Zeitgeschichte
Innsbruck erinnert sich an den November 1938

"In der Nacht vom 9. auf 10. November brach eine entmenschte Horde, zirka 10-12 Mann, in unsere Wohnung, Anichstraße 5, 1. Stock, stürmte unser Schlafzimmer, schlug meinen Mann und mich nieder." | Foto: Stadtarchiv/Stadtmuseum
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  • "In der Nacht vom 9. auf 10. November brach eine entmenschte Horde, zirka 10-12 Mann, in unsere Wohnung, Anichstraße 5, 1. Stock, stürmte unser Schlafzimmer, schlug meinen Mann und mich nieder."
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INNSBRUCK. Am 9. November wird um 19 Uhr am Landestheatervorplatz die Kunstinstallation „Mobiles Bethaus“ von Oskar Stocker und Luis Rivera eröffnet. Im Rahmen des Programms gibt es ein Kaddisch-Gebet für die Opfer der Pogromnacht 1938. Am jüdischen Friedhof im städtischen Westfreidhof findet ab 17 Uhr 30 das Pogromgedenken statt. Innsbruck erinnert sich und steht bei der Gedenkkultur immer noch vor großen Herausforderungen. Ein BezirