Den unzertifizierten Fachkräften gehört die Zukunft

Der Steirische Igel steht gerne seinen Trainingsgenossen und Fitnessinteressierten für Tipps auch ohne Bezahlung zur Verfügung
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  • hochgeladen von Christian Gorinsek

Stellen Sie sich vor, Sie wollten Ihren Körper auf Vordermann bringen und besuchen ein Fitnessstudio. Von den Kunden, die dort schon länger trainieren erfahren Sie, daß die Trainingstipps der Studiomitarbeiter keine nennenswerte Erfolge bringen, jedoch gibt es einen Studiogast, der zwar sehr gute Erfolge erzielt, jedoch seine eigenen Übungen ausführt und über keinerlei Ausbildung im Fitness- oder Bodybuildingbereich vorweisen kann. Er trainiert einfach aus Leidenschaft. An wen würden Sie sich nun wenden, um die ideale Beratung für Ihren Körper zu erhalten?
Würde Ihre Entscheidung vom Zertifikat abhängen oder würden Sie Muskeln sprechen lassen?

Tatsache ist: es gibt in Leibnitz ein rennomiertes Fitnessstudio, wo dies der Fall ist und sich die Kunden lieber vom mitgliedsbeitragzahlenden Studiogast "Styrian Hedgehog" beraten lassen, als vom Personal, das eigentlich für die Beratung bezahlt wird. Begeistert von den Erfolgen macht der 'Geheimtipp' seine Runde, was die Situation nur noch absurder werden läßt. "Mein Wissen habe ich mir großteils aus Bodybuildervideos von Youtube angeeignet. Ich freue mich, wenn meine Tipps den Leuten was bringen, das zeigt, daß ich mein Hobby richtig mache. Die Diplomprüfer sollten jedoch selbst nocheinmal unter die Lupe genommen werden, wenn da Leute zertifiziert werden, die selber nicht mal trainieren oder Ernährungspläne einhalten", meint der Steirische Igel selbstbewußt. Er war früher ein dicker, dem Alkohol zugeneigter Klops. Heute ist er stolz auf sein wohlgeformtes Gesamtkunstwerk, seinen Körper. Oft wird er neidisch von Arbeitern als Sozialschmarotzer diskreditiert. Als Trainer beworben nimmt ihn allerdings niemand. Begründung: Nicht qualifiziert. Dabei ist etwas ganz Anderes für den Erfolg ausschlaggebend: "Der Wille zählt!"

Therapiestunde in der Tanzbar
Szenenwechsel. Ein Samstagabend in einer berühmten Wagnarianer Tanzbar. Ein junger Mann sitzt am Tresen und beobachtet, wie sein Freund bei einer etwa 48-jährigen Dame erfolglos reinbratet. Der Freund zieht weiter. Die Schlagermusik fällt im Ohr und was für sie der Eistee ist, ist für ihn das Puntigamer Dreh-und-Trink.
Sie wirkt energielos und scheint auf der Suche nach ein wenig Vergnügen und Ablenkung zu sein. Es dauert nicht lange - es muß während seiner Frage nach ihrem unglücklichen Eheleben gewesen sein - da holt die Dame ein Taschentuch aus ihrer Handtasche um damit ihre wäßrig gewordenen Augen zu trocknen. Der junge Mann entschuldigt sich, doch sie scheint sichtlich erleichtert zu sein, wenn auch ebenso überrascht, diese Form von berührendem Gespräch in einer Bar vorzufinden. Sie bedankt sich für sein einfühlsames Interesse an Ihrer Situation und verläßt das Lokal. Es ist nicht das erste Mal, da ihm das passiert.
Als Streetworker oder Sozialpädagoge darf der junge Herr nicht arbeiten - es fehlt ihm das Zertifikat, das ihm den pädagogischen Umgang mit Menschen ausweist. Obwohl er bei der Leiterin einer Institution mit seiner Bewerbung und seinem Interesse 'offene Türen eintritt', ist selbst ein Probepraktikum unmöglich, da die staatlichen Auflagen es unter Bußgeldstrafe nicht erlauben. "Vater Staat kann offenbar keine eigeninitiativen Freidenker und Selfmade-Steuerzahler brauchen, die er nicht unter seinen zertifizierten Fittichen weiß", meint der depressiv gewordene, befristete Frühpensionist und bastelt bereits an einer Lösung.
Ein ähnliches Schicksal teilt der drogenerprobte und ehemals obdachlose Rene B.: "Ich höre von vielen, daß ich der perfekte Streetworker für orientierungslose Jugendliche wäre, denn ich weiß selbst was es heißt, sozial abzurutschen. Jetzt habe ich mich wieder derfangen und schließe noch meine Physiotherapie ab. Den jugendlichen Sohn einer Freundin konnte ich bereits mit meinem 'schlechten Beispiel' zum Umdenken bewegen. Am Arbeitsmarkt wird man mich aber wohl wieder als Kellner vermitteln wollen."

