"Die Armut entwickelt sich dramatisch"

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BezirksRundschau: Ist die SPÖ noch die Partei des kleinen Mannes? Die FPÖ hat ihr diese Rolle ja schon bei der Nationalratswahl und jetzt auch bei der EU-Wahl streitig gemacht.
Jahn:
Die Leute sind ja derzeit zurecht enttäuscht, was sie erleben. Es gibt europaweit eine Politik der Lohnkürzungen, des Abbaus der Sozialleistungen und der Arbeitnehmerrechte. Das ist eine Politik der konservativen Übermacht in Europa und das hätten wir auch zu drehen versucht. Denn alles was uns in Europa betrifft, bis hin zur kleinsten Gemeinde in Oberösterreich, hängt letztlich davon ab, welche Politik in Europa betrieben wird. Wir haben als Sozialdemokratie unsere Position in Europa gut gehalten und sind im Vergleich zur EVP sogar gestärkt. Bei den Verhandlungen können wir auch entsprechend ein sozialeres Europa einfordern. Uns ist wichtig, hervorzustreichen, dass der Sozialstaat nicht nur gesellschaftlich unglaublich bedeutsam ist, sondern dass er auch ein entscheidender Wirtschaftsfaktor ist. Der Sozialstaat ist Teil der Wirtschaft und es ist nicht so – wie immer dargestellt – dass die Wirtschaft den Sozialstaat erhalten müsse. Denn jedes Behindertenwohnhaus, jeder Rollstuhl bringt Arbeitsplätze. 7,5 Prozent der Beschäftigten in Oberösterreich sind im Sozial- und Gesundheitsbereich tätigt. Österreich ist insbesondere so gut durch die Krise gekommen, weil es ein hohes Sozialleistungsniveau hat – das zeigen auch EU-Studien eindeutig. Die tragende Rolle des Sozialstaates hervorzuheben wird zunehmend wichtiger, je mehr Sorgen die Menschen haben, je schwieriger es für Menschen wird, mit dem Einkommen auszukommen. Die Verteilungsfrage ist natürlich ganz wichtig. Ich schau mir an, ob sich die Freiheitlichen einmal dafür positionieren, dass es eine Millionärssteuer gibt, bisher habe ich nichts davon gehört. Wir werden ganz klar einfordern: Die die besonders viel haben, müssen einen Beitrag leisten. Denn ansonsten werden sich nur mehr die mit einer dicken Brieftasche ein gutes Leben und ein Altern in Würde leisten können.

Aus Wirtschaftskreisen ist zu hören, dass wir uns den besonders ausgeprägten Sozialstaat im Wettbewerb mit Wirtschaftsmächten wie China & Co. bald nicht mehr leisten können.
Entscheidend sind die Lohnstückkosten. Und bei denen sind wir trotz der relativ hohen Sozialabgaben unter dem Niveau etwa von Deutschland. Im Vergleich zu den übrigen wichtigen Handelspartnern sind die Lohnstückkosten bei uns sogar gesunken. Und in den Lohnstückkosten stecken die Sozialabgaben drinnen. Was oft vergessen wird: Eine Leistung wie eine Operation wird ja nicht billiger, wenn ich sie privat statt durch Sozialabgaben finanziere.

Im internationalen Wettbewerb etwa mit China geht die Schere bei den Lohnstückkosten aber weiter auseinander – weil viele Sozialleistungen dort einfach nicht angeboten werden.

Das sehe ich anders, weil sich dort das Lohnniveau Schritt für Schritt erhöht. Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir die niedrigeren Kosten haben sondern ob die Weltwirtschaft entsprechend wächst. Denn je mehr sie wächst, umso mehr Platz haben alle Anbieter. Wenn allerdings eine Politik der Kürzung von Löhnen und Sozialleistungen betrieben wird, dann fehlt es an Kaufkraft – auch an Kaufkraft, um soziale Leistungen nachfragen zu können. Und genau diese sozialen Leistungen sind für uns eine Chance. Wir haben in Österreich dieses große know how im Bereich der sozialen Leistungen. Und all diese aufstrebenden Staaten in Asien, wenn dort einmal die Grundbedürfnisse abgedeckt sind, verlangen die Gesellschaften auch: Wir wollen verbesserte Gesundheitssysteme, eine Altenpflege. Nützen wir doch diese Potenziale im internationalen Wettbewerb!

