Arbeitserziehungslager Reichenau
Der Ort ist eines angemessenen Gedenkens an die Opfer nicht würdig.

Diese Tafel erinnert seit 1972 an das Arbeitserziehungslager in der Reichenau. Jetzt scheint eine neue Gedenkstätte Realität zu werden. | Foto: BezirksBlätter
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  • Diese Tafel erinnert seit 1972 an das Arbeitserziehungslager in der Reichenau. Jetzt scheint eine neue Gedenkstätte Realität zu werden.
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1972 wurde ein Gedenkstein in der Nähe des ehemaligen Standorts des „Arbeitserziehungslagers Reichenau“ als Mahnmal errichtet. 51 Jahre später gab es am Holocaust Gedenktag erstmals eine gemeinsame Kranzniederlegung. Mit der Vorlage des Berichtes der Expertinnen- und Expertenkommission rückt auch eine neue Gedenkstätte in den Mittelpunkt.

INNSBRUCK. Im Laufe der vergangenen Jahre wurden die Vorfälle und Geschehnisse im Arbeitserziehungslager Reichenau auf verschiedenen Ebenen aufgearbeitet. Das Lager Reichenau in Innsbruck-Reichenau wurde im August 1941 im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Berlin in Zusammenarbeit mit dem Landesarbeitsamt Innsbruck errichtet. Bis zum Sommer 1942 diente es seinem ursprünglichen Zweck als Auffanglager für italienische Zivilarbeiter und anschließend zum Arbeitserziehungslager umfunktioniert. Es unterstand in dieser Form direkt dem jeweiligen Leiter der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Innsbruck und war dazu bestimmt,

„die im Gau Tirol/Vorarlberg wegen Arbeitsvertragsbruchs, Blaumacherei oder Dienstpflichtverweigerung auffallenden männlichen Personen aufzunehmen und durch strikte Disziplin und schwere Arbeit zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen.“

Gegen Ende des Krieges wurden zunehmend auch politische Häftlinge der Gestapo Innsbruck in der Reichenau gefangengehalten. Ab 1943 diente das Lager auch als Durchgangslager für Juden aus Norditalien auf dem Weg ihrer Deportation. Insgesamt waren im Lager Reichenau rund 8500 Personen inhaftiert. Im April 1945 waren hier die 141 Sonder- und Sippenhäftlinge, die kurz darauf in Südtirol befreit wurden, für ein paar Tage untergebracht. Nach dem Krieg diente das Lager als Unterkunft für sogenannte Displaced Persons und später für Menschen ohne oder mit niedrigem Einkommen, bevor es in den siebziger Jahren abgerissen wurde.

Blick auf die Lager von Süden 1945/47 ©Stadtarchiv Innsbruck
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Gedenkstein

Seit 1972 erinnert am ehemaligen Grundstück ein Gedenkstein an die Opfer des Lagers Reichenau. Er trägt die Inschrift:


Hier stand in den Jahren 1941–1945 das Gestapo-Auffanglager Reichenau, in dem Patrioten aus allen von Nationalsozialismus besetzten Ländern inhaftiert und gefoltert wurden. Viele von ihnen fanden hier den Tod.

Das Dossier zum Thema "Arbeitserziehungslager Reichenau" der BezirksBlätter Innsbruck

Zeitgemäßes Erinnern

Der Gemeinderat der Stadt Innsbruck hat 2022 beschlossen, die Geschichte des „Arbeitserziehungslagers Reichenau“ von einer Expertinnen- und Expertenkommission aufarbeiten zu lassen und sich mit neuen und vor allem würdigen Gedenkmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Der Abschlussbericht der Kommission liegt nun vor.

Auf Basis des Berichts soll mit Unterstützung des Landes Tirol eine neue Gedenkstätte entstehen, ein entsprechender Antrag wurde vom Stadtsenat an den Gemeinderat weitergeleitet.

Kulturstadträtin Uschi Schwarzl und Gemeinderätin Irene Heisz, Vorsitzende des Kulturausschusses und Leiterin der Kommission, sprechen sich für zeitgemäße Erinnerungskultur und eine neue Gedenkstätte aus.

 Opfern angemessen

„Die Auseinandersetzung mit dem Unrecht der NS-Diktatur und ein würdevolles Gedenken an alle, die darunter gelitten haben, muss jetzt wie auch künftig zu den Grundpfeilern unserer Gesellschaft gehören. Es ist längst überfällig, dass wir auch in Innsbruck eine öffentliche, zeitgemäße und vor allem den Opfern angemessene Gedenkstätte für die Zukunft schaffen. Wir sind alle dazu verpflichtet, niemals zu vergessen – und es niemals wieder zuzulassen. Daran müssen wir auch in Zukunft erinnern“, betont StR Schwarzl.

