Roter Mohn. Märchen und Geschichten für Kinder, Kindsköpfe und Kindgebliebene – Teil 37

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100 Jahre sind vergangen seit Ausbruch des ersten Weltkrieges – "The Great War", wie ihn die Engländer nannten. Am 28. Juni 1914 wurde Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet. Genau einen Monat später folgte die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien.
Ein besonderes Symbol für das viele Blut, das in den Schützengräben in Belgien, Flandern, an der Somme vergossen worden ist, ist der Rote Mohn, der dort in den darauffolgenden Jahren regelrecht gewuchert haben soll.

Am "Poppy Day" – dem Gedenktag an den ersten Weltkrieg, der in Amerika, England und Kanada am 11. November begangen wird, ist es noch immer Brauch, symbolisch eine rote Mohnblume am Revers zu tragen.

Da ich schon als 5-Jährige mucksmäuschenstill in einer Ecke gekauert bin und gelauscht habe, wann immer mein Großvater und seine Freunde vom Krieg erzählt haben, und ich auch heute die wenigen Alten, die diese Zeit noch erlebt haben, gerne zum Teilen ihrer Erlebnisse bewege, möchte ich das Gedenkjahr mit einer Geschichte würdigen. Die Idee dahinter stammt von meiner Freundin, Lisa, die mir einmal von der Helmhochzeit ihrer Vorfahren erzählt hat ...

Roter Mohn

„So viele Soldaten!“ dachte Hella, als sie die vielen, teils abgekämpften, teils erleichtert strahlenden jungen Männer wie Ameisen aus dem Schiffsbauch hervordrängen sah. Den meisten sah man es von Weitem an, wie heilfroh sie waren, dem Horror auf dem Schlachtfeld für ein paar Tage entkommen zu sein. Hella war schon eine ganze Weile am Pier gestanden und hielt nach ihrer Freundin Leonie Ausschau, die ihr nach England hatte nachfolgen wollen.

Hellas Eltern hatten ein ansehnliches Gut im deutsch-österreichischen Grenzgebiet besessen – dort wo später die Tschechoslowakei entstanden ist. Nachdem ihr Vater gefallen war und die meisten Dienstboten das Gut verlassen hatten, hatte Hellas Mutter, eine gebürtige Engländerin, beschlossen, sich mit ihrer Tochter in einer Nacht- und Nebelaktion auf den Weg zurück zu den Großeltern nach London zu machen.

„Au!“ Hella konnte sich gerade noch strauchelnd an einem Pfeiler festklammern und wäre um ein Haar ins Hafenbecken gestürzt. „Haben Sie keine Augen im Kopf, oder macht es Ihnen Spaß, wildfremde Menschen im Hafen zu ertränken?!“ Als Hella aufblickte, blieben ihr alle weiteren Beschimpfungen im Hals stecken. Vor ihr stand ein junger Mann in Fliegeruniform, der die charmantesten Grübchen besaß, die sie je gesehen hatte. Ganz abgesehen von den veilchenblauen Augen und dem frechen Blondschopf, den er sich gerade betreten aus den Augen strich. Auch ihm schien für einen Minute die Luft wegzubleiben. Dann aber überzog ein breites Grinsen sein Gesicht: „Leutnant Gabriel Gifford“, stellte er sich mit einer leichten Verbeugung vor und reichte ihr die Hand. „Bitte verzeihen Sie mein Ungeschick. Darf ich Sie zur Wiedergutmachung auf eine Tasse Tee im Coffee Shop dort drüben an der Ecke einladen? Sie sehen noch immer etwas blass aus!“ „Das ist ja auch kein Wunder. Aber da meine Freundin offensichtlich ein anderes Schiff genommen hat, nehme ich Ihr Angebot an. Ein Tee könnte jetzt wirklich nicht schaden!“ Und so nahmen die beiden in einer Ecke des kleinen Gastgartens vorm Eingang Platz.

„Darf ich fragen, woher Sie kommen? Sie haben einen Akzent, den ich nicht ganz zuordnen kann.“ „Sie sind aber direkt!“, konterte Hella. „Fangen Sie an! Wenn Sie mir über sich erzählt haben, lasse ich mich vielleicht überreden, auch etwas über mich preiszugeben.“ Bald waren die jungen Leute völlig in ihr Gespräch vertieft und hatten beide das Gefühl, als wären sie alte Bekannte. Sie lachten und plauderten und vergaßen völlig die Zeit. „Ich muss heim, meine Mutter wird sich schon Sorgen machen!“, erinnerte sich Hella plötzlich wieder an das Hier und Jetzt. „Sehen wir uns morgen wieder? Selbe Zeit, selber Ort?“ „Ich werde da sein, versprochen!“ Gabriel Gifford hätte eigentlich zu seiner Tante nach Sussex weiterreisen sollen – seit er seine Eltern bei einem Zugsunglück verloren hatte, war die alleinstehende Lady Sarah Westley seine einzige Verwandte. Seine Pläne hatte er allerdings schon nach den ersten zehn Minuten mit Hella über Bord geworfen. Er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt und wollte eigentlich das tun, was alle verliebten Soldaten auf Heimaturlaub machten, die nicht wussten, ob es nach dem Heute auch ein Morgen gab. Er wollte Hella heiraten – egal wie lange er sie kannte.

