Tirol sagt Ja zur EU
Die Kraft der Alpen – 48 Regionen, 80 Mio. Menschen

Die Alpenregion ist eine der faszinierendsten Landschaften Europas.
Fritz Staudigl
Fritz Staudigl ist so etwas wie der „Mister EU“ im Tiroler Landhaus. Wie kaum ein anderer kennt er die beflügelnden Entwicklungen, die heiklen Knackpunkte, aber auch die Herausforderungen und Chancen, die in den grenzüberschreitenden Partnerschaften stecken. Sie werden durch die EU forciert, vom Land Tirol befeuert und Staudigl weiß: „Trotz unseres Wohlstandes bekommt Tirol, auch finanziell, mehr zurück, als es zahlt.“

Für Fritz Staudigl, den Vorstand der Abteilung Südtirol, Europaregion und Außenbeziehungen im Amt der Tiroler Landesregierung, trifft der Politologe Peter Filzmaier mit dem Satz „Wer nichts mit der EU zu tun hat, ist tot“ punktgenau ins Schwarze. „Von der Wiege bis zur Bahre, von Nord nach Süd, von früh bis spät sind wir mit europäischen Regelungen konfrontiert“, sagt Staudigl und hält fest: „Es gibt tatsächlich keinen Lebensbereich, der nicht von der EU mitbeeinflusst ist. Darum ist es wichtig, zur Wahl des EU-Parlamentes zu gehen, weil dadurch jeder Wähler direkt Einfluss darauf nehmen kann, wie diese EU in Zukunft tickt.“
90 bis 95 Prozent der europäischen Rechtsetzungen und die wichtigsten politischen Beschlüsse kommen ohne die Zustimmung des EU-Parlamentes nicht zustande. Darum ist es entscheidend, wer Österreich dort vertritt – und mit welchen Zielen.

Aktuell tickt „diese EU“ durchaus stockend. Der Brexit, also der verwirrende, für alle Beteiligten mühsame und chaotische Abschied Großbritanniens von der EU, bildet derzeit den Gipfel der Probleme und Herausforderungen. Finanzkrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise. Und jetzt das. „Es kommt knüppeldick daher, doch kann man diesbezüglich und trotz allem von einer nicht aufregenden Wellenbewegung der EU sprechen. Auf Tiefen sind immer wieder neue Höhen gekommen, und dass durch die aktuelle Krise der gesamte europäische Integrationsprozess in Frage gestellt wird, sehe ich in keiner Weise“, lenkt Staudigl den Blick weg vom tagesaktuellen Geschehen hin zum Fundament der Europäischen Union, in derem geografischen Herzen das Land Tirol seit dem EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995 große Sprünge gemacht hat. Die Alpenregion ist eine der faszinierendsten Landschaften Europas.

Selbstverständlichkeiten

Die Vorteile, die Tirol allein durch den Wegfall der Zoll- und Polizeikontrollen entlang der nördlichen wie südlichen Grenzen erfahren hat, sind kaum zu fassen. Nur eigenartige Masochisten vermissen das Prickeln, das sich beim Schmuggeln von Waren in zu hohem Wert eingestellt hatte, wenn das Zollhäuschen näher rückte.
Es war auch nicht die Aussicht auf die vollkommen stressfrei importierte Lederjacke aus Italien, die beim Entsorgen des Schlagbaumes am Brenner auf Tränendrüsen drückte. Und doch werden die so symbolträchtigen wie den Alltag massiv verändernden europäischen Meilensteine, wie die Öffnung der Grenzen, die Einführung des Euro oder jüngst der Wegfall der Roaming-Gebühren rasend schnell für selbstverständlich genommen.

Die EU beziehungsweise Österreichs Mitgliedschaft in derselben hat Land und Leben von Grund auf verändert: Seit 1995 wurden in Tirol allein im Zuge der EU-Regionalpolitik rund 2.500 Projekte umgesetzt, die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino wurde zum Modellbeispiel für gelebte grenzüberschreitende Integration und mit der Öffnung der Grenzen können auch Ideen, Gedanken und Pläne in ganz anderen Dimensionen sprudeln.
„Doch Europa bleibt immer dort am leichtesten erklärbar, wo Geld fließt“, weiß Staudigl um die Überzeugungskraft dessen, was „unterm Strich“ steht. Und dort steht durchaus Erstaunliches.

Fakten
EU-Förderungen für Tirol:
In der laufenden Finanzperiode 2014 – 2020 sind folgende EU-Förderungen für Tirol vorgesehen*: Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft: € 315 Mio. Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums: € 315 Mio. Europäischer Fonds für regionale Entwicklung:

  • Programm Investitionen in Wachstum und Beschäftigung: € 34 Mio.
  • Territoriale Kooperation/Grenzüberschreitende Programme: € 22 Mio.
  • Europäischer Sozialfonds: € 35 Mio.
  • Förderungen über zahlreiche weitere Aktionsprogramme: € 100 Mio.
  • Brenner Basistunnel/Anteil Tirol: Studien: € 303 Mio., Arbeiten: € 879 Mio.
* die Zahlen sind indikativ, da die final abgerechneten Fördersummen vom Ausmaß der Akzeptanz und der tatsächlichen Beteiligung an den Maßnahmen abhängen. Die Erfahrungen aus den vorausgegangenen Finanzperioden zeigen, dass der Ausschöpfungsgrad maximal bis sehr hoch ist.

Erstaunliche Zahlenspiele

In der laufenden Programmperiode 2014 – 2020 fließen jährlich durchschnittlich 286 Millionen Euro an EU-Förderungen nach Tirol. Werden die EU-Gelder für den Brenner Basistunnel (BBT) von der Summe abgezogen, bleiben immer noch 117 Millionen Euro übrig. „Der Anteil Tirols an den Beitragsleistungen Österreichs zur EU beträgt im Schnitt der letzten drei Jahre jährlich 46 Millionen Euro. Tirol ist so gesehen im Durchschnitt mit ca. 240 Millionen Euro oder 71 Millionen Euro ohne BBT jährlicher EU-Nettoempfänger“, stellt der Abteilungsvorstand klar und rückt damit manche Missverständnisse im Zusammenhang mit der leidigen Nettozahler-/Nettoempfänger-Diskussion zurecht.

Täglich erhält Tirol demnach rund 657.534 Euro von der EU, was weiter bedeutet, dass für jede Tirolerin und jeden Tiroler pro Tag 88 Cent zurückfließen. Staudigl: „Setzt man diesen Betrag in Relation zum österreichischen Nettobeitrag, haben die Tiroler die immateriellen und materiellen Vorteile aus der EU-Mitgliedschaft also immer noch quasi zum Nulltarif beziehungsweise mit einem finanziellen Plus.“

So beeindruckend diese puren Zahlen auch sind, vermögen sie den tatsächlichen Nutzen der EU-Mitgliedschaft trotzdem nicht widerzuspiegeln. Steigende Exporte, Direktinvestitionen oder Forschungskooperationen vervielfachen die genannten Summen, der EU-Binnenmarkt als Heimatmarkt für über 500 potenzielle KonsumentInnen eröffnen heimischen Unternehmen enorme Chancen und die nicht in Zahlen festzumachenden Pluspunkte der EU strahlen noch viel weiter. Und viel tiefer.

Faszinosum Alpenraum

Fritz Staudigls Lust daran, über die Grenzen zu schauen und über die Grenzen zu arbeiten, wurde früh geweckt. „Gleich nach meinem Eintritt in den Landesdienst wurde ich für die Arge Alp, also die 1972 gegründete Arbeitsgemeinschaft Alpenländer, verantwortlich gemacht“, erzählt er.
Von Bayern bis zur Lombardei, von Salzburg bis ins Tessin reichte sein Betrachtungs- und Gestaltungsspielraum, als es darum ging, die bislang undefinierten Gemeinsamkeiten der alpinen Regionen in politische Stärken zu verwandeln. „Der Alpenraum hat nicht nur die Geografie gemeinsam, sondern auch Mentalitäten, Lebensformen, Wirtschaftsformen. Das geht bis hin zu einer gemeinsamen Identität der Menschen“, weiß Staudigl um die verbindenden Elemente dieser bergig-besonderen Lebensräume, die gänzlich andere Emotionen oder Erfahrungswelten eröffnen, als sanfte Ebenen oder Küstengebiete.

Die grenzüberschreitenden Arge-Alp-Erfahrungen prädestinierten den damals jungen Beamten dazu, die Schritte Österreichs in Richtung EU respektive EWG zu begleiten und als der Beitritt fixiert war, jener Organisationseinheit im Landhaus vorzustehen, die extra für EU-Angelegenheiten gegründet wurde. Nach dem Beitritt konnten auch die Alpen zunehmend größer beziehungsweise in ihrer ganzen Pracht betrachtet werden – von Slowenien bis Frankreich und von Deutschland bis Italien.
Vor dem Hintergrund wurde die Arge Alp zu einem Turbo und Tirol zu einem Initiator für die sogenannte EUSALP – die EU-Strategie für die Alpine Region, die ein Verbund aus sieben EU-Mitgliedstaaten, zwei Drittstaaten, 48 Regionen und insgesamt über 80 Millionen EinwohnerInnen ist. „Die EUSALP vereint die Alpenländer unter einem Dach, um an gemeinsamen Lösungen zu verschiedenen Themen von Klimawandel über Energie bis hin zu Mobilität und Nachhaltigkeit zu arbeiten. Der Verbund verleiht den Alpenländern auch eine gewichtige Stimme in der Europäischen Union“, hielt Landeshauptmann Günther Platter fest, als das Land Tirol den Vorsitz der EUSALP für das Jahr 2018 übernommen hatte. „Von Tirol über den Zentralalpenraum hinaus unter Nutzung des europäischen Systems auf den ganzen Alpenraum zu blicken und zusammenzuarbeiten, war die Idee. Es ist ein Raum voll großer Möglichkeiten und es ist sagenhaft, was da möglich geworden ist“, gerät Staudigl ins Schwärmen.

