Zeitgeschichte
Ein Hauch jugendlicher Revolution, Innsbrucker Jugend 70 bis 90

Im Juni 1977 protestierten Jugendliche mit Schlauch- und Paddelbooten zwischen Telfs und Kufstein gegen die prekäre Lage der Tiroler Jugendzentren. | Foto: Archiv Windischer
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  • Im Juni 1977 protestierten Jugendliche mit Schlauch- und Paddelbooten zwischen Telfs und Kufstein gegen die prekäre Lage der Tiroler Jugendzentren.
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INNSBRUCK. Z6, DOWAS, Ho & Ruck, Jugendland: das sind nur einige Beispiele bekannter Adresse in Sachen Jugend und Soziales in der Stadt Innsbruck. Im Buch "Gründerzeit" gehen Andrea Sommerauer und Hannes Schlosser den sozialen Angeboten für Jugendlichen in den Jahren 1970 bis 1990 nach. Ein spannender Streifzug, bei dem sich so mancher an seine eigene Jugend erinnert fühlen wird.

Das Umfeld

In der Stadt Innsbruck lebten 1951 95.055 Einwohner, bis 1991 steig die Zahl auf 118.112, 2020 lag die Zahl bei 158.417 Einwohner. Für die Stadt eine Herausforderung in vielen Fragen, vor allem in Sachen Wohnraum. So lebten 1972 noch rund 200 Menschen in Baracken, obwohl die Stadt Innsbruck seit Mitte der 1950er ein "Barackenbeseitigungsprogramm" ins Leben rief. Die soziale Situation spiegelt sich auch in der Jugendarbeit und dem Umfeld für Jugendlich wider. Ab Mitte der 1960er wandelte sich der Kulturbegriff im Land, ab Mitte der 60er Jahre gab es das katholische Jugendzentrum MK der Jesuiten und ab Beginn der 70er das Z6. 1973 wurde das Otto-Premininger-Institut, Betreiber des Leokino und dem Cinematograph, gegründet. Einige Jahre lang war das KOMM ein selbstverwaltetes Veranstaltungszentrum, das nach einer Kontroverse mit der ÖH-Leitung zum Jahreswechsel vor verschlossenen Türen mit getauschten Schlössern stand. Norbert Pfleifer hat 1980 den Verein Kunstdünger gegründet und war auch eine zentrale Figur in der Gründungsphase des KOMM, eher aus privaten Gründen ausgestiegen ist. Sein Treibhaus eröffnete er 1981 mit einem Jazzfestival, damals noch in Pradl. Mitte der 80er übersiedelte er nach Konflikten mit den Nachbarn in die Angerzellgasse. 1984 sorgte die Punkszene mit den Chaostagen in Innsbruck für Aufsehen und einen enormen Polizeieinsatz.

Die Zollerstraße als erste Heimat für das Z6. | Foto: subkulturarchiv
  • Die Zollerstraße als erste Heimat für das Z6.
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Die Jugendzentren

International erreichte der Wunsch nach selbstbestimmter Freizeitgestaltung in aufsichtsfreien Räumen 1973/74 ihren Höhepunkt. In Tirol schrieb die TT 1976: "In den letzten zwei Jahren wird der Ruf aktiver Jugendlicher nach Jugendzentren, die nicht von kirchlichen oder politischen Stellen geleitet werden, immer größer." Zu dieser Zeit bestanden in Tirol elf Jugendclubs. Ausführlich beschreiben Sommerauer und Schlosser die Entwicklungen und Stationen der einzelnen Zentren und Treffpunkte in Innsbruck. Der Konflikt zwischen Bischof Paul Rusch und Siegmund Kripp wird ebenso in Erinnerung gerufen, wie die einzelnen Stationen des Z6 von der Zollerstraße über die Andreas Hofer Straße in die Dreiheiligenstraße. Bereits am 8. Dezember 1968 wurde das Jugendzentrum St. Paulus eröffnet. Das erste Jugendzentrum, das die Stadt Innsbruck in Zusammenarbeit mit dem Verein Jugend und Gesellschaft errichtete, war der Jugendtreff in der Pradler Straße im Jahr 1979. Lange diskutiert wurde das Jugendzentrum O-Dorf, ehe es am 17. Dezember 1981 eröffnet wurde. Am 16. September 1988 öffnete der "Activ-Club" als Jugendzentrum in Hötting-West seine Türen, musste aber bereits nach sieben Monaten wieder schließen. 1990 zog das Jugendzentrum wieder in die Räumlichkeiten im Kolpinghaus, eher 2001 ein eigenes Kinder- und Jugendzentrum errichtet wurde.