„Heute ist mein letzter Tag, Hella! Es ist Zeit, mich wieder ins Flugzeug zu setzen, und den Krauts ordentlich was vor den Latz zu knallen! Diesmal geht’s angeblich ab nach Belgien oder Flandern. Hast du gewusst, dass dort überall roter Mohn blüht? Ganze Felder mit wildem rotem Mohn. Das sieht echt faszinierend aus. Wenn der Krieg vorbei ist, nehm‘ ich Dich einmal dorthin in meinem Flieger mit. Du weißt ja, ich will bei der Fliegerei bleiben. „Und warum ist das so, das mit dem Mohn, meine ich?“ Hella stützte sich auf ihrem Ellbogen auf und sah Gab neugierig an. „Na ja, was ich so gehört habe, waren dort die Kämpfe im letzten Krieg am Ärgsten. Angeblich sollen dort die Laufgräben gewesen sein. Ich hab mal jemanden sagen hören, dass der Boden dort regelrecht mit Blut getränkt worden ist und der Rote Mohn deshalb so wuchert – als Zeichen sozusagen. In jedem roten Klatschmohn soll der Sage nach die Seele eines gefallenen Soldaten leben.“ Hella hielt sich die Ohren zu. Solche Reden wollte sie absolut nicht hören. „Sag mir nochmal, wann du wiederkommst! Ich will mir das Datum ganz genau einprägen!“ „In vier Monaten bin ich wieder bei Dir – diesmal aber für länger, weil ich versetzt werde – sofern der Krieg noch nicht vorüber ist, versteht sich. Und dann, mein Herz, schleppe ich Dich vor den Traualtar, ob du willst oder nicht!“ Hella schlug mit ihrem Kissen nach ihm. „Du hast was Wichtiges vergessen, Liebster!“ „Und was wäre das?“ „Na, die Braut zu fragen, ob sie auch will!“ Da fiel Gabriel vor Hella auf die Knie, um ihr die Frage der Fragen zu stellen: „Willst Du mich heiraten, Hella Hohenberg?“ Und ob sie das wollte!

Anstatt ihres strahlenden Helden kamen kurz vor der heiß ersehnten Heimkehr lediglich ein Brief und eine Schachtel an, die an Hella Hohenberg adressiert waren. Gabriel war im Kampf gefallen. Seine Maschine war über einem Moor in Belgien von einem Feindflugzeug abgeschossen worden. Leichenblass saß sie da und starrte auf das Blatt Papier in ihrer zitternden Hand. Irgendwie fühlte sie sich, als ginge sie das alles gar nichts an. Das konnte einfach nicht wahr sein. Nicht einmal die Tränen wollten ihr kommen. Erst als sie die Schachtel mit Gabriels Habseligkeiten und seinem Brief ausgepackt hatte, begannen die Tränen heiß und unaufhörlich zu fließen.

„Liebste Hella!
Wenn du diese Zeilen liest, werde ich in anderen Sphären sein, denn dieser Brief wird nur abgeschickt, wenn es mich erwischen sollte. Aber eins musst du wissen. Egal wo ich auch bin, was immer dort drüben ist, ich werde dich immer lieben und immer bei dir sein. Als ich gestern deinen Brief bekam, war mir, als müsste ich die ganze Welt umarmen. Stell dir vor, ich werde Vater! Ein völlig neues Abenteuer für uns drei! Allerdings trage ich jetzt auch die Verantwortung für dich und das Baby. Sollte mir etwas zustoßen, habe ich eine Art Notfallplan für euch ausgearbeitet. Ich will, dass ihr auf jeden Fall versorgt seid. Du musst jetzt stark sein, Hella, denn es geht um euch beide: Bei meinen Sachen findest du meinen Helm und die Adresse meiner Tante. Bitte setze dich mit ihr in Verbindung, denn auch sie hat einen Brief von mir erhalten. Damit du und das Baby versorgt seid, möchte ich, dass wir trotzdem heiraten – ja, glaub mir, das geht – auch wenn ich nicht mehr da bin. Man nennt das Helmhochzeit. Die Hochzeit wird von meiner Tante arrangiert, der Helm wird an meiner statt auf meinem Platz liegen …

Hella konnte nicht mehr weiterlesen. Von wildem Schluchzen gebeutelt, rollte sie sich auf dem Ottoman zusammen, Gabriels Lieblingspullover, der immer noch so gut nach ihm roch, fest an sich gepresst: Jetzt einfach einschlafen und nie mehr aufwachen!

Gabriels Leichnam konnte nicht geborgen werden, denn seine Spitfire war im Moorgebiet versunken. Da seine Kameraden den Hergang so genau beobachtet hatten, wurde er trotzdem für tot erklärt. Die Hohenbergs und Sarah Westley bereiteten alles für die traurigste Hochzeit vor, die wohl je gefeiert worden war.

An Stelle von fröhlichem Lachen und herzlichen Glückwünschen sah man nichts als versteinerte Mienen mit roten, verheulten Augen und leeren Blicken. Dieser Tag war der schlimmste, den Hella je erlebt hatte. Wie anders hatten sie und Gabriel sich ihre Hochzeit ausgemalt. An der Stelle, an der sich normalerweise Braut und Bräutigam küssten, lief ihr plötzlich ein Schauer über den Rücken. Hatte sie das nur geträumt? Den Bruchteil einer Sekunde lang konnte sie Gabriels Kuss auf ihren Lippen fühlen und es war ihr, als ob er zärtlich ihre Hand berührte. Konnte es wirklich wahr sein? Ihre Großmutter hatte ihr einmal erzählt, dass manche Seelen, wenn sie zu schnell aus dem Leben gerissen würden und keine Chance hätten, Wichtiges ins Reine zu bringen, auf der Erde verhaftet blieben. Bisher hatte sie das immer als Ammenmärchen abgetan. Als sie den Kopf hob und aus dem Fenster sah, fiel ihr Blick auf eine rote Mohnblume, die sich sanft im Wind wiegte. Nein, sie hatte nicht geträumt. Gabriel war bei ihr – genauso, wie er es ihr im Brief versprochen hatte.

Nach der Hochzeit zog sie in ein hübsches, weiß getünchtes Häuschen mit hölzerner Veranda, das von einem wunderschönen Rosengarten umgeben war und direkt an Sarah Westleys Anwesen grenzte. Schon vom ersten Tag an hatte Hella dort das Gefühl, dass ihr Gabriel hier ganz nah war. Im Obstgarten hinter Hellas Haus gab es sogar noch das alte Baumhaus, in dem Gabriel als Junge so gerne gespielt hatte. Vom Schlafzimmerfenster aus hatte sie einen wundervollen Blick auf ein Kornfeld, das schon bald von rotem Mohn überwuchert war. Am Abend aber, immer dann, wenn der Wind sanft durchs offene Schlafzimmerfenster strich und sie sich am meisten nach Gabriel sehnte, brauchte sie nur den Mohn anzusehen, der schon bald rund um ihr Anwesen blühte, dann konnte sie beinah seine Stimme im Wind vernehmen.

Im nächsten Frühsommer, als der Mohn wieder zu blühen begann, brachte Hella ihr Kind zur Welt. Es war ein Mädchen, das sie untypischer Weise Mohnika nannte. Die Leute wunderten sich zwar anfangs über die ungewöhnliche Schreibweise. Den kleinen Schreihals mit den Grübchen, den veilchenblauen Augen und dem blonden Schopf musste man aber einfach ins Herz schließen. Und so vergingen die Jahre. Hella erbte nach Sarah Westleys Tod das Gut, das sie später an Mohnika, die eine beliebte Nachrichtensprecherin wurde, weitergab. Geheiratet hatte Hella nicht wieder. Schließlich fühlte sie Gabriels Gegenwart auch noch nach so vielen Jahren so deutlich wie am Tag ihrer Hochzeit.

Es geschah kurz nach Hellas 75. Geburtstag. Sie kletterte langsam aus dem Bett, warf einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster und wollte ins Bad, um sich zu waschen, als sie plötzlich zusammenzuckte. Irgendetwas war heute anders. Außerdem spürte sie eine beunruhigende Leere in ihrem Innern. Was war bloß los mit ihr? Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Gabriel war weg. Seine liebevolle Gegenwart, die sie all die Jahre über begleitet hatte, war verschwunden. Plötzlich läutete das Telefon im Flur.

Hella griff völlig verstört nach dem Hörer. Das, was ihr die Stimme am anderen Ende sagte, konnte sie zuerst gar nicht begreifen. Aber dann fügte sich auf einmal alles wie ein Puzzle zusammen. Bei Bauarbeiten hatte man Gabriels Flugzeug entdeckt und aus dem belgischen Moor geborgen. Nun, da sein Leichnam identifiziert war, wollte man wissen, ob eine Überstellung noch immer erwünscht war. „Also das war es gewesen – Gabriel war nach all der Zeit ins Licht gegangen.“

Endlich konnte sie sich die Leere in ihrem Herzen erklären. Das Begräbnis fand zwei Wochen später statt. Fliegerleutnant Gabriel Gifford wurde mehr als 50 Jahre nach seinem Tod im Familiengrab neben Tante Sarah beigesetzt. Als sie ihm eine rote Rose als letzten Gruß ins offene Grab werfen wollten, musste sie plötzlich verwirrt innehalten. Neben dem Grabhügel war eine kleine rote Mohnblume erblüht. „Bis bald mein Herz! Ich warte drüben auf dich …“, flüsterte Gabriels Stimme im Wind.

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