Aber dürfen wir Kaufkraft mit Schulden finanzieren?

Ich bin ja dafür, dass man sie damit finanziert, wo das Geld ist. Nämlich bei der internationalen Steuerhinterziehung. Die wird auf 1000 Milliarden Euro in Europa pro Jahr geschätzt. Wenn wir davon nur ein Zehntel hereinbringen können, durch eine verschärfte Gangart, dann wären das 100 Milliarden Euro im Jahr, die wir zur Verfügung hätten, um zusätzliche Impulse für die Wirtschaft zu geben und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Und jeden zweiten Tag hören wir, wie sich die Einkommen zwischen Arm und Reich massiv auseinanderentwickeln, wie in den oberen Bereichen Gehälter bezahlt werden, die man sich als normaler Mensch gar nicht vorstellen kann und wie ein ganz kleiner Teil der Menschen über den Großteil des Vermögens auf dieser Erde verfügt. Es muss zu einer gerechteren Verteilung von Einkommen und Vermögen kommen, dann kann man wieder entsprechend investieren. Und es muss zu einer härteren Gangart gegen die Steuerhinterziehung kommen.

Es wird nicht leicht, hier rasche Erfolge zu erzielen. Was wird sich Oberösterreich bis dahin noch an Sozialleistungen leisten können?
Wir müssen als Gesellschaft die Diskussion führen: Was wollen wir an sozialer Absicherung? Wollen wir, dass alle in Würde alt werden können und wollen wir, dass behinderte Menschen selbstbestimmt leben können und wollen wir das unabhängig von der Brieftasche. Das ist die alles entscheidende Frage. Wenn wir sagen "Ja" und wir diesen Weg gehen wollen, den wir in Oberösterreich begonnen haben und bei dem wir in Oberösterreich sehr weit sind, dass wir unabhängig vom Einkommen eine sehr gute Altersversorgung und Behindertenversorgung haben, dann müssen wir über die Finanzierung reden.

Was sind die größten Herausforderungen bei der Finanzierung?

Im Bereich der Menschen mit Behinderungen. Da fehlen 200 Millionen Euro in meinem Budget, damit wir die erforderlichen Wohnplätze finanzieren könnten. Es sind noch 3500 behinderte Menschen, die auf einen Wohnplatz warten. Mehr als 2000 warten auf einen Arbeitsplatz. Ich bin davon überzeugt, dass selbstbestimmtes Leben auch dann möglich sein muss, wenn man Unterstützung braucht. Denn auch dann will man nicht, dass immer wer anderer entscheidet, was zu tun und zu lassen ist. Dieses Recht auf Selbstbestimmung legt auch die UN-Konvention fest, die wir unterschrieben haben. Und wir in Oberösterreich haben das sehr ernst genommen. Da wurde die Wohnoffensive gestartet, damit behinderte Menschen nicht mehr in großen Heimen zusammenleben, sondern in Wohngruppen zwischen sechs und zehn Personen, die in üblichen Siedlungsstrukturen integriert sind. Das hat großartige Auswirkungen. Es sind alle glücklich damit – die behinderten Menschen, die selbstbestimmt leben können. Und auch die Nachbarinnen und Nachbarn, die unheimlich gerne diese Gemeinschaft erleben. Es hat den Effekt, dass es zur Selbstverständlichkeit wird und man den Behinderten gar nicht mehr als behindert wahrnimmt. Diese Wohnform haben wir in Österreich gewählt und da fehlen uns jetzt 3500 Plätze. Die anderen Bundesländer sind noch nicht so weit wie wir, aber sie müssen nachziehen. Unser Vorschlag ist, auf Bundesebene einen Behindertenfonds ähnlich dem Pflegefonds einzurichten. Dazu haben wir einen einstimmigen Beschluss der Länder gefasst. Die Initiative zum Pflegefonds ist ja auch von Oberösterreich ausgegangen. Der Behindertenfonds soll dadurch gespeist werden, dass die Ausgleichstaxe erhöht wird, wenn sich also die Unternehmen von der Beschäftigung behinderter Mitarbeiter freikaufen. Und zweitens wollen wir eine Erbschafts- und Schenkungssteuer ab einer Million Euro und diese dann teilweise zweckwidmen für den Behindertenfonds. Sie soll nach Verwandschaftsgrad und vererbtem Vermögen gestaffelt werden.

