Hier finden Frauen Zuflucht – ein umfassendes Interview mit Frauenhaus Tirol-Leiterin Gabriele Plattner

Im Frauenhaus Tirol finden Frauen Schutz und Zuflucht, um ihr Leben neu zu sortieren können.  | Foto: Pixabay
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TIROL. Gewalt gegen Frauen ist ein ernstzunehmendes Problem, dass uns alle betrifft. Zum Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen hat die Bezirksblatt-Redaktion Frau Gabriele Platter (Leiterin des Frauenhaus Tirol) zum Interview gebeten. 

BEZIRKSBLÄTTER: Wieviel Frauen wohnen derzeit im Frauenhaus? 
Derzeit wohnen bei uns 15 Frauen und 15 Kinder. Wir sind also, bis auf das Notbett, voll belegt. Das Frauenhaus Tirol verzeichnete im Jahr 2019 insgesamt 11.195 Nächtigungen im Frauenhaus und den Übergangswohnungen des Frauenhauses. 86 Frauen und 61 Kinder fanden Schutz, Unterkunft und Beratung.

BEZIRKSBLÄTTER: Zu den Kindern der Frauen: Gehen schulpflichtige Kinder weiter zur gewohnten Schule?
Für die Kinder stehen eigene Mitarbeiterinnen zur Verfügung, die sie unterstützen und begleiten. Die Kinder im Frauenhaus sind in den meisten Fällen direkt betroffen von der Gewalt. Das heißt auch sie haben körperliche, psychische oder sexualisierte Gewalt erlebt. Zusätzlich wurden sie zu Zeugen und Zeuginnen der Gewalthandlungen an ihrer Mutter. Die Kinder müssen aus Schutzgründen oft den Kindergarten oder die Schule wechseln. Das ist kein einfacher Schritt für sie. Meist überwiegt aber die Freude darüber, im Frauenhaus in Sicherheit zu sein und wieder in Sicherheit und Ruhe spielen zu können.

BEZIRKSBLÄTTER: Wie schaut der Aufnahmeprozess im Frauenhaus aus?
Die Wege der Frauen in das Frauenhaus sind sehr unterschiedlich. Oft rufen sie uns an und schildern uns die Situation, manchmal nehmen sie Kontakt auf und nützen unsere Beratungsstelle, um sich zu informieren, welche Möglichkeiten sie haben, oft werden sie auch von der Polizei, von der Klinik, von der Kinder und Jugendhilfe oder von anderen Beratungseinrichtungen an uns vermittelt. Oft bauen Bekannte und Verwandte Brücken zu uns. Einmal im Frauenhaus angekommen gibt es ein ausführliches Aufnahmegespräch, auch um die Gefährdungslage einschätzen zu können. Jede betroffene Frau bekommt eine Betreuerin, die sie dann Schritt für Schritt in unterschiedlicher Weise unterstützt.

BEZIRKSBLÄTTER: Was sind die Hintergründe der Aufnahme?
Frauen erleben unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Bildungsstand, ihrer Religion – Gewalt. In Österreich ist jede 3. Frau von sexueller Belästigung betroffen. Jede 5. Frau wird zumindest einmal im Leben Opfer von körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt und jede siebte Frau in Österreich ist von Stalking betroffen. Seit 1997 gibt es das Gewaltschutzgesetz in Österreich und damit auch die Möglichkeit, ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegenüber dem Gefährder auszusprechen. Seit der Einführung des Gewaltschutzgesetzes werden Frauenhäuser häufig von Personen mit Mehrfachproblematiken, einem hohen Gefährdungsrisiko oder einem erhöhtem Betreuungsbedarf genützt. Das sind oft Frauen mit wenig Ressourcen.

BEZIRKSBLÄTTER: Wie finanziert sich das Frauenhaus, wie schaut es mit dem Bedarf aus, ist der Platz ausreichend?
Das Frauenhaus wird über Subventionen von Land, Stadt und Bund finanziert. Wir haben seit einem Jahr doppelt so viel Plätze zur Verfügung und waren von Anfang an voll ausgelastet. Obwohl wir also deutlich mehr Plätze haben ist ein weiterer Ausbau nötig. Gut wäre weitere Frauenhäuser in den Bezirken zu eröffnen. Diesbezüglich planen wir gerade die Errichtung eines Frauenhauses im Tiroler Oberland. Es ist schön, dass es diesbezüglich von Seiten der Politik ein Ok dafür gibt.

BEZIRKSBLÄTTER: Wie schaut der Alltag in einem Frauenhaus aus?

Neben unserem Beratungsangebot ist der Alltag im Frauenhaus für jede einzelne Person sehr unterschiedlich. Manche Frauen gehen ihrer Arbeit nach, manche suchen Arbeit, manche fühlen sich vorerst nur im Frauenhaus sicher und verbringen viel Zeit im Haus. Und dann muss man sich den Alltag im Frauenhaus auch vorstellen wie das Leben in einer großen Wohngemeinschaft mit allen Höhen und Tiefen, die zu diesem Alltag dazugehören.

BEZIRKSBLÄTTER: Was passiert nach dem Aufenthalt?
Auch die Wege der Frauen nach dem Frauenhaus sind sehr unterschiedlich. Viele Frauen versuchen sich in der Zeit im Frauenhaus eine neue Existenz aufzubauen. Dazu gehört beispielsweise die Suche nach einer Arbeit und einer Wohnung. Das Frauenhaus Tirol bietet aber auch Nachbetreuung an oder die Möglichkeit im Bereich des „Betreuten Wohnens“ in einer unserer 7 Übergangswohnungen zu leben.

BEZIRKSBLÄTTER: Viele haben es schwer, über dieses Thema zu reden - wie nehmen Sozialarbeiterinnen den Kontakt zu ihnen auf?
Sehr wichtig ist es den Frauen zu vermitteln, dass Gewalt ein Unrecht ist, dass sie nicht schuld daran sind, dass wir ihnen glauben und dass es Auswege aus der Gewaltdynamik gibt. Oft hilft es den Frauen auch darüber zu reden, wenn sie merken, dass sie nicht alleine sind.

BEZIRKSBLÄTTER: Warum können sich Frauen so schwer von gewalttätigen Partnern lösen?
Es gibt viel Gründe, warum es für Frauen schwer ist, sich vom gewalttätigen Partner zu lösen. Sehr oft geht es um verschiedene Abhängigkeitsstrukturen. Abhängigkeitsstrukturen, die in der Gesellschaft verankert sind. Hier gilt der Grundsatz, dass je größer die Abhängigkeiten in einer Beziehungskonstellation sind, umso höher ist auch das Risiko, dass diese Abhängigkeiten gewaltvoll missbraucht werden. In Familien, in denen Partner nicht gleichberechtigt sind, in denen es patriarchale Rollenmuster gibt, kommt es viel häufiger zu Gewalt. Ohne Gerechtigkeit, ohne Geschlechtergerechtigkeit gibt es keine Gewaltfreiheit.

BEZIRKSBLÄTTER: Wie verarbeiten Frauen das Erlebte, was wird ihnen auf den weiteren Weg mitgegeben?
Das Verarbeiten von Erlebten dauert in den meisten Fällen viel länger, als die Frauen im Frauenhaus sind. Was wir aber tun können ist Frauen dabei zu unterstützen, ihren Selbstwert wieder aufzubauen, zur Ruhe zu kommen, die Fäden in die Hand zu nehmen, Ressourcen zu nützen und zu erweitern, therapeutische Unterstützungen anzubieten und ihnen vor allem auch zu vermitteln, dass sie nicht „nur“ Opfer sind, sondern auch sehr starke und mutige Frauen!

BEZIRKSBLÄTTER: Wie gehen die Sozialarbeiterinnen damit um, wenn sie zutiefst davon überzeugt sind, dass es zu einer Anzeige kommen muss, sich die Frauen aber dagegen entschieden?
Es ist ein Grundsatz unserer Arbeit ist, dass die Frauen selbst entscheiden, welche Schritte sie gehen wollen und v.a. auch wann sie welche Schritte gehen wollen. Unsere Aufgabe ist es, über die Möglichkeiten und Gefahren bestimmter Schritte zu informieren und unterstützend da zu sein.

BEZIRKSBLÄTTER: Gibt es häusliche Gewalt auch bei Männern?
Ja, es gibt dazu mehrere Studien. Die Anzahl der von Gewalt betroffenen Männer ist aber deutlich geringer. Dies belegen auch sämtliche Studien und Statistiken wie beispielsweise auch die Statistiken der polizeilichen Wegweisungen. 90% der Täter sind männlich. Bei sexualisierter Gewalt sind die Täter fast ausschließlich Männern. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch auf von Gewalt betroffene Männer schauen sollten. Von Gewalt betroffene Männer brauchen Hilfe und Unterstützung.

BEZIRKSBLÄTTER: Wie sieht die Situation seit Corona aus?
Mehr Hilferufe und polizeiliches Einschreiten gab es seit Corona schon bisher. Also im ersten Lockdown. So meldeten sich bei der Helpline unter der Nummer 0800 222 555 seit Lockdownbeginn im März um 38 Prozent mehr Frauen als davor. Und die Zahl von Betretungs- und Annäherungsverboten erhöhte sich von Februar bis August um mehr als 20 Prozent. (Das hat aber auch andere Gründe, weil sich die Zählweise verändert hat). Dennoch ist mit Zahlenmaterial vorsichtig umzugehen und für eine endgültige Analyse ist es noch zu früh. Dazu bräuchte es in Österreich auch noch eine Studie zu Covid-19 und häuslicher Gewalt, wie es sie beispielsweise in Deutschland bereits gibt. Auffallend bei der Studie in Deutschland ist, dass sich nur ein sehr geringer Teil der Betroffenen tatsächlich an Hilfseinrichtungen gewandt hat – auch während des ersten Lockdowns. Das verweist uns darauf, dass die Dunkelziffer wieder einmal immens hoch sein muss.

Dann kam Corona
Gerade hatten wir im Frauenhaus Tirol die erste Phase im neuen Haus hinter uns – etwas Zeit zum Durchatmen, zumindest theoretisch – dann kam Corona. Es war kein Frühling, Sommer, Herbst wie jeder andere. 2020 ist vieles anders. Auch im Frauenhaus Tirol. Die Mitarbeiterinnen und ich sind seit März bemüht, die Strukturen und Angebote des Frauenhauses bestmöglich aufrechtzuerhalten und alles erdenklich Mögliche zu tun, um dieses Virus nicht ins Frauenhaus zu lassen.
Es ist eine große Herausforderung für uns alle; für die Mitarbeiterinnen, die Bewohnerinnen und für mich als Leiterin. Eine Herausforderung, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Ich hoffe sehr, dass wir alle aus dieser Zeit lernen können. Die Chance besteht. Die Chance nämlich, die Gesellschaft in eine Richtung zu verändern, in der Solidarität, Gerechtigkeit und Würde wieder deutlich mehr Platz einnehmen. Wir sitzen nämlich eben nicht alle „im selben Boot“, auch wenn das gerade in Krisenzeiten regelmäßig behauptet wird.
Wann haben wir zuletzt so deutlich gespürt, wie groß diese Unterschiede sind, ob jemand beispielsweise aufgrund der Covid-19 Maßnahmen in einer viel zu kleinen, dunklen Wohnung ohne Außenraum mit Partner und mehreren Kindern verbringen musste, oder ob jemand eine großzügige Vierzimmerwohnung mit eigenem Garten in Anspruch nehmen oder sein/ihr Eigen nennen konnte. Quarantäne war eben nicht gleich Quarantäne. Ich denke „Corona“ lehrte uns mehr denn je, dass die Frage der Verteilungsgerechtigkeit noch lange keine geklärte ist.

BEZIRKSBLÄTTER: Jede fünfte Frau ab dem 15. Lebensjahr ist einmal im Leben von Gewalt betroffen - was kann die Gesellschaft tun um diese Zahl zu reduzieren?
Dieses Virus lehrt uns ein Innehalten. In diesem Innehalten liegt die Möglichkeit, sich neu zu überlegen, in welche Richtung die Gesellschaft gehen soll und will. Und diese Gesellschaft muss, soviel ist klar, unbedingt gerechter werden. Die Frage der Gerechtigkeit: eine grundsätzliche Frage – auch für die Prävalenz geschlechtsspezifischer Gewalt, denn ohne diese Geschlechter-Gerechtigkeit, gibt es keine Gewaltfreiheit!

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