Foto: subkulturarchiv

Desinfarkt, ein Beispiel

Im Sommer 1981 trafen sich in der Altstadt 15 Jugendliche, die mit den Angeboten vom MK, Z6 oder St. Paulus unzufrieden waren. Ihre Haartracht, Kleidung und das Verhalten führte zu Konflikten mit den Altstadtbewohnern und Geschäftstreibenden. Nach einem kurzen Treffpunkt in Völs wurde von ihnen der Verein "Autonome Jugend Innsbruck 1982, Arbeitsgemeinschaft zur Förderung Autonomer Jugendkultur, Junge Altstadt Innsbruck - Desinfarkt 84" gegründet. Damit sollte die Anmietung eines Lokals oder Räumlichkeiten erleichtert werden. Details am Rande: erst die fünfte Version der Vereinsstatuten wurde von der Vereinsbehörde im Feber 1982 angenommen. Die "Desinfarktlerinnen und Desinfarktler" bezogen die Räume einer ehemaligen Schlosserei in der Badgasse 4. Die Miete betrug damals 6.000,- Schilling. Bereits das Einstandfest am 24. Jänner 1982 brachte die erste Anzeige wegen Ruhestörung. Einen Monat nach der Eröffnung hatte das Desinfarkt 300 Mitglieder, die vor allem die Gaststätte besuchten. Die Gaststätte wurde als Verein geführt, für Getränke wurden Spenden eingehoben und keine Fixpreise verlangt, ebenso wurde eine Mitgliederliste geführt. Die Entwicklung des Desinfakrt wird in drastischen Worten geschildert:  "Zuerst waren es Leute, die wir haben wollten. Dann kamen die Fremden, danach ein paar wilde Leit, die als hingmacht haben. Dann waren die Sandler und a paar Punks. Es ist immer wilder wordn, bis ma zugsperrt haben." Neben internen Auseinandersetzungen waren die Konflikte mit Behörden, der Politik und der Öffentlichkeit die Dauerthemen. Die Probleme mit den Börden verstärkten sich ab dem Sommer 1982, die Polizei war Dauergast im Desinfarkt. Im März 1983 war das Desinfarkt bereits wieder Geschichte. Durch die Schließung wurde von einer Anzeige der Gewerbebehörde abgesehen und die Behörde übernahm die ausstehenden Mietschulden. Seit 1984 ist die Badgasse 4 die Heimat des La Copa - La Cabana.

Foto: Universitätsverlag Wagner

Das Buch

Gründerzeiten
Soziale Angebote für Jugendliche in Innsbruck 1970–1990
Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, Neue Folge Band 70, 500 Seiten, gebunden
Universitätsverlag Wagner, € 29,90
ISBN 978-3-7030-6536-1

Inhalt:
Zwischen 1970 und 1990 hat sich das soziale Angebot für Jugendliche in der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck grundlegend gewandelt und ausdifferenziert. Parallel zum langsamen Abschied von Großheimen entwickelte eine meist junge Generation im Feld der Sozialen Arbeit und angrenzender Berufe Projekte, die sich aus den in der täglichen Arbeit mit jungen Menschen erlebbaren Defiziten ableiteten. Viele der in diesen Jahren entstandenen Angebote sind bis heute in der sozialen Landschaft prägend. Dazu gehören u.a. Jugendzentrum Z6, DOWAS, Ho & Ruck und Jugendland. Eine Neuausrichtung erfuhr im Untersuchungszeitraum auch die Jugendwohlfahrt, Fraueneinrichtungen und Bewährungshilfe etablierten sich und neue Formen des Drogenkonsums erforderten adäquate sozialarbeiterische und therapeutische Ansätze.

Die Untersuchung von Andrea Sommerauer und Hannes Schlosser zeichnet die Entstehungsgeschichte von dutzenden Einrichtungen nach, bettet diese in die Rahmenbedingungen der einzelnen Arbeitsfelder ein und analysiert die teils fördernde, teils hemmende Rolle von Politik und Verwaltung während dieser Periode des Aufbruchs. Erzählt wird auch die Geschichte von Dachverbänden und Arbeitskreisen, entsprechend dem Selbstverständnis der Gründergenerationen sich politisch einzubringen und mit anderen Einrichtungen zu vernetzen.

Andrea Sommerauer, geb. 1966, Mag.  phil, freischaffende Historikerin und Journalistin, Forschungsschwerpunkte: regionale Aspekte der Tiroler Zeitgeschichte, u.a. Nationalsozialismus, gesellschaftliche Entwicklungen und Strukturen v.a. in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts sowie Erinnerungskultur u.a. betreffend der NS-„Euthanasie"-Opfer in Tirol. Zuletzt Studie über den Einsatz von Jugendlichen aus dem Innsbrucker Jugendzentrum MK als Missionshelfer in Rhodesien 1964–1976 sowie Mitarbeit am Gedenk- und Informations-Ort im Landes-Krankenhaus Hall zur Erinnerung an die 360 NS-Opfer der Heil- und Pflegeanstalt Hall. Ihr aktuelles Forschungsprojekt ist der Blasmusik in Nordtirol von 1933 bis 1950 gewidmet.

Hannes Schlosser, geb. 1951, hauptamtlicher Bewährungshelfer an der Geschäftsstelle der Bewährungshilfe Innsbruck (1975–1983), Journalist und Fotograf mit den Schwerpunkten: Politik, ökologische/ökonomische Entwicklung des Alpenraums, Medizin, Soziales. Lehrtätigkeit am MCI, Fachhochschule Soziale Arbeit in Innsbruck. Tirol-Korrespondent der Tageszeitung „Der Standard“ (1996–2008), Autor und Redakteur der Buchreihe „Alpingeschichte Bergsteigerdörfer“ des Österreichischen Alpenvereins.

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