Was sind die Herausforderungen in der Altenbetreuung und -pflege?

Die Menschen sollen so lange in den eigenen vier Wänden wohnen, solange das für sie möglich ist. Daher wollen wir die mobilie Betreuung forcieren und Tageszentren ausbauen, in denen sich die Menschen unter Tag aufhalten können, Gemeinschaft erleben, versorgt werden, wodurch die Angehörigen berufstätig sein können, auch wenn Vater oder Mutter noch zuhause leben. Und es werden auch die Formen des betreuten Wohnens eine wertvolle Möglichkeit in den unteren Pflegestufen. Da gibt es hervorragende Pilotmodelle, bei denen die Menschen so eigenständig wie möglich leben können, den ganzen Tag aber eine Person zur Betreuung zur Verfügung steht. Bei den Alten- und Pflegeheim-Plätzen haben wir eine Entspannung bei der Nachfrage, weil die 24-Stunden-Pflege so stark in Anspruch genommen wird.

Welchen weiteren Schwerpunkt setzen Sie als Soziallandesrätin?
Ganz zentral ist die Kinder- und Jugendhilfe. Sie ist in der Öffentlichkeit viel zu wenig sichtbar – das frühere Jugendamt. Sie ist dazu da, Familien, die aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage sind, die Kinder bestmöglich für den weiteren Lebensweg zu fördern. Diese Familien kriegen von der Kinder- und Jugendhilfe Unterstützung – indem man die Familien begleitet. Manchmal kommen die Kinder auch in Heime, aber Ziel ist es immer, es zu schaffen, dass möglichst viele Kinder bei den Eltern aufwachsen können und man die Familien dabei gut unterstützt. Da ist die Prävention wichtig: Es ist zu viel zu spät, wenn man schon darüber reden muss, ob Eltern ein Kind weggenommen wird. Deshalb gibt es die Schulsozialarbeit durch die Kinder- und Jugendhilfe. Das sind Sozialarbeiter, die über die Schule aufmerksam gemacht werden, wenn es Kinder gibt, mit deren Eltern man arbeiten sollte. Es ist ein Frühwarnsystem und keine Anzeige. Wenn die Lehrerinnen und Lehrer sehen, dass es bei einem Kind Schwierigkeiten gibt, machen sie die Sozialarbeiter aufmerksam, die dann mit den Eltern eine entsprechende Vorgangsweise entwickeln. Das wäre unbedingt auszubauen. Wir können das derzeit nur für 50 Schulen anbieten und machen das bei Schulen, wo größere soziale Schwierigkeiten zu erkennen sind. Aber eigentlich müssten wir das flächendeckend ausdehnen – und wir haben 839 Schulstandorte. Das Gute ist, dass sich die Schüler auch direkt an die Sozialarbeiter wenden können und das Angebot wird sehr stark angenommen. In Wahrheit müsste man schon im Kindergarten anfangen, auch da gibt es schon Pilotprojekte. Mein Ziel ist, Eltern so bald wie möglich zu unterstützen, damit die Kinder tatsächlich verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft werden können. Das ist die zentrale Herausforderung. Wenn wir die nicht bewältigen, dann haben wir teilweise chancenlose Kinder und Jugendliche. Das hängt denen das ganze Leben nach, aber auch der Gesellschaft.