Südtirol
Tirol wurde zu einem Initiator für die so genannte EUSALP – die EU-Strategie für die Alpine Region.

Europa vor Ort

Nationale Grenzen haben – vor allem im Binnenland – selten bis nie natürliche Gründe, weswegen die Überwindung dieser funktionalen Einengung große Chancen eröffnet. Als Anfang der 1990er Jahre für den EU-Beitritt geworben wurde, war das „Europa der Regionen“ noch ein Kampfbegriff gewesen, galt die EU doch als regionenblind und ausschließlich auf die Mitgliedsstaaten konzentriert. „Diese Politik ist Mitte der 1990er Jahre aufgebrochen worden. Der Ausschuss der Regionen wurde eingeführt und die EU erkannte zunehmend, dass die Regionen kein Hemmfaktor für den europäischen Integrationsprozess, sondern dafür nützlich sind“, erklärt Staudigl den Hintergrund dafür, dass die Arbeit in und mit den Regionen derart Wurzeln geschlagen hat, und hält fest: „Die Regionen sind wichtig, um der EU zu kommunizieren, wie Regelungen bei den Menschen ankommen. Von diesem Feedback profitiert die EU. Europa muss vor Ort passieren.“

Dass die EU nicht ausschließlich Glück und Segen bringt und manche Regelungen vor Ort schwer zu verstehen oder einzuhalten sind, ist die andere Seite der bewegten Medaille. So hat beispielsweise das Regelwerk zum Wettbewerbs- und Vergaberecht eine Komplexität erreicht, mit der das an sich nachvollziehbare Ziel der Öffnung der Märkte und der Verbilligung öffentlicher Aufträge nur schwer erreicht wird. „Hier Druck herauszunehmen, Aspekte der Regionalität einzubeziehen und Abstriche zu machen, wäre sehr wichtig“, so Staudigl.

In der Verkehrs- bzw. Transitpolitik wird die Frustrationstoleranz des Landes massiv strapaziert und nur wegen des zwischenzeitlich gewachsenen Bewusstseins gegenüber den Problemlagen fährt kein Lkw weniger über den Brenner. Der juristische Schlüssel ist die Wegekostenrichtlinie, also die Mauthöhe, die allerspätestens zur Eröffnung des BBT so gestaltet sein muss, dass Kostenwahrheit hergestellt ist und der Tunnel zu einer Reduktion des Transits führt. Auch im Zusammenhang mit der Natura 2000 stellt sich längst die Frage, ob eine derart detaillierte Regelung notwendig ist. „In der Beitrittsdiskussion stand die Angst im Raum, dass nur noch die Wirtschaft zählen und die Natur zugrunde gehen wird. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das EU-Umweltrecht in Österreich beziehungsweise in Tirol Probleme macht, weil es zu streng, und nicht, weil es zu lax gehandhabt wird“, so Staudigl.

Ähnlich verhält es sich mit der heimischen Landwirtschaft, deren Untergang vor dem Beitritt prophezeit wurde. Heute ist klar, dass die Tiroler Berglandwirtschaft in und mit der EU sehr gut leben kann. Es gibt viele harte und es gibt viele weiche Fakten, die Tirols Geschichte in bzw. mit der EU prägen. Es hat sich schon viel bewegt und es muss sich weiter bewegen. Die Frage am 26. Mai 2019 ist – wohin? (Von Alexander Keller)

Fakten
Die EU in Tirol
Mit der Abteilung Südtirol, Europaregion und Außenbeziehungen hat sich das Land Tirol früher und intensiver als andere Länder oder Regionen der Europäischen Union sowohl organisatorisch als auch inhaltlich auf den Schwerpunkt europäische Integration eingestellt. Der Abteilung kommt eine Schlüsselstellung in allen Europaaspekten zu, die aufgrund der intensiven Verflechtung mit allen Politik- und Verwaltungsbereichen an zahlreichen Dienststellen des Landes sowie den europäischen Institutionen anknüpft.

Weitere Infos unter: www.tirol.gv.at/tirol-europa

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