Würdevolles Gedenken

„Der Bericht der Expertinnen- und Expertenkommission zum Arbeitserziehungslager Reichenau zeigt klar, dass das bisherige Mahnmal für die Zeit, in der es errichtet wurde, zwar eine historische Errungenschaft war, dem heutigen Stand der Forschung und dem sich verändernden Erinnerungsbewusstsein aber nicht mehr gerecht wird. Die Kommission konnte hier einige Forschungslücken schließen: So wissen wir nun die Namen und die genaue Zahl derer, die hier ermordet wurden. Auf Basis des Berichts sprechen wir uns deshalb für eine neue, würdevolle Gedenkstätte für alle Opfer aus“, erläutert GR Heisz.

Erstes gemeinsames Gedenken am Holocaust Gedenktag 2023: Bürgermeister Georg Willi (3. v. l.) Präsident Günter Lieder (m.) Landtagsabgeordnete Elisabeth Fleischanderl (2.v.r), Landesobmann Clemens Hornich (2.v.r), Landtagsabgeordneter und Gemeinderat Christoph Appler (r.) und Gemeinderat Benjamin Plach (l.) | Foto: IKM
  • Erstes gemeinsames Gedenken am Holocaust Gedenktag 2023: Bürgermeister Georg Willi (3. v. l.) Präsident Günter Lieder (m.) Landtagsabgeordnete Elisabeth Fleischanderl (2.v.r), Landesobmann Clemens Hornich (2.v.r), Landtagsabgeordneter und Gemeinderat Christoph Appler (r.) und Gemeinderat Benjamin Plach (l.)
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Vergangenes Erinnern

Dem Bericht der Expertinnen- und Expertenkommission zufolge wurden im „Arbeitserziehungslager Reichenau“ mindestens 112 Menschen ermordet, deren Namen und biografische Details erstmals gesammelt vorliegen. Bisher diente ein im Jahr 1972 errichteter Gedenkstein in der Nähe des ehemaligen Standorts des „Arbeitserziehungslagers Reichenau“ als Mahnmal. Seither finden dort regelmäßig Gedenkfeiern statt, zuletzt eine gemeinsame Kranzniederlegung der Stadt Innsbruck mit Vertreterinnen und Vertretern von Opferorganisationen und der Isrealitischen Kultusgemeinde am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

Die Kommission

Die Expertinnen- und Expertenkommission, bestehend aus dem Tiroler Landesarchivdirektor Christoph Haidacher, Gabriele Hammermann (Leiterin der Gedenkstätte Dachau), Lukas Morscher (Leiter des Innsbrucker Stadtarchivs), Gemeinderätin Theresa Ringler, sowie den ZeithistorikerInnen Sabine Pitscheider, Dirk Rupnow und Horst Schreiber unter dem Vorsitz von Irene Heisz, hält hierzu in ihrem Abschlussbericht fest:

„Das Denkmal neben dem Eingang des städtischen Recyclinghofes, das seit 1972 dort steht, ist als historische Errungenschaft und Setzung zu würdigen, entspricht jedoch in keiner Weise mehr den Anforderungen an eine zeitgemäße Erinnerungskultur. Die Inschrift ist inhaltlich nicht korrekt, die Ästhetik des Denkmals überholt und der Standort denkbar ungeeignet für die Abhaltung von Veranstaltungen, Exkursionen von Schulklassen u.ä. Vor allem aber ist der aktuelle Ort eines angemessenen Gedenkens an die Opfer und deren Leid nicht würdig.“

Gefangene des NS-Lagers Reichenau unter Bewachung bei der Bombenentschärfung. | Foto: Archiv Walter Kreuz
  • Gefangene des NS-Lagers Reichenau unter Bewachung bei der Bombenentschärfung.
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Zukünftiges Gedenken

Auf Basis des Forschungsberichts der Kommission soll eine neue, zeitgemäße und den Opfern würdige Gedenkstätte entstehen, im kommenden Gemeinderat wird der entsprechende Antrag vorgelegt. Das Land Tirol hat bereits im vergangenen Jahr beschlossen, sich an der Umsetzung der neuen Gedenkstätte zu beteiligen. Die Kommission empfiehlt hier eine zentrale Gedenkstätte an der innseitig gelegenen städtischen Grünfläche in der Nähe des bestehenden Denkmals. Das neue Mahnmal soll alle Namen der Toten enthalten und als hybride Dokumentations-, Lern- und Gedenkstätte dienen, die sowohl mit analogen als auch digitalen Mitteln der Verpflichtung lebendiger und zeitgemäßer Gedenkkultur nachkommen kann. Wetterunabhängige Aufenthaltsmöglichkeiten, beispielsweise für Schulklassen, sollen ebenfalls Teil des neuen Gedenkortes sein. Für die Planung und Umsetzung der anvisierten neuen Gedenkstätte empfiehlt die Kommission die Ausrichtung eines Wettbewerbs. Auch eine mögliche Integration des bestehenden Denkmals kann laut Expertinnen- und Expertenbericht evaluiert werden, die endgültige Form der Umsetzung der neuen Gedenkstätte ist abhängig vom Wettbewerbsergebnis.

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