Heimatroman
Für immer Dein

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Für immer Dein…

Es war um die Mittagszeit, als ich endlich die Alm erreichte.
Der Himmel, von so einem unvergleichbaren Blau,
war wolkenlos in der Schober- und Großglocknergruppe
und mein Blick verweilte auf dem Großglockner.
Welch ein Panorama, für mich war es Alltag
und doch immer wieder überwältigend.
Majestätisch und gigantisch überragte er rundherum die Bergwelt.
Um seinen Gipfel hatte sich jetzt eine Wolkengruppe verfangen,
aber irgendwann würde der Wind sie spielerisch vertreiben
und den Gipfel freigeben.
Das waren dann die Momente, an denen die Touristen
ihre Fotokamera zückten, um diesen Augenblick festzuhalten,
um den Daheimgebliebenen von diesem Ereignis zu berichten.
Von dieser Bergwelt zu erzählen, die unbeirrt Wind und Wetter trotzte,
wo Tausende von Jahren unaufhaltsam der Wind
seine Narben geschlagen hat,
aber er es nur geschafft hat, zerklüftete Felskanten hervorzubringen.
Oder im Gegensatz dazu die Felsenwände zu schleifen,
als hätte ein Riese mit Schleifpapier
alle Unebenheiten der Felsen glatt geschliffen.
So einzigartig bot sich die Bergwelt, dass sie jährlich Tausende begeisterte Bergsteiger anlockte und einem jeden einen unvergesslichen Einblick gewährte.
Es war eine große Herausforderung
und manch einer unterschätzte die Gefahren des Hochgebirges,
die überall lauerten.
Besonders das Wetter, das sehr oft in kürzester Zeit umschlug.
"Meine Heimat", dachte ich mit Stolz und ein Glücksgefühl durchströmte meinen Körper; hier gehöre ich hin und hier war ich verwurzelt.
Jetzt hörte man auch die Mittagsglocken vom Tal heraufschallen.
Von der Kirche in Heiligenblut, die wie ein Finger Gottes in den Himmel ragte.
Sie wirkte so zart und zerbrechlich in diesem Urgestein der Berge.
Rund um die Kirche war der Friedhof angelegt. Letzten Sommer musste ich dort Abschied nehmen von meiner geliebten Großmutter; noch heute verspüre ich den Schmerz in meiner Brust.
Sie hatte mich so viele Jahre meines Lebens begleitet.
Keiner sonst konnte so schaurige schöne Geschichten erzählen.
Von Berggeistern und Wasserelfen, die auf der anderen Seite der Grasnarbenschlucht beim Schleierfasserfall ihr Unwesen trieben,
wo sie in Jahrtausenden von Arbeitsjahren
die schönsten Naturschluchten geschaffen hatten.
Senkrechte Felswände verengten die wildromantische Schlucht;
nur das Brausen und Toben des Wassers erfüllte dort die Luft.
Dort stürzt sich das Wasser die Felsen hinunter,
dass es optisch wie ein Schleier aussah.
An manchen Tagen spiegelte sich die Sonne in der Gischt des Schleiers
und ein farbenprächtiger Regenbogen in einer Vielfalt aus Farben
leuchtete atemberaubend aus diesem sprudelnden Wasser.
Das war der Moment, am dem die Wasserelfen die Herzen zweier Liebenden
mit ihren unsichtbaren Schleiern umspannten,
sodass sie nicht mehr voneinander lassen konnten
und einer ohne den anderen nicht mehr leben konnte.
Davon wusste die Großmutter zu erzählen und das war meine Lieblingsgeschichte.
Nur sie konnte sie so sanft und fesselnd erzählen -
und jetzt blieb mir nur die Erinnerung an sie.
"Was träume ich denn wieder am helllichten Tag vor mich hin?",
schallt es in mir und hurtig sprang ich auf. Der Vater hatte mich auf die Alm geschickt, um nach dem Braunvieh zu sehen.
Schnell nahm ich den Rucksack wieder auf die Schulter
und machte mich auf die Suche nach der Herde. Ein Adler drehte hoch am Himmel seine Runden. Mit sicheren Schritten ging ich den steilen Steg
zwischen den Almrosen entlang,
der mich auch zu unserer Schutzhütte führte.

Zeitig in den Morgenstunden bin ich von Zuhause weggegangen.
Alle im Dorf sagten, dass wir den schönsten Bergbauernhof
besäßen und das prächtigste Vieh im Stall hätten.
Ja, geborgen und groß lag der Hof am Waldrand in der Lichtung.
Die Wiese vor dem Haus bot sich wie ein eigenes Tal an.
Die Ahnen hatten viel Wald geschlagen
um üppige Wiesen zu gewinnen.
In der Mitte einer Wiese stand eine prächtige Fichte.
Um diese Hundertjährige Fichte herum
fand dann jährlich das Erntedankfest statt.
An diesem Tag wurden die Kühe und Rinder festlich aufgeputzt
und im Spätsommer von der Alm getrieben.
Weiter draußen lagen die fruchtbaren Felder und Wiesen,
die reichlich Nahrung und Futter boten für die lange Winterzeit.
Das Glück wohnte dort im Berghof!
Der Vater war von einer stattlichen Größe
und seine sanfte Stimme passte
eigentlich so gar nicht zu seinem Äußeren.
Die Mutter wiederum war von zarter, gebrechlichen Gestalt
und leider kränkelte sie häufig,
aber für die großen Arbeiten im Haus
gab es genug Mägde und Knechte,
die brav waren und gut anpacken konnten.
Meine Figur war auch mehr zart und biegsam, aber zum Glück
hatte ich die Widerstandsfähigkeit vom Vater geerbt.
War ich doch das einzige Kind meiner Eltern
und meine Mutter erzählte mir oft, dass der Vater
nach meiner Geburt schon einen kleinen Seufzer
gemacht hatte, mit den Worten:
"Wird der Hoferbe wohl einmal folgen!"
Aber nach mir kam niemand mehr.
Bei meiner Taufe erhielt ich den Namen Marlene,
und das war vor mehr als zwanzig Jahren.
In der Schulzeit erhielt ich dann die Kurzform Lena.
Nur Mutter und Vater blieben bei meinem vollen Namen,
wobei mich Vater auch "mein Rehlein" rief. Er sagte immer:
"Marlene geht so leichtfüßig wie ein Reh
und ihre dunklen, scheuen Augen blicken
wie die eines Rehs und dazu das rostrote, volle Haar."
Ich fühlte mich immer geliebt und behütet
und gestern noch sagte Mutter:
"Marlene, du bist stark und wirst deinen Weg schon gehen.
Folge nur immer deinem Herzen!"
Ja, die Eltern waren mein Vorbild,
in deren Gegenwart spürte man die Verbundenheit zweier
Menschen, die in Liebe und Achtung miteinander lebten.
An manchen Tagen ertappte ich Mutter,
wie sie mit verlorenen Blicken aus dem Fenster schaute,
gerade so, als wenn sie etwas suchte, das nicht mehr zu finden war.
Dabei war ein schmerzhafter Zug um ihre Lippen zu sehen.
Aber das waren nur immer kurze Momente um dann wieder
mit ihrer ruhigen Art zärtlich über meine Haare zu streichen,
mit den Worten: "Ich danke dem Herrgott täglich,
dass es dich in meinem Leben gibt!"
"Das träumen habe ich wohl von Mutter geerbt",
sagte ich mir und ein glockenhelles Lachen sprudelte
aus meiner Brust.
In der Ferne vernahm ich das Geläut der Kuhschellen.
Als ich fast die Herde erreicht hatte, hoben sie ihre Köpfe,
wiederkäuend und gelassen schauten sie mir entgegen.
Ja, es war eine prächtige Herde, eine stattliche Anzahl und wohlgenährt.
"Soweit scheint ja alles in Ordnung zu sein", dachte ich mir.
"Nun werde ich zur Hütte weitergehen.
Sicher hat Rosa, die Sennerin, eine gute Käsekräutersuppe für mich übrig
und dazu ein frisches Brot."
Nur kurz verweilte ich, um dann den Steg, den die Kühe
in all den Jahren getrampelt hatten, weiter aufwärts zugehen.
Der Hochwald lag schon lange hinter mir,
hier wuchs überwiegend nur niedriges Gehölz.
Latschenkiefer und eine Farbenpracht von Alpenpflanzen,
wie sie nur ein Naturbegeisteter in der Vielfalt wahrnimmt.
Im Frühjahr erschien es wie ein Wunder, dass es unter der Schwere
der Schneelast so ein Erwachen in der Natur gab.
Jetzt war der Blick frei auf die Hütte, die malerisch an der Felswand lehnte
und Wind und Wetter trotzte.
Die Dachschindeln waren zusätzlich mit Gesteinsbrocken
beschwert, denn nur die Einheimischen kannten wirklich die Launen der Natur.
Wenn zum Beispiel die Stürme so manchen Baum
wie einen Grashalm entwurzelten.
Jetzt hatte auch Rosa mich entdeckt und unsere Blicke
trafen sich. Grüßend hob ich die Hand.
Draußen beim Brunnentrog klapperte sie mit den Milchkannen,
um sie dann zum abtropfen auf die Holzpfosten zu stülpen.
"Grüß di Gott, Lena!", rief sie mir entgegen und schnell gab ich lachend
den Gruß zurück.
"Die Eltern lassen dich schön grüßen", sagte ich dann.
"Und der Vater schickt dir das Lecksalz für die Rinder!"
Damit nahm ich den Rucksack von der Schulter.
Das letzte Stück des Aufstiegs hatte ich mir mit der Last
schon etwas schwer getan, denn jetzt brannte die Sonne vom Himmel.
Es war ein langer, schneereicher Winter gewesen
und es schien so, als wären die Jahreszeiten durcheinander
geraten. Denn statt des milden Frühjahrs hatte die Sonne
gleich wie sonst nur in den Sommermonaten vom Himmel gebrannt.
Temperaturen herrschten - wie nun schon seit mehreren Jahren -
bei denen man die Lust verspürte, die Kleider vom Leib zu reißen
und barfüßig durch die Wiesen zu gehen.
Manch einer hatte sich schon im April den Schweiß von der Stirn gewischt.
Die Schneeschmelze hatte mit so einer Kraft begonnen,
dass man rundherum nur das tosende Schmelzwasser gehört hatte.
"Der Gletscher, die Pasterze, wird immer weniger", redeten die Leute im Tal.
Der Gletscher, Jahrtausende von Jahren alt, aus Eismassen gepresst und geformt,
mit tückischen Spalten, aus denen es kein Entrinnen gab,
wurde nun immer weniger - diese geheimnisvolle eisige Welt.
"Lena, du träumst ja schon wieder im stehen",
sagte Rosa dann spontan.
"Bitte, setz’ di’ nieder und erzähl mir von daheim.
Habt ihr schon das Heu eingebracht,
denn jetzt im August wäre ja die richtige Zeit dafür?
Oft zu wenden ist der Schnitt ja sicher nicht, denn das Gras
hat nicht viel Saft und trocknet ja schon beim Mähen.
Und Franz, mein Schatz, hat er dir wohl ein Brieflein für mich mitgegeben?
Und die Bäuerin, ist sie wohlauf und geht es ihr gut?
Oh, nein, so viele Fragen", lachte ich zurück.
"Bitte bring mir von dem kühlen Quellwasser,
erst dann bekommst du deinen Brief.
Und dann werde ich dir alle Fragen beantworten."
Auf der bequemen Holzbank im Schutz der Hüttenwand
lehnte ich mich zufrieden zurück,
schlüpfte aus den derben Schuhen und zog die Beine in die Höhe.
Derweil war Rosa in ihrem Brief vertieft.
Ich betrachtete sie, denn sie war mir lieb wie eine Freundin.
Hatte Rosa doch, wie sie selber sagte,
mit Franz die Liebe ihres Lebens gefunden.
Ich wusste noch nicht, wo ich einmal meinen Schatz finden würde.
"Nur fortgehen von hier möchte ich nie", dachte ich so vor mich hin.
"Ach, wie schön es ist da heroben."
Ich nahm durstig einen weiteren Schluck von dem erquickenden Wasser,
diesem durchsichtigen Elixier, ohne das es kein Leben gab.
Inzwischen zogen dunkle Wolken auf und ein kühler Wind umspielte uns.
"Das Wetter wird nicht mehr lange halten",
sagte ich mit einem Blick zum Himmel.
"Rosa, ich werde dir helfen, die Herde zusammenzutreiben."
Dann gingen wir auch schon los,
aber mit dem Instinkt für Naturgewalten, welcher nur dem Vieh zu eigen ist,
trotteten sie von sich aus schon in Richtung Schutzhütte,
um dort einen sicheren Unterschlupf zu finden.
Kurz darauf prasselten auch schon die ersten schweren Tropfen
zur Erde und ein greller Blitz erhellte die Bergwelt.
Schon bald folgte ein Donnergrollen, das alles erzittern ließ.
Blitz und Donner wechselten sich ab und die schwarzen Wolken
entleerten sich der Wassermassen.
In der Hütte war es gemütlich und sauber,
schnell entzündete Rosa auf der offenen Kochstelle
ein Feuer und sagte zu mir gewandt:
"Jetzt bekommst du zuerst einmal eine kräftige Suppe.
Zeit zum verweilen haben wir jetzt genug, derweil draußen das Wetter tobt.
Du wirst wohl erst morgen den Abstieg machen",
bemerkte sie dann fragend. Ich stimmte zu.
Und während sie an der Feuerstelle flink ihre Arbeit tat, stapelte ich das Brennholz vom Schuppen, der gleich angrenzend zur Rauchkuchl war, wieder neben der Kochstelle.

Nach einer geruhsamen Nacht erstrahlte der Himmel wolkenlos.
Die Tautropfen in den Spinnennetzen beim Holzverschlag funkelten
wie Kristalle in der Sonne.
Die Luft war rein und klar und das atmen fiel einem leicht.
Ich versprach Rosa, gegen Ende September wieder aufzusteigen,
um ihr dann beim aufputzen der Kühe und Rinder zu helfen,
um den Almabtrieb festlich zu gestalten.
Mussten dann doch unzählige Papierrosetten für den Kopfschmuck
der Kühe händisch gefertigt werden.
So war es Brauchtum.
Ich packte den Laib Käse, den Rosa mir für die Eltern daheim gab,
in den Rucksack. Sie hatte sich einen neuen Käse ausgedacht,
mit allerlei zugesetzten Kräutern.
Überhaupt hatte sie gut gewirtschaftet.
Die anderen Käselaibe und die letzte, gemolkene Milch
würden mit dem Lastenaufzug heim geliefert werden.

Mein Elternhaus stand oberhalb - gut eine Stunde Fußmarsch von Heiligenblut entfernt.
Mein Schulweg war immer mühsam und beschwerlich.
Auch führte der Weg über eine Holzbrücke, die über einer tiefen Schlucht errichtet worden war.
In den langen Wintermonaten war es besonders schlimm.
Oft reichte mir der Schnee bis zu den Hüften.
Bei der Brücke traf ich dann immer auf die anderen Kinder,
die von der anderen Seite der Schlucht kamen, so auch Klara mit ihrem Bruder Bastian, mit denen ich gemeinsam den restlichen Weg ging.
Hier kam mir Bastian immer entgegen,
nahm mich, wie selbstverständlich an die Hand
und führte mich über die, von mir so gefürchtete Brücke.

Ihr Elternhaus war eher klein, auch herrschte dort oft die große Not.
War doch der Vater ein Köhler und Waldarbeiter.
Bei ihnen daheim gab es nur eine Milchkuh, ein Hausschwein und ein paar Ziegen und Hühner.
Der Vater war immer schwarz und verrußt.
Aus dem Gesicht leuchteten nur die Augen, was mir anfangs Angst machte,
aber seine Stimme dagegen war ruhig und vielleicht etwas krächzend.
Unvergessen wird mir immer ein Schultag bleiben, an dem wir unseren Vater beschreiben mussten.
Bastian musste mit dem Heft in der Hand im Klassenzimmer vor der großen Tafel stehen und seine Arbeit laut vorlesen.
Dann las er etwas unsicher: „Das Aussehen meines Vaters ist rußig,
wie der offene Kamin in unserer Kuchl. Schwarz ist er vom Kopf bis zu den Schuhen
und rauchig ist seine Stimme von dem beißenden Rauch.
Aber sein Herz ist aus Gold, und ich bin glücklich, dass er mein Papa ist. Er ist ein Papa zum gern haben!“ Als er fertig gelesen hatte kicherten alle.
Doch der Lehrer gebot uns still zu sein und sagte dann mit einem Lächeln:
"Bastian, du hast die beste Schularbeit geschrieben."
Ja, Bastian war mein Held. Er schien nie vor etwas Angst zu haben.
Er war ein Freund - mein Freund.
Der Vater hieß es gut, denn auf den Burschen konnte er sich verlassen.
Doch nach der Schulzeit ging er fort, einfach so. Er wollte in die Großstadt,
um dort eine Lehre als Schlosser zu machen, und das liegt jetzt schon einige Jahre zurück.

So war ich mal wieder in Gedanken versunken, als ich den Abstieg von der Alm heimwärts ging.
Beim Wegkreuz teilte ich meinen Almrosenstrauß, den ich zuvor oberhalb gepflückt hatte, in zwei Teile und stellte einen Teil in die Vase.
Auf dem Gnadenbild war ein Bild der Muttergottes in einem weiten, wallenden Mantel, unter dem die Menschen, die dort abgebildet waren, sich Schutz und Geborgenheit erhofften.