Unzählige weitere Beispiele könnten hier angeführt werden: Depressiv gewordene, ausgepowerte Lehrer, die ihre Schüler schwer diskriminieren, keine Lust mehr auf die Arbeit mit Kindern haben und eigentlich nur noch auf ihren Pensionsantritt warten und längst mit dem Gedanken einer Psychotherapie spielen, während fertig ausgebildete, motivierte Junglehrerinnen und -lehrer erstmal beim AMS durch untätiges Warten frustriert oder in eine Hilfsarbeiteranstellung gesteckt werden, teilweise auch ehrenamtlich Nachhilfeunterricht in Lerncafés anbieten, weil für sie keine Anstellung an einer Schule frei ist.

Ein System ist am Ende
Mit dem 21. Jahrhundert ist auch die Ära des gleichberechtigten Menschen und der Umgang auf Augenhöhe angebrochen. Sie löst das alte hierarchische System der Rollenspieler nun ab. Auch im Gesundheitsbereich stellt man sich bereits auf die mündigen Patienten um, wenn auch die Patienten beim Ärztegespräch immer noch mehr um ihre Anerkennung als 'Kollegin/Kollege' zu kämpfen haben, als mit der Heilung ihrer Krankheit selbst.
Mensch-zu-Mensch-Beziehung statt hierarchische Rollenverteilung - ein längst überfälliger Schritt, denn Qualifikation bedeutet nicht immer gleichzeitig Qualität. Wenn die Wirtschaft und das Gesellschaftssystem überleben und ihre besten Kräfte für sich lukrieren möchten, anstatt sie zuerst auf die Ersatzbank zu schicken um dann für ihren Unterhalt aufzukommen, wird sie wohl oder übel auf die vorrangigste Bedingung der unqualifizierten Facharbeiter eingehen müssen, und die ist bescheiden: die Freiheit, seiner eigenen Berufung folgen zu dürfen. Die Zeichen stehen auf Erfolg, denn die Autodidakten* wissen, daß die Gesellschaft auf ihre Fähigkeiten nicht ewig verzichten kann. (*Lernen durch Eigenerfahrung)

Beruf statt Job - Leidenschaft statt Zertifikat
Der mündige Mensch arbeitet nicht, um Geld zu verdienen, er sucht auch nicht seinen eigenen Vorteil oder erwartet sich Anerkennung von der Gesellschaft. Er tut es auch nicht weil er den Druck oder den Ausschluß aus der Gesellschaft fürchtet.
Er versucht nicht seine Position zu sichern, indem er in bewährter Freunderlmanier seinen Kindern oder Freunden einen Posten in der Firma verschafft, sondern er verfügt über echte, objektive Menschenkenntnis und wird den Besten für die zu besetzende Stelle finden. Dazu braucht er kein Universitätsstudium, weil er seine eigenen Tendenzen sorgfältig studiert hat. So ein Mensch beurteilt andere nicht nach den üblichen Kriterien - und schon gar nicht nach der Anzahl der erworbenen Zertifikate und Titel, sondern ob Ehrlichkeit, Fairness und Interesse, höchste Ansprüche an das Ergebnis und eine Begabung für die Materie vorhanden sind.
Ein solcher Mensch lebt nach dem Motto "Es ist nicht wichtig was ich bin, sondern was ich kann." Die Arbeit die er ausführt, ist nicht nur irgendein Job, sondern es ist seine Berufung. Er kann sie nicht von heut auf morgen wechseln. Er schaut niemals auf die Uhr, sondern wird seine Leistung auch außerhalb der Arbeitszeiten gerne erbringen. Er kann nicht mit Zertifikaten und Diplomen für die Qualität seiner Arbeit garantieren; das erledigt seine Leidenschaft. Er erweist jedem anderem, der seine Berufung gefunden hat seine Ehrbietung und versucht jenen zu helfen, die sie noch nicht gefunden haben. Vor allem auf die jüngeren Berufsparten wird sich dieser Paradigmenwandel sichtbar auswirken.

In so einer Welt sorgt der Prozeß der regulierenden Dynamik für ein natürliches Gleichgewicht am Arbeitsmarkt, das derzeit durch unqualifizierte Qualifikationen gestört wird. Gibt es dennoch einmal ein Ungleichgewicht, werden alle zusammenarbeiten und eine annehmbare Lösung für alle finden - sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene. Das beste Resultat erzielt man bekanntlicherweise, wenn jeder in einer Gruppe das tut, was für ihn und für die Gruppe am besten ist - gerade dann, wenn es sich bei der Gruppe um die Menschheit selbst handelt. Derzeit fallen Menschen mit hohem Ethos und selbstlosen Charaktereigenschaften wegen inkompetenter Filtermethoden, die lediglich Wissen abprüfen, aus dem System heraus. Bleiben sie aktiv dem System erhalten, werden auch wenige von ihnen eine revolutionäre Veränderung für das ganze Kollektiv in Gange bringen.
Die Ausbeutung einer schwächeren Gruppierung oder Nation zugunsten einer Minderheit - wie es derzeit Usus ist - wird dann nicht mehr möglich sein.

Ehrlichkeit, Interesse, Sorgfalt, Reflexionsbereitschaft, die Liebe zur Arbeit und der Dienst am Menschen werden das Unterpfand dieser neuen Gesellschaft bilden. Und diese Charakterzüge werden sich nun mal auch in Äonen nicht zertifizieren lassen.

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