Kardinal Christoph Schönborn
"Wir müssen uns da alle am Riemen reißen"
Kardinal Christoph Schönborn über mehr Rücksichtnahme, Zusammenhalt und sein schönstes Weihnachten.
WIEN. Es ist für alle ein herausforderndes Jahr gewesen. Die Pandemie spaltet die Gesellschaft zusehends. Wie wir das Miteinander wieder stärken können, wo es von uns allen mehr Empathie braucht und warum die Wienerinnen und Wiener "dankbar raunzen" sollten, darüber hat Kardinal Christoph Schönborn im großen Interview mit der BezirksZeitung geplaudert.
Aufgrund der Pandemie wird es wohl auch heuer kein Weihnachten wie damals. Wie geht es Ihnen persönlich damit?
CHRISTOPH SCHÖNBORN: Es schaut ja danach aus, als ob Weihnachten ohne große Einschränkungen möglich sein wird. Aber viele Familien zittern in diesen Tagen um einen schwer kranken Angehörigen, viele haben Zukunftsängste und viele sorgen sich – auch wenn ich das selbst anders sehe – um Impfschäden und verzweifeln an der kommenden Impfpflicht. Es ist also für viele ein mit schweren Sorgen beladenes Weihnachten. Ich persönlich erlebe, dass die Weihnachtsbotschaft gerade dann besonders hell strahlt, wenn ringsherum die Dunkelheit zunimmt. Aber viele haben diesen Trost und diese Hoffnung nicht. Wir alle können aber mithelfen, zum Beispiel indem wir in diesen Tagen besonders aufmerksam und rücksichtsvoll sind – gerade auch denen gegenüber, die uns auf die Nerven gehen.
Die Pandemie spaltet zusehends die Gesellschaft. Wie schaffen wir es wieder zu einem Miteinander?
Ein Miteinander entsteht nicht aus politischen Entscheidungen oder aus Appellen heraus, sondern aus unzähligen persönlichen Akten, aus lauter kleinen Friedensschlüssen. Wir müssen uns da alle am Riemen reißen und im persönlichen Umgang die drei Wörter ernst nehmen, die Papst Franziskus uns empfiehlt: „Bitte“, „Danke“ und „Verzeih“. Bei jeder unangenehmen Begegnung sollten wir daran denken, dass unser Gegenüber vielleicht voller Sorge ist. Von dem Schauspieler Robin Williams stammt ein guter Satz: "Jeder, den du kennst, kämpft in einer Schlacht, von der du nichts weißt. Sei daher immer freundlich!"
Warum machen uns Situationen, die wir nicht beeinflussen und lenken können, solche Angst?
Machtlosigkeit und Schwäche machen uns unsicher und ängstlich, das ist wohl ganz natürlich. Die christliche Antwort darauf ist aber nicht, um jeden Preis immer mächtiger und stärker werden zu wollen – das geht auf Dauer nicht gut aus –, sondern sich auf Gott zu verlassen: Er macht am Ende alles gut. Wenn man daran glaubt, wird alles erträglicher, auch die Angst. Und so erobert man für sich selbst ein Stück Souveränität zurück.
Gerade für den seelsorgerischen und karitativen Bereich ist es keine leichte Zeit.
Da gibt es so viel zu tun: von den Obdachlosen, die im Lockdown kein Dach haben, unter das sie flüchten können, über die Jugendlichen, die oft mehr als die Älteren von Einsamkeit und Ängsten geplagt werden, bis hin zu Familien, die sich wegen der Impffrage zerstritten haben. Die Pandemie hat die Schwachstellen in der Gesellschaft und in unserem Leben deutlich hervortreten lassen und gleichzeitig die Bedingungen für die Seelsorge erschwert. In dieser Zeit leisten viele unserer Seelsorger wirklich Knochenarbeit.
Was sind im Moment die größten Herausforderungen?
Nehmen Sie zum Beispiel eine ehrenamtliche Krankenhausseelsorgerin: Jedes Mal, wenn sie einen mit Corona infizierten Sterbenskranken besuchen will, muss sie sich wie eine Astronautin anziehen und vielleicht auch noch die Erlaubnis dazu mühsam erkämpfen. Sie wird außerdem viel mehr vom Krankenhauspersonal in Anspruch genommen, weil diese Menschen fix und fertig sind und mit so viel Leid zu tun haben. Dabei hat die Seelsorgerin vielleicht selbst zu Hause Kinder, deren Schulleben durch die Lockdowns komplizierter geworden ist, und einen Ehemann, dessen Arbeitsplatz wackelt. Oder nehmen Sie einen Pfarrer, der seit fast zwei Jahren ständig improvisieren muss, damit das soziale Netz der Pfarre erhalten bleibt, obwohl so viel Gewohntes nicht mehr möglich ist.
Wien ist eine einzigartige Stadt: Wir können uns kostenlos testen lassen und uns gefühlt an jeder Ecke – sogar im Stephansdom – die Impfung holen. Das ist nicht selbstverständlich. Und doch wird gerne geraunzt. Sind wir zu verwöhnt?
Dass wir in Wien gerne raunzen, muss noch kein Zeichen von Verwöhnung sein. Aber es stimmt: Wenn ich schaue, wie es in anderen Gegenden der Welt zugeht, dann können wir wirklich dankbar dafür sein, wie gut wir uns trotz aller Pannen und Unsicherheiten organisieren. Dankbarkeit ist überhaupt ein Schlüsselbegriff: Ohne Dankbarkeit gibt es kein Glücklichsein. Ich empfehle uns also: Wenn schon, dann wenigstens dankbar raunzen.
Wir schaffen es, digital in Kontakt zu bleiben. Und doch ist es nicht dasselbe. Was vermissen Sie am meisten?
Die spontane Begegnung, den unkomplizierten, ungehinderten Austausch mit anderen Menschen.
Was war Ihr schönstes Weihnachten?
Vielleicht das erste Weihnachten, das wir als Familie in unserer eigenen Wohnung feiern konnten. Wir sind ja 1945, als ich ein Baby war, aus der böhmischen Heimat vertrieben worden. Danach haben wir jahrelang bei Verwandten in Untermiete gewohnt. Doch 1951 konnten wir endlich unsere eigene Wohnung beziehen. Eine eigene Wohnung! Wie glücklich waren wir damals! Für mich kleinen Buben war das wie ein Wunder.
Wie werden Sie heuer feiern?
Wir haben als Hausgemeinschaft eine kleine Weihnachtsfeier mit den anderen Bewohnern des Bischofshauses. Wir singen vor dem Christbaum, beten, lesen das Weihnachtsevangelium und packen Geschenke aus. Dann feiere ich wie immer die Mette mit der Caritas-Gemeinde, mit Menschen, die buchstäblich nichts besitzen und unter besonders schwierigen Umständen leben, die aber doch die Christmette mit einer so großen Herzensfreude feiern – so, wie es uns das Christuskind zeigt, das in einem armseligen Stall zur Welt kommt: Es kommt nicht darauf an, wie viel wir besitzen, sondern darauf, ob die Liebe noch unser Herz berühren kann.
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