Advent – Bei Gott ankommen, ganz im Ernst

Meine Eltern - am Tag ihrer goldenen Hochzeit
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- Gedanken zum Leben und Sterben -

Es sind gerade einmal 24 Stunden vergangen seitdem mein Vater sein Leben ausgehaucht und meine Mutter als Witwe in diesem Advent zurück gelassen hat. In den letzten Wochen war Vater des geistigen Lebens und der Fähigkeit zu körperlicher Koordination fast völlig beraubt. Geduldig und aufmerksam hatte meine Mutter den Part der Versorgung mit Nahrung übernommen. Hygiene und Versorgung auf dem Krankenlager oblag den professionellen Pflegekräften des Heimes. Die Ärzte hatten uns Mitte Februar dieses Jahres unseren Vater als „austherapierten“ Krebspatienten mit einer voraussichtlichen Lebenszeit von zwei bis drei Monaten übergeben.
Innerhalb von wenigen Tagen mussten einschneidende Entscheidungen getroffen werden: Ein Pflegeplatz in einem Heim mussten wir – drei Söhne - suchen. Mutter wollte mit unserem Vater ins Heim. Also galt es einen gemeinsamen Platz zu suchen. Glücklicherweise gab es diesen Platz. Und nachdem unsere Mutter das Haus besichtigt hatte, ließen sich beide Eltern auf den neuen Abschnitt ihres Lebens ein.
Ende Februar war die Überstellung aus der Krebsklinik in Heidelberg ins Pflegeheim nach Roßdorf. Der schwerste Weg und die erste riesengroße Freiheits-Einschränkung meiner Eltern. Ihre geliebte Wohnung in der Darmstädter Straße in Reinheim, ihr Daheim, war mit einem Schlag zur Vergangenheit geworden.
Der Wust an Formalitäten, die deutsche Gründlichkeit in Nebensächlichkeiten und die Unverfrorenheit mancher Menschen, die uns in den letzten Monaten begegnet sind, würden Seiten füllen. Sie sind es aber nicht wert, weder die Paragraphenreiter noch die Alleswisser, dass man ihnen zu viel Raum und Aufmerksamkeit schenkt, außer der, dass auch sie Geschöpfe Gottes sind.
Der Zustand meines Vaters verschlechterte sich zusehends. Konnte er in den ersten Wochen und Monaten noch selbständig essen und seine Bewegungen koordinieren, so schnitt ihm ein wachsender Hirntumor nach und nach diese Fähigkeiten ab. Schließlich wurde das Bett zum letzten Refugium. Zwei Quadratmeter Lebensraum, angewiesen auf die Hilfe anderer Menschen und gefesselt in der eigenen Körperlichkeit, über die er auch nicht mehr willentlich verfügen konnte. Der behandelnde Arzt nannte das Bemühen meiner Mutter „hingebungsvoll“. Als Söhne waren wir immer wieder erstaunt über die Energie und das Engagement unserer fast 80-jährigen Mama. Zum Wohl ihres Mannes, unseres Papas, konnte sie auch richtig stur und lästig sein. Gut so!
Auf diese Art und Weise ist mancher Leichtsinnsfehler und manche Unterlassung schnell in Ordnung gebracht worden.
Meine eigenen Besuche, die in den letzten Monaten zwar sehr regelmäßig, aber doch immer zeitlich begrenzt stattfinden mussten, wurden mir und meinen Eltern nicht leichter.
Die Krankheit schritt unerbittlich voran. Vater vergreiste nicht nur in einem rasanten Tempo, er vergaß. Nachdem die Wohnung, das gewohnte Umfeld, die soziale Vernetzung ihm genommen war, lösten sich nun die Erinnerungen mehr und mehr auf. Damit einher ging der endgültige Verlust motorischer Fähigkeiten.
Ein geordneter Einsatz der Hände war schließlich überhaupt nicht mehr möglich – also kein Waschen, Zähneputzen, kein Essen, kein Kratzen, Nase putzen – ja auch das Händefalten war nicht mehr, da die eine Hand nicht zur anderen fand.
Diese letzte Armut, dieser komplette Verlust war eine einschneidende und tiefgreifende Erfahrung für mich, der ich die Armut gelobt habe und sie im Ideal auch lebe: Besitzen als besäße ich nicht – Eigentum im Dienst der Menschen – Geld als Möglichkeit, das Gute zu tun.
