Soll man Kindern "gute Vorbilder" vorhalten?
LIeber nicht, sagt der Psychologe Philip Streit. Denn das kann negative Folgen haben.
Ein Beispiel: Ein Bub ist total unordentlich und lässt alles liegen und stehen. Ganz im Gegenteil zu seiner jüngeren Schwester. Die ist in dieser Hinsicht ein echtes Vorbild. Soll man dem Burschen dieses Vorbild vorhalten?
Kinder lernen bis zum 7. Lebensjahr fast ausschließlich durch Nachahmung. Das heißt: Sie machen Personen nach, mit denen sie sich identifizieren. Das hat die Natur so vorgesehen.
Wer kann nun Vorbild sein?
Vorbilder sind nahe Bezugspersonen, in erster Linie die Eltern, aber auch Großeltern, Verwandte und Geschwister. Es sind Menschen, zu denen das Kind eine gefes-
tigte Beziehung hat oder aufbaut. Für größere Kinder können auch Kindergartenpädagoginnen und Lehrer Vorbilder sein. Auch in der Pubertät ist die Vorbildwirkung wichtig: Neue Vorbilder kommen hinzu, in Form von Idolen und Freunden. Kinder ahmen aber auch weniger Nützliches nach: Wenn ein Elternteil alles herum liegen lässt, wird das Kind dies nachmachen.
Auf ein Vorbild zu achten ist so etwas Ähnliches wie ein „Aufwärts-Vergleich“: Man schaut, was es noch zu entdecken oder erlernen gibt. Einem Kind ein Vorbild vorzuhalten – nach dem Motto „Schau, wie das deine Schwester macht!“ funktioniert aber kaum. Warum? Ganz einfach! Ein Vorbild vorgehalten zu bekommen inkludiert immer einen abwertenden Vergleich: „Sieh her, wie schlecht du das machst!“
Eine Frage des Respekts
Ein Vorbild vorzuhalten bedeutet auch, dass Eltern sich aus der Verantwortung stehlen, selbst ein gutes Vorbild zu sein. Sie drücken sich vor einer verantwortungsbewussten Erziehungshaltung.
Die negativen Folgen: Wer ein Vorbild vorgehalten bekommt, reagiert je nach Temperament verzweifelt oder aggressiv – aber in den seltensten Fällen in gewünschter Weise, weil dies keine konstruktive Form der Beschämung ist.
Zugleich verlieren Kinder dann schnell den Respekt vor ihren Eltern und beginnen, auch ihre Eltern abzuwerten. Denn die Eltern präsentieren sich als schwach und wenig souverän. Also suchen sich Kinder andere Vorbilder.
Tipps für Eltern
Was können Sie tun, um mit Ihrer Vorbildfunktion gut umzugehen?
1) Stehen Sie zu Ihrem Job als Mutter oder Vater, zu Ihrer Verantwortung ein Vorbild zu sein und dies auch zu leben.
2) Dies gelingt am besten, wenn Sie mit sich selbst im Reinen sind, sich selbst mögen. Selbstliebe bedeutet, das Sie sich akzeptieren. Dies ist die beste Voraussetzung für eine gute Vorbildwirkung.
3) Verkörpern und leben Sie dann jene Werte, die Ihnen wichtig sind.
4) Beachten Sie, dass ein Vorbild zu sein immer ein Prozess ist. In der Pubertät etwa verändert sich Körperlichkeit und auch Sie sind in einem Alter, in dem sich Ihr Körper verändert. Leben Sie vor, wie Sie damit umgehen und führen einen konstruktiven Dialog.
5) Beziehen Sie andere mit ein: Großeltern, Freunde. Vernetzen Sie sich mit diesen Personen transparent zu Vorbildern.
6) Reflektieren Sie mit Vertrauenspersonen Ihre Vorbildfunktion.
7) Tauchen Sie in einen konstruktiven Prozess ein: Seien Sie stolz auf Ihre Kinder, weil sie Sie zum Vorbild genommen haben aber dennoch etwas Eigenständiges daraus gemacht haben.
DER EXPERTE
Dr. Philip Streit ist Psychologe, Psychotherapeut und Lebens- und Sozialberater.
Seit 20 Jahren leitet er das „Institut für Kind, Jugend und Familie“ in Graz. www.ikjf.at
Jede Woche beantwortet er eine Frage rund um Erziehung und Beziehung.
Ihre Anregungen können Sie an die Redaktion schicken: elisabeth.poetler@woche.at
Kommentare
Du möchtest kommentieren?
Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.