Ist Oberösterreich bei der Verteilung der Finanzmittel zu wenig sozial, wenn für diese Herausforderungen nicht genug Geld da ist?
Ganz und gar nicht. Oberösterreich hat ein sehr gut ausgebautes Sozialsystem. Ich habe auch im Sozialbudget eine stärkere Erhöhung als die anderen Ressorts. Allerdings ist der Hintergrund der massiv steigende Bedarf. Es geht aber insgesamt einfach um den Punkt: Wenn wir vor so großen sozialen Herausforderungen stehen, stellt sich die Frage: Stehen wir als Steuerzahler zusammen, um diese Herausforderungen zu bewältigen? Es müssen die, die besonders viel haben, einen besonderen Beitrag dazu leisten.

Auch weil es immer mehr Menschen gibt, die keinen Beitrag leisten können ...
Man sieht den Bereich der Armut bisher nicht wirklich, aber das entwickelt sich dramatisch. Wir haben Gott sei Dank als eines der ganz wenigen Länder Europas trotz der Krise die sogenannte bedarfsorientierte Mindestsicherung einführen können, also eine Absicherung nach unten. Sie ist wirklich nur eine Mindest-Mindestsicherung, aber sie federt einmal die dramatischten Auswirkungen ab. Aber wir sehen, dass auch da die Anträge enorm, wirklich enorm zunehmen. Ein ganz großer Teil sind mittlerweile sogenannte Aufstocker, bei denen das Arbeitslosengeld oder die Notstandshilfe so niedrig ist, dass sie unter dieser Mindestsicherung liegen. Oder auch alleinerziehende Frauen, die Teilzeit arbeiten, die diese Teilzeit aber brauchen, damit sie mit ihren Kindern über die Runden kommen.

Oft wird die Mindestsicherung aber auch als soziale Hängematte kritisiert.

Wenn jemand Mindestsicherung bezieht, wird auch geprüft: Ist jemand arbeitsfähig, dann gibt es die Unterstützung zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Niemand bezieht Mindestsicherung, wenn er es nicht braucht. Da werden sehr viele Halbwahrheiten verbreitet. Es wird immer wieder mal vorkommen, dass jemand durchrutscht, aber grundsätzlich ist das System ganz stark abgesichert. Und wer meint, das ist eine soziale Hängematte, der soll einmal probieren, mit 847 Euro im Monat zu leben, das ist kein Honiglecken.

Viele die arbeiten, bekommen aber auch nicht mehr ...
Es gibt noch Berufe ohne Mindestlöhne, das sind aber nicht mehr viele. Ich bin recht stolz auf die Gewerkschaften, die gerade im Bereich der Handelsangestellten einen Mindestlohn von 1300 Euro durchgesetzt haben. Und ab dem kommenden Jahr sollen es sogar 1500 Euro sein. Das ist ein ganz wichtiger Schritt: Dass man Mindestlöhne hat, von denen man leben kann.

In Zusammenhang mit dem Thema Armut wurde zuletzt wieder über eine Gesetzesverschärfung diskutiert, um dem organisierten Betteln in Städten wie Linz einen Riegel vorzuschieben.
Es wird zu einer Gesetzesänderung kommen, weil organisierter Bettelei begegnet werden soll. Die andere Seite ist die soziale Frage. Denn die Menschen, die betteln, sind ja teilweise Blinde, Halbblinde, verkrüppelte Menschen – und auf diese soziale Frage wird man in ganz Europa stärker hinschauen müssen. Es kann nicht sein, dass in manchen Ländern Europas die Menschen sowas von gar nicht abgesichert sind, dass sie dann in andere Länder ziehen müssen, um zu überleben. Es gibt im Rahmen des Europäischen Sozialfonds eine eigene Schiene, wie man gerade für Volksgruppen wie Roma oder Sinti Programme setzt, um in allen Länder entsprechende Unterstützung zu leisten, um sie in den Arbeitsmarkt einzugliedern, um ein entsprechendes Auskommen zu sichern und dass es letztendlich auch eine entsprechende Mindestsicherung gibt.

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