Hier war nun mein Vater, der nicht die Ideale zu leben suchte, sondern der im Prozess des Sterbens wirklich und ganz und gar arm wurde: Die Rente langte nicht zur Hälfte, um die monatliche Heimrechnung zu zahlen. Alles, alles Ersparte fraßen die letzten Monate auf – sogar auf die kleine Sterbeversicherung erhob der Staat Anspruch, zur Begleichung der Heimrechnung. Geldgeschenke und Spenden der letzten zehn Jahre mussten zurückgeholt werden. Die Versprechen von Vermieter, von Sachbearbeitern, von Staat und Versicherungen stellten sich zum Teil als vordergründig und leer heraus. So gut wie nichts ist ihm geblieben von fast 50 Jahren Lebensgeschichte in Reinheim… „Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin“(Psalm 103, 15f). Wie oft ist mir in den letzten Wochen dieser Psalmvers eingefallen, angesichts der „Armut“ meines Vaters. Für die Medizin war er ein zu verwaltender „Fall“, der wenig Profit - sowohl finanziell (schlecht versichert) als auch wissenschaftlich – abwarf. Für die Gesellschaft war er ein Kostenfaktor, da er plötzlich keinerlei „Nutzen“ mehr bringen konnte. Für uns aber ist er der Vater geblieben, für unsere Mutter der Ehemann – in guten und schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit…
Und mit seiner ungewollten, auferlegten Armut ist er mir zum Fragezeichen geworden, was meine eigenen Prioritäten angeht und zum Ausrufezeichen der christlichen Botschaft. Mein Vater hat sich – trotz seiner Glaubens- und Kirchentreue – immer um den Gedanken des Alterns und des Leidens gedrückt.
Ein wirkliches Gespräch darüber war nie möglich. Als Gott ihm nun alles nach und nach wegnahm und er noch unter die Situation des biblischen Hiob erniedrigt wurde, da hielt er still. Es war letztlich ein „Sich-Fügen“ und Annehmen in ihm gegenwärtig. Das letzte Vertrauen, die Ergebenheit, die uns Vater hinterlassen hat, sind ein starkes Zeugnis, ein nicht zu beziffernder Reichtum - und der "Schatz" der Familie dazu, bleibt unbezahlbar.
Er – der Humorvolle und Lebensbejahende – hat am Schluss seines Lebens im Blick aus dem Fenster, in der Betrachtung des Windes in den Bäumen und im Fallen der Blätter Zufriedenheit gefunden. Sein Lächeln und sein Entgegenkommen im Wesen werden den Besuchern und Pflegenden im Heim wohl in Erinnerung bleiben.
Ja – unsere Eltern haben ein ganzes Leben investiert, damit es uns als Söhnen,
damit es auch in diesem Land besser geht. Wir sind tatsächlich aus der Armut gekommen, dass darf ich ohne Übertreibung feststellen. Finanziell ist meine Mutter in dieser Stunde – in dieser Gesellschaft und nach den Maßstäben der Statistik – nun richtig arm, aber die letzten Monate haben uns als Familie und als Glaubende unseren Reichtum geoffenbart.
In einer Zeit, in der das Leben in die Verfügbarkeit und in den ideologischen Strudel einer missbrauchten und manipulierten Freiheit geraten ist, schaue ich dankbar auf das Lebens- und Liebeszeugnis unserer Eltern: Im 58sten Jahr ihrer Ehe haben sie beherzt Krankheit, Leid und Tod mit dem Blick auf Gott getragen und aufgeopfert.
In dieser neoliberalen Konsumgesellschaft, in dieser entwurzelten Generation, in dieser geizgeilen Schnäppchengesellschaft und Leistung-muss-sich-lohnen-Vertrottelung hat mir mein Vater das Vorbild des „Gratis- Daseins“, die Demut, ausgenutzt zu werden und die mutige Leidensbereitschaft, vor dem kapitalistischen Hintergrund ein „Nichts“ zu bleiben gelehrt.
Nun lasse ich ihn gehen: Unseren starken Vater, der so stark war, schwach zu sein. Sein Gut-Sein wird mir Mahnung und Ansporn bleiben.
Nicht der Strich unter unserem Bankkonto macht das Mensch-Sein, sondern der Strich, den Gott unter unsere Lebensbilanz zieht. Das Wort der Offenbarung enthüllt es uns: „Und ich hörte eine Stimme vom Himmel her rufen: Schreibe! Selig die Toten, die im Herrn sterben, von jetzt an; ja, spricht der Geist, sie sollen ausruhen von ihren Mühen; denn ihre Werke begleiten sie.“ (Offb 14, 13)

Meine Eltern - am Tag ihrer goldenen Hochzeit
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