Hinter der Wegbiegung war der Blick frei auf das stattliche Anwesen,
"mein Elternhaus", dachte ich mit Stolz.
Mir wurde leicht ums leicht ums Herz, als ich dann schnell weiter schritt.
Die Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben.
Vor jedem Fenster, und das waren nicht wenige, hatte Mutter selber die Balkonblumen gepflanzt. Am liebsten waren ihr die Nelken.
Im Schutz der Holzbalkone blühten sie üppig in verschiedenen Farben.
Ein leichter Wind wehte mir den Nelkenduft entgegen.
So viele Düfte waren mir seit der Kindheit vertraut,
so war es auch der leichte Lavendelduft, der die Mutter immer umwehte, und der Pfeifentabak des Vaters, sowie der so vertraute Duft von Kernseife und Bohnerwachs.
Dann entdeckte ich Mutter auf dem oberen Balkon mit der Gießkanne in der Hand, ganz vertieft beim Blumen gießen.
Ein Jodler kam über meine Lippen und mit den Blumen von der Alm winkte ich heftig.
Sie hob den Blick und winkte mir zurück.
Endlich erreichte ich die Haustür und trat ein.
Angenehm war die Kühle der großen Diele. Unter den beiden Fenstern stand der große Tisch, an dem zur Erntezeit viel Obst sortiert wurde.
Daneben stand eine reich verzierte, geschnitzte Truhe und auf der anderen Seite beim Treppenaufgang der große Schrank, passend zur Kommode.
Habe ich doch hier in der Diele Fahrrad fahren gelernt, so einladend groß und geräumig war sie.
Nun nahm ich eilig gleich zwei Stufen auf einmal die Stiege hinauf,
wobei mir meine langen Haare, die ich oft offen trug, leicht ins Gesicht flatterten.
Zuvor hatte ich noch schnell den Rucksack beim Treppenabsatz abgestellt.
Mutter stand noch immer bei ihren Blumen und zupfte gedankenverloren
die verblühten Triebe ab.
Ich eilte zu ihr und nahm sie in die Arme.
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange: "Komm mit in den Garten,
dort werden wir uns in die Laube setzen und dann kannst du mir von der Alm erzählen."
"Schau, die Blumen von der Alm hab ich für dich gepflückt",
sagte ich und reichte sie ihr.
Dann saßen wir im Schatten der Laube beim Kräutergarten, in dem auch dicht beim Zaun die Stockrosen in voller Blüte standen.
Nach einer Weile schaute die Mutter auf und fragte:
"Wo bleibt nur der Vater so lange?"
Die Trockenheit machte uns allen langsam zu schaffen.
Das Wetter gestern brachte den Feldern und Wiesen
ja endlich das ersehnte Nass.
Der Vater sagte, dass alles viel zu trocken sei
und die Gefahr besteht, dass die gemähte Wiese verbrennen könnte.
Er ist nach Heiligenblut gefahren und will sich umhören, wie es dort mit dem Wasserspeicher ausschaut.
Zum Glück haben wir ja unsere eigene Quelle
draußen bei der Felsenwand, die in hunderten von Jahren noch nie versiegte.
Auch habe ich Vater gebeten, die bunten Bänder und farbiges Papier mitzubringen.

Der Vater kam dann spät erst spät abends heim und berichtete,
dass wieder Ingenieure und Geologen aus Wien und Salzburg kommen würden,
um die Großglocknerstraße neu zu vermessen, denn einzelne Kehren und weitere Straßenstücke sind weiter auszubauen.
Auch der Gletscher bildete sich unaufhaltsam zurück;
auch ohne Luftaufnahmen wurden die drastischen Veränderungen für jeden sichtbar.
Somit muss die begehbare Strecke auf der Pasterze
auch wiederum neu vermessen werden.
Bergsteiger nahmen jährlich so einen Ansturm auf den Großglockner.
Viele Burschen aus dem Ort waren jetzt als Bergführer
tätig, um den Ansturm bewältigen zu können.
Engagierte Einzelpersonen, zu denen auch der Vater gehörte.
Naturschützer und Alpine Vereine verlangten
schon vor Jahren einen stärkeren Schutz für den Gletscher.
In den Regionen der Hohen Tauern, der Schober- und Großglocknergruppe
bangte man wegen der Zerstörung der Natur.
"Unsere Naturlandschaft", sagte dann der Vater besorgt,
"ist unser Schatz mit vielen Tier- und seltenen Pflanzenarten."
Und weiter sprach er: "Die Touristen strömen in Scharen herbei,
sodass die Murmeltiere ihnen bis zum Parkplatz
entgegenlaufen, um den Gästen aus der Hand zu fressen.
Die possierlichen Tiere sind schon so fett, dass ihre Beinchen sie bald nicht mehr tragen werden. - Scherz beiseite“ - und weiter sprach er:
"Die Gäste haben unserem Dorf einen großen Aufschwung
und viel Wohlstand gebracht. Ist ja recht, aber um welchen Preis?,
fragte er dann sorgenvoll. Der Gletscher, ein Gang auf der Pasterze,
was täglich Hunderten von Besuchern geboten wurde, beinhaltete ja wohl eine Erlebniswelt mit einer einmaligen Informationsinfrastruktur für Besucher;
aber es brachte leider auch Menschenmassen ins Schutzgebiet.
Alle sprachen von einer stetigen Erwärmung der Erdoberfläche,
der Klimawandel ließ sich nicht mehr aufhalten
und jährlich verschwand der Gletscher um mehr als einen Meter -
eine dramatische Entwicklung."

Die Mutter und ich hatten konzentriert seinen Worten gelauscht, aber ich hatte auch das erschrecken der Mutter bemerkt, als der Vater von den Ingenieuren berichtete, die bald wieder kommen sollten.
Aber ich wusste mir keinen Reim darauf zu machen.

Nein, den Großglockner zu besteigen, daran hatte ich noch nie gedacht.
Aber sich im Winter die Ski anzuschnallen und die gut präparierten Pisten hinunterzufahren, das lag mir schon eher.
Freilich, auch das hat Narben in die Wälder geschlagen.
Als vor Jahren die Männer vom Vermessungsamt gekommen sind wegen den riesigen Waldflächen, die gefällt werden sollten, um Freiraum für die Piste zu gewinnen. Riesige Maschinen waren im Einsatz, auch um die Masten aufzustellen,
auf denen dann die Seile gezogen wurden, um dort die Sessellifte anzubringen.
Die wiederum brachten tausende von begeisterten Skifahrer.
Auch dieser Tourismus sorgte für eine beständige Geldeinnahme
und somit auch für Wohlstand in der Gemeinde.
Aber auch dafür mussten zusätzlich wiederum Wälder gerodet werden, um Straßen zu schaffen zur Bewältigung des Massentourismus; so entstanden auch Parkplätze und ein riesiges Parkhaus.
Das alles in dem engen Gebirgstal, in dem die umgebenden Berge die natürlichen Grenzen setzten.

Gegen Ende September machte ich mich wieder mit meinen bunten Schleifen und farbigen Papierrosetten auf zur Alm. Ich trug bequeme Hosen,
mein Festtagsgewand, mein Dirndl, hatte ich sauber zusammengelegt und in den Rucksack gepackt.
Das Ende des Sommers kündigte sich an, denn jetzt perlte der Taureif in den Wiesen und die Nächte wurden schon kühler.
Tagsüber war es noch sonnig warm, aber das Wetter konnte sehr schnell umschlagen.
Sehr oft gab es schon Schnee um diese Zeit.
Rosa hatte schon gut vorbereitet - das Geschirr vom Vieh war sauber geputzt
und sie hatte reichlich Latschenzweige gebrochen.
Wir verloren mit reden nicht viel Zeit und begannen mit dem Binden der nadelgrünen Kränze.
Flink ging uns die Arbeit von der Hand.
Das Nadelgrün musste am Geschirr befestigt werden. Zum Schluss wurden die bunten Bänder und Rosetten darauf gesteckt, auch kleine Spiegel und große Perlenhatte ich mitgebracht und mit Freude waren wir beide bei der Arbeit,
und langsam fertigte sich das Gesamtbild.
Ich trat einen Schritt zurück, um mein Werk zu begutachten.
Rosa tat das gleiche.
Weil ich zeitig heroben war, wurden wir mit dem bunten Schmuck für den Almabtrieb bis zum Abend fertig.
Die Hände schmerzten uns beiden. Nach einer guten Jause gingen wir früh schlafen.
Am Morgen taten wir gut ausgeruht die letzten Handgriffe.

Rosa hatte schon die Kühe gemolken und führte am Strick
die Leitkuh, um sie am Pfosten anzubinden; die anderen folgten ihr.
Heroben auf der Alm war das Braunvieh sauber, was man in den Wintermonaten,
wenn das Vieh im Stall stand, nicht so sagen konnte.
Jetzt musste der Kopfschmuck mit breiten Riemen befestigt werden.
All die Jahre bin ich jedes Mal überrascht, dass das Vieh das geduldig mit sich machen lässt.
"Sie freuen sich aufs nachhause gehen", versicherte Rosa mir dann.
Jetzt war es an der Zeit, uns aufzuputzen.
Geschwind zog ich meine Tracht an und Rosa bändigte mein langes Haar zu einem Bauernzopf.
Ich half Rosa noch schnell die gefüllten Milchkannen auf den Boden des Liftes zu stellen.
Dann löste sie den Strick der Kuh und rief: "Auf geht's!"
Die Leitkuh ging wie schon Jahre zuvor voraus und die anderen Kühe folgten ihr.
Die Magd ging seitwärts daneben und ich machte den Abschluss und schaute,
dass kein Rind seitwärts vom Steg abkam.
Heuer gelang uns der Abstieg besonders gut.

Eine große Menschenmenge erwartete uns und mit "Servus, Grüß di Gott und Hallo", wurden wir begrüßt.
Dann wurden Hände geschüttelt und fotografiert.
Die Tiere drängten in den Stall und die Knechte übernahmen sie und führten sie dorthin. Es war doch alle Jahre wieder ein farbenprächtiges Bild und das Wetter war herbstlich schön.
Die Bänke wurden besetzt und es wurde von all den guten Sachen probiert.
Der Durst musste auch gelöscht werden.
Und langsam leerten sich die Schüsseln, Töpfe und Pfannen.
Dann kam der Ansturm auf den Tanzboden.
Vater und Mutter hatten auch ihre Sonntagstracht an, so wie alle Dorfbewohner.
Dann forderten die Burschen zum Tanz auf.
Das war der Moment, wo ich mich nicht mehr so wohlfühlte.
Ich wollte aber niemanden einen Korb geben
und ließ mich zum Tanz führen.
Als Vater meine Erschöpfung sah, sagte er bestimmt:
"Lasst Marlene mal eine Weile verschnaufen,
sie ist ja ganz erhitzt und seit der Früh auf den Beinen!"
Das wurde dann auch akzeptiert.
Es war ein prachtvolles Fest. Die Tage wurden schon kürzer, man merkte es an der Dämmerung, die bald hereinbrach. Jetzt kamen die bunten Lichterketten voll zur Geltung. In guter Stimmung ließen wir den Festtag ausklingen.

Ende Oktober brach dann der Winter ins Land und durchgehend bis Ende April war die Landschaft in eine weiße Schneedecke gehüllt.
Aber im Frühjahr kam dann zusätzlich zur Schneeschmelze der Regen - es wollte und wollte nicht aufhören.
Es hatte den Anschein, als müsste der Regen der vergangenen Jahre jetzt im Nachhinein niedergehen.
Die Wolken hingen grau und tief über dem Land.
Der Boden nahm schon lange das Wasser nicht mehr auf und aus manchem Rinnsal wurde ein tosender Bach.
Es gab viel Arbeit, eine gefährliche Arbeit für Vater und die Knechte, mussten sie doch die Bäche von mitreißenden Bäumen und Sträuchern freihalten,
denn ansonsten drohten Vermurungen.
Alles war in Aufruhr und manch einer schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel:
"Herrgott, gib Einhalt diesen Regenmassen."
Vater ging täglich mit den Knechten, um auch nach der Holzbrücke zu schauen.
Während der letzten heißen Sommer plätscherte der Bach oberhalb mit weißen Schaumkronen ruhig und gleichmäßig dahin.
Das Gebirgswasser war klar gewesen und man hatte bis auf den Grund sehen und den flinken Forellen zuschauen können.

Aber in diesem Frühjahr hörte man das tosen bis zum Haus und die Wassermassen
rissen alles mit, was sie ergreifen konnten. Jetzt hatte das Wasser eine erdige, drohende Gestalt angenommen.
Wie sehr fürchtete ich den Steg im Frühjahr, aber an der Hand von Bastian, der mich stets sicher über die Brücke führte, verflog die Angst.
Jetzt war schon Ende Mai und das Vieh kam nicht zur gewohnten Zeit auf die Alm,
denn die Stege oder Trampelpfade waren teils von Wassermassen weggespült worden.
Es gab viele Erdrutsche, besonders dort, wo sich die Pisten befanden,
denn ohne Waldbestand hatte der Boden keine Festigkeit.
Nun regnete es schon durchgehend sechs Wochen - und endlich fiel kein Niederschlag mehr.
Bald schon riss die geschlossene Wolkendecke auf und die "Frühlingssonne" blinzelte hervor.

Die Mutter hatte sich im Winter eine schwere Lungenentzündung geholt,
von der sie sich nicht so recht erholen konnte.
Am Abend kam der Vater von Heiligenblut heim und dort hörte er dann von der Leiche, die die Wassermassen wohl aus der Gletscherspalte geschwemmt hatten.
Die männliche Leiche, die der Kleidung nach eine Person aus der Stadt war, lag beim Ausläufer der Pasterze.
"Armer Mann, möge Gott seiner Seele gnädig sein", sprach die Mutter. Vater sagte dann noch, sie hätten den Toten für Untersuchungen nach Salzburg gebracht.
Und er berichtete noch über den Verlauf des Tages…

Es war so vieles liegen geblieben und es gab viel zu tun in den nächsten Tagen.
Das gehörte war bald in Vergessenheit geraten -
wie konnte ich denn auch ahnen, dass gerade diese Nachricht des Toten
mein ganzes bisheriges Leben umkrempeln sollte?
Auch machte die Mutter mir so viele Sorgen, denn sie lag seit Wochen entkräftet und krank darnieder und konnte sich nicht so recht von der Lungenentzündung erholen.

Endlich konnte das Vieh auf die Alm getrieben werden, aber dieses Mal ging mit Rosa nicht ich, sondern Franz, der Knecht mit.
Ich wollte und konnte die Mutter nicht alleine lassen, sie wurde immer schwächer und wollte nicht genesen.
Auch das Fieber wollte nicht weichen. Der anhaltende Huste quälte sie sehr
und meist lag sie erschöpft darnieder.
Der Doktor kam regelmäßig, um nach ihr zu schauen, doch heute war er auf einer Ärztetagung in Salzburg und das fiebersenkende Medikament war verbraucht.
So schickte ich die Magd nach Heiligenblut in die Apotheke, um die Medizin zu holen.

Der Vater war schon zeitig in der Früh aus dem Haus gegangen,
er hatte im Hochwald zu arbeiten.
Derweil ich der Mutter aus einem Buch vorlas, das sie so sehr liebte,
wartete ich schon ungeduldig auf die Rückkehr der Magd.
Mal wieder wurde mir bewusst wie unterschiedlich schnell die Zeit vergeht.
Natürlich ging die Uhr immer im gleiche Takt und Rhythmus, doch heute kam mir die Zeit endlos vor.
Doch endlich eilte die Magd ganz atemlos und mit erhitzten Wangen zur Stube herein und drückte mir geschwind den Einkauf von der Apotheke in die Hand.
Noch nach Luft ringend sprudelte aus ihr heraus, dass die Leute im Dorf erzählten,
dass die männliche Leiche schon vor über zwanzig Jahren in die Gletscherspalte
gefallen sein musste.
Nur die heißen Sommer der letzten Jahre und der heurige, anhaltende Regen
machten es möglich, dass der Gletscher ihn, den Toten, freigab.
Sein eisiges Grab hat den Verwesungsprozess aufgehalten.
So war seine Kleidung relativ gut erhalten.
Sogar einen Ausweis hat man in seiner Jackentasche gefunden
sowie ein verschnürtes Schmuck-Päckchen, ein Goldkettchen mit Anhänger in Herzform.
Im Herz, so redeten die Leute, soll eingraviert sein:
"Meiner Elfe - für immer dein."

"Nein, nein, nein!", schrie plötzlich die Mutter auf und ihre Hände griffen zum Herzen.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie verwirrt im Raum umher und flüsterte:
"Mein Gott, er war auf dem Weg zu mir und ich musste doch annehmen,
dass er ein Abenteurer war und sich davongeschlichen hat.
In Schmach und Schande ließ er mich zurück, so viele böse Gedanken habe ich ihm nachgesagt, derweil mein Herz sich nach ihm sehnte."
Fassungslos hörte ich meiner Mutter zu und sagte dann verstört: "Mein Gott sie fiebert so, dass sie nicht mehr weiß, was sie redet", schrie ich die Magd an. "Geh", sagte ich hastig, "und schau, dass du den Bauern im Hochwald findest",
und schob sie zur Tür hinaus.

Die Mutter lag nun mit geschlossenen Augen in den Kissen, ihre Hände bewegten sich unruhig hin und her.
Immer wieder flüsterte sie die Worte: "Er wollte zu mir. Er wollte zu mir!"
Dann umklammerte sie meine Hand und sagte flüsternd:
"Marlene, er wollte mich nie verlassen; so, wie ich es glauben musste.
Nachdem er ging und ich ihm zuvor sagte, dass unsere Liebe gesegnet sei
und ich ein Kind erwartete, ging er mit den Worten:
"Wir werden uns schon bald wiedersehen." Er blickte noch einmal zurück und sagte: "Wenn die Bergrosen in Blüte stehen, bin ich wieder bei dir!" -
Aber ich sah ihn nie wieder.“

Ich war so verwirrt, wie nie zuvor in meinem Leben und sagte hastig: "Mutter, du sprichst im Fieberwahn, ich höre deine Worte, aber ich verstehe sie nicht.
Bitte nimm von der Medizin, sie wird dein Fieber senken und dann wirst du zur Ruhe kommen."
Damit reichte ich ihr von dem Medikament, aber sie wehrte es ab.
Wieder flüsterte sie:
"Er wollte zu mir und mich nicht in Schande zurücklassen."
"Nein, nein", sagte ich und hielt mir die Ohren zu. Ich wollte ihre Erzählungen nicht mehr hören und wunderte mich, wo der Vater nur blieb.
Schwer atmend lag Mutter da und ich fühlte mich hilflos und allein.
"Bitte, Marlene, bestelle den Pfarrer zu uns, ich trage so schwer an meiner Schuld."
"Ach Mutter, was ist nur geschehen?
Wie ist es möglich, dass dich der fremde Tote so einen Unsinn reden lässt?"
"Mein geliebtes Kind", sagte dann die Mutter ruhig und klar,
"der Tote ist kein Fremder für uns", und dann zögerte Mutter mit ihren Worten.
"Er ist dein Erzeuger", sprach sie dann weiter.
Aber dann sagte sie mit einem Lächeln um den Mund:
"Aber später habe wir beide dann Vater gefunden"

Atemlos sprang ich auf, aber Mutter ließ meine Hand nicht los
und sprach weiter: "Er war lange vor deiner Geburt hier im Tal und war auch damit beauftragt, die Großglocknerstraße zu vermessen, denn sie sollte weiter ausgebaut werden. Wie auch heute nahm der Tourismus ständig zu.
Er kam von weit her, aus Wien. Unsere Begegnung war so unwirklich - wie im Märchen.
Ich war droben beim Wasserfall, um dort die seltene Pflanzenwelt zu skizzieren.
Ich war so in meine Aufzeichnungen vertieft,
dass ich nicht die Gestalt wahrnahm, die unterhalb auf dem Felsen saß
und mich beobachtete.
Das Wasser übertönte jedes Geräusch, doch irgendetwas ließ mich aufblicken
und unsere Augen trafen sich.
Ich sah gleich an seiner Kleidung, dass es ein Fremder war.
Langsam stieg er dann zu mir hinauf und rief mir dabei entgegen:
"Hallo, schöne Elfe, bist du Wirklichkeit oder Traum?"
Mit den Armen groß ausholend sagte er dann:
"Im Hintergrund der brausende und schäumende Wasserfall und darüber ein farbenprächtiger Regenbogen in den schönsten Farben und darunter eine Elfe;
da muss man ja ins Träumen kommen. So anmutig mit deinen gelösten,
offenen, goldenen Haaren. Du bist so gegenwärtig und doch wie unwirklich!"

"So, wie Großmutter es mir immer erzählte",
flüsterte ich fast tonlos, derweil ich Mutters Worten lauschte.
Dann sprach Mutter weiter:
"Keines seiner Worte habe ich je vergessen. Unsere Blicke fanden sich
und wir konnten nicht mehr voneinander lassen. Über drei Monate war er im Dorf, bis seine Arbeit getan war.
Als Vermessungstechniker war er hier im Dorf tätig, auch mit der genauen Erfassung der Pasterze beauftragt, denn auch sie sollte als "Gletscherweg"
für die Touristen wieder neu erfasst werden.
Wodurch ihm damals Skepsis und Ablehnung entgegen schlugen.
Und dann mussten wir Abschied nehmen. "Marlene, für uns beide ist es kein Fremder!"
"Nur weg hier", dachte ich und riss die Stubentür auf, um hinauszustürzen.
Dort rief ich noch Anna, der alten Magd zu:
"Rufe das Pfarramt an, und sag, die Bäuerin bittet um den Besuch des Pfarrers" ...

Ich lief und lief und wusste eigentlich gar nicht, wohin mich meine Füße trugen.
Meine Augen waren blind vor Tränen.
In meinem Kopf pochte es unaufhaltsam, mein Erzeuger, der Tote, mein Erzeuger.
"So etwas Verrücktes", dachte ich, dann hielt ich spontan
inne und dachte: "Ich muss zurück. Ich muss Vater beistehen, wenn Mutter so im Fieber redet, denn auch er wird es nicht verstehen."
Schon machte ich kehrt und eilig ging ich den Weg zurück.
Vorsichtig öffnete ich die Tür zur Diele und trat ein.
Dort beim Tisch saß der Vater in gebeugter Haltung. Den Kopf hatte er in seine Hände vergraben.
"Wie ein gefällter Baum", ging es mir durch den Kopf
und reglos und hilflos blieb ich stehen. Da hob der Vater den Kopf und schaute mich mit sorgenvollen Augen an und sagte: Komm her zu mir, mein Kind",
und streckte mir die Hände entgegen. Dann sprach er:
"Der Pfarrer ist jetzt bei Mutter, um ihr beizustehen."
Aus mir brach es heraus: "Mutter redet so wirres Zeug, ich will es nicht mehr hören!“
Die ganze Betonung lag in dem Wort "WILL"
und ich flüchtete in die geborgenen Armen meines Vaters.
"Marlene, mein Kind, ich wünschte, ich könnte dir deinen ganzen Schmerz nehmen."
So aufgewühlt, wie ich war, hörte ich dann die Worte meines Vaters:
"Dieser Tag wird deiner Mutter das Herz brechen und ich werde die Frau verlieren, die ich über alles liebe."
Weiter sprach er und seine Hand streichelte mir gedankenverloren
über das Haar: "Ich lernte Mutter erst später kennen.
Im Dorf war sie mir schon längere Zeit aufgefallen;
aber ich sah ich sie nie in Begleitung eines Mannes.
Sie kam aus der Ferne in unser Gebirgsdorf und arbeitete als Floristin in dem kleinen Blumenladen.
Wie oft zuvor, hoffte ich, sie zu treffen! Es war Zufall, dass ich mich an diesem Tag
in ihrer Nähe aufhielt und Zeuge einer hässlichen Szene wurde.
Die alten Dorftratschen zeigten mit den Fingern auf unsere Mutter
und sagten, dass so eine mit Bauch, die nicht verheiratet ist, nicht in unsere "Dorfgemeinschaft" passen würde.

Weißt du mein Kind, das war damals, für die jungen Frauen schon eine Schande, ein uneheliches Kind zu erwarten, und NICHT für die werdenden Väter,
denn die tragen nicht den Hinweis für alle sichtbar zu lesen:
werde unehelicher Vater.
Auch ich sah dann die Wölbung ihres Leibes und ging wortlos zu deiner Mutter.
Ich nahm ihr die Einkaufstasche aus der Hand und sagte: "Ich werde dich heimbegleiten."
Beim Vorbeigehen an den Alten sagte ich spontan:
"Wer sagt denn, dass das Kind keinen Vater hat?"
Sie starrten uns sprachlos hinterher. "Oh, Vater", flüsterte ich verhalten. "Ich habe dich so lieb."
Der Vater räusperte sich und sagte: "An diesem Tag habe ich das einzig richtige getan.
Dank meiner Eltern und Vorfahren waren wir schon immer angesehene Leute;
auch achtete man uns aufgrund des Reichtums.
Nun, wie gesagt, begleitete ich Mutter an diesem Tag heim und beim Abschied sagte ich:
"Wir werden uns bald schon wiedersehen und dann werde ich dich bitten, meine Frau zu werden."
Und so geschah es auch und ich holte euch beide heim, in dieses Haus,
denn ihr seid mir das Liebste auf der Welt;
selbst meine Mutter, die Altbäuerin war ganz vernarrt in euch beide,
insbesondere dann in dich; wie du es selber erfahren dürftest.
Die Leute im Dorf schwiegen, konnte ich ihnen doch glaubhaft machen,
dein Vater zu sein, mein Rehlein.
Dann sagte er gedankenverloren: "Sind wir heroben in dem Urgestein der Berge
doch heute vielleicht noch genauso konservativ wie vor zwanzig Jahren."

Die Stubentür öffnete sich und der Herr Pfarrer trat heraus.
Der Vater begleitete ihn in die geräumige Wohnküche und lud ihn zu einer Jausen, einer herzhaften Brotzeit ein.
Ich aber huschte ins Zimmer zur Mutter und ergriff ihre Hände, die bleich auf der Bettdecke lagen.
Kraftlos und doch ruhig sprach sie: "Marlene, mein geliebtes Kind, es tut mir so unendlich leid, dass ich dich mit meinen Worten so verwirrt habe.
Du sollst aber auch wissen, dass ich Vater in all den vergangenen, gemeinsamen Jahren lieben gelernt habe.
Eine Liebe, so verlässlich und stark, wie ich sie dir, mein Kind als Mutter,
für dein weiteres Leben nur wünschen kann. Ein Lächeln lag um ihre Lippen, als sie den Kopf neigte und von uns ging.

Am nächsten Tag ging Vater schon zeitig aus dem Haus mit den Worten: "ich habe in Salzburg etwas zu erledigen."
Dort ließ er sich das Schmuckstück des Toten aushändigen.
Der Mutter legte er das Kettchen mit dem Anhänger in Herzform
in die wie zum Gebet gefalteten Hände.
Mein Herz war erfüllt von Liebe zu meinem Vater.
"Er ist mein Vater", dachte ich und wird es immer für mich bleiben.

So fand das goldene Herz zu meiner Mutter; jahrelang verborgen in eisiger Kälte des Gletschers, um dann in der kühlen Erde in Heiligenblut wieder begraben zu werden.
Zum Begräbnis der Mutter war das ganze Dorf auf den Beinen.
Schmerzerfüllt ging ich mit Vater blind vor Tränen hinter dem Sarg meiner Mutter her.
Aus langstieligen roten Rosen und grünem Buchsbaum hatte ich Mutter tags zuvor,
als letzten Gruß, einen Kranz in Herzform gebunden, den ich am Grab auf den Sarg meiner Mutter legte.
Dann wurde der Sarg hinunter in das Erdloch langsam versenkt und ich flüsterte:
"Mutter, ich danke dir für all deine Liebe - Ruhe in Frieden!"
Vater und ich mussten so viele Hände drücken und Beileidswünsche entgegennehmen.

Doch ganz zum Schluss löste sich eine Gestalt von der Friedhofsmauer
und kam unsicher auf uns zu. Unsere Blicke trafen sich und ich sagte dann fragend
und mit unsicheren Worten: "Bastian, mein Bastian,
heute bist du endlich gekommen. Zurück aus der Ferne, um mir im Schmerz beizustehen."
"Ich habe es in der Zeitung gelesen, auch erreichte mich telefonisch meiner Schwester Klara", sagte er dann, und nahm mich einfach in seine starken Arme.
Dann hakte er sich bei mir ein und gemeinsam mit Vater
verließen wir den Friedhof von Heiligenblut.
Ergriffen sagte Vater dann:
"In den Grabstein werde ich die Worte: "Auf Wiedersehen - leb wohl mein Herz" eingravieren lassen.
Wir werden uns schon bald wiedersehen, so wenige Worte", dachte ich.
Ein Satz, wie in meinem Fall vor Jahren von meinem Vater an meine Mutter gerichtet, entschied über mein und Mutters ganzes Leben.
Denn diese Worte gaben mir ein Zuhause mit Mutter und Vater und Großmutter.

Hildegard Stauder

-

Anmerkung:
Die frei erfundene Handlung meines Romans spielt im Hochtal, zu Fuße des markanten Gipfel des Großglockners;
der einst mächtigen, beeindruckenden, eiszeitlicher Gletscherzunge;
wo die Schmelze unaufhaltsam seit Jahrzehnten begonnen hat.
Eine dramatische Entwicklung des globalen Klimawandels -
unserer Zeit ...

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