation vor Ort schlicht nicht mehr gewachsen, erklärt der betroffene Direktor. Manche Kinder würden regelmäßig "auszucken" und durch impulsive Ausbrüche den Unterricht massiv stören, so Schneider über seine Erfahrungen im Schulalltag. "Dann sollte ich eigentlich zur Schulsozialarbeit sagen dürfen: 'Bitte betreu mir dieses Kind.' Aber das zählt gar nicht zu deren Aufgabenfeldern", so der Direktor weiter. Stattdessen müsse oft das Lehrpersonal improvisieren:

"Ich bitte dann Assistentinnen, Lehrer mit Freistunde oder sogar die Sekretärin, sich um das Kind zu kümmern",

berichtet Schneider. Denn nur so können die anderen Kinder in den Klassen normal weiterlernen. Der Bedarf sei also nicht weniger Schulsozialarbeit – sondern mehr, und zwar sofort verfügbar. "Wir brauchen eine Schulsozialarbeit, die sozusagen Bereitschaft hat. Wenn ein Kind in der zweiten Stunde ausrastet, muss jemand da sein – und nicht erst nach einem Termin nächste Woche", bringt es Schneider auf den Punkt. Er schildert auch die schwierige Ausgangslage für die Entscheidung: In einer Besprechung mit Gemeindevertretern, mehreren Direktoren und Teamleitern sei man sich einig gewesen, dass sich "personell etwas ändern" müsse. Dass Riedhart dann aber einen Kündigungsbrief ausschickte, kam auch für ihn überraschend. Aber eine ansprechbare, präsente und handlungsfähige Schulsozialarbeit sei für seine Schule essenziell. "Wörgl braucht mehr als andere Standorte. Es wäre völlig falsch zu sagen, wir wollen das nicht mehr. Was wir brauchen, ist aber eine Art SOS-Notfallsystem – und zwar dringend", so Dirketor Schneider abschließend.

Scharfe Kritik von SPÖ-Jugendsprecher

Scharfe Kritik an der Entscheidung kommt von Stadtrat Christian Kovacevic, Jugendsprecher der SPÖ im Tiroler Landtag. Für ihn ist der Kurs der Stadtführung ein fataler Rückschritt.

"Während andere Gemeinden gemeinsam mit dem Land Tirol ihr Sozialangebot stetig ausbauen, sind die Wörgler Pläne nicht nachzuvollziehen und tirolweit auch völlig einzigartig – so etwas hat es bisher noch nicht gegeben",

erklärt Kovacevic in einer Presseaussendung. Gerade nach tragischen Vorfällen wie in Graz brauche es mehr Aufmerksamkeit für die Sorgen junger Menschen – nicht weniger. Dass Bürgermeister Michael Riedhart das Angebot ohne Diskussion im Gemeinderat oder Bildungsausschuss beendet habe, hält Kovacevic für besonders bedenklich. Auch mögliche Spargründe lässt er nicht gelten.

„Kurzfristige Geldbeschaffungsmaßnahmen dürfen nicht zulasten unserer zukünftigen Generationen gehen",

betont Kovacevic. Der SPÖ-Stadtrat war selbst maßgeblich an der Einführung der Schulsozialarbeit in Wörgl im Jahr 2016 beteiligt und warnt eindringlich: "Den Mehrwert der bisher geleisteten Schulsozialarbeit würde man wohl erst dann erkennen, wenn es sie nicht mehr gibt – dann könnte es aber schon zu spät sein."

Für TKJ kam Kündigung überraschend

Von einem baldigen Ende der Zusammenarbeit mit der Stadt Wörgl erfuhr die Tiroler Kinder und Jugend GmbH erst spät, nämlich Mitte Juni, erzählt Geschäftsführerin Elke Luwitsch auf Anfrage. Noch Anfang Juni hatte man sogar neue Räumlichkeiten für das kommende Schuljahr zugewiesen bekommen. Anfang Juli fand schließlich das besagte gemeinsame Gespräch statt. Eine offizielle Verständigung über das Aus der Zusammenarbeit folgte jedoch erst auf Nachfrage. Klar ist für die Organisation jedoch: Die Schulsozialarbeit erfüllt eine zentrale Rolle. Die Fachkräfte sind direkt im Lebensraum Schule präsent, bieten eine niederschwellige Anlaufstelle, begleiten Kinder individuell und greifen bei akuten Problemen unterstützend ein.

Die Schulsozialarbeiter der Tiroler Kinder und Jugend GmbH haben im Schuljahr 2024/25 516 Einzelberatungen in Wörgl durchgeführt. | Foto: unsplash
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Allein im Schuljahr 2024/25 wurden an den drei Wörgler Schulen 516 Einzelberatungen durchgeführt, 923 Kinder nahmen an Präventions- und Interventionsstunden teil. Auch 144 Elterngespräche wurden dokumentiert. Die Schulsozialarbeit verstehe sich dabei als Brücke zwischen Schule, Familie und externen Hilfsangeboten.
Dennoch war die bisherige Zusammenarbeit nicht frei von Spannungen. Besonders mit einer der Schulen habe es immer wieder unterschiedliche Auffassungen gegeben, so Luwitsch. Trotzdem habe man stets mit hoher Kooperationsbereitschaft gearbeitet und konkrete Lösungsvorschläge eingebracht.

"Die SchulsozialarbeiterInnen der Tiroler Kinder und Jugend GmbH sind aber weder der Schulleitung noch der Gemeinde weisungsgebunden – im Zentrum steht immer das Wohl des Kindes",

sagt Luwitsch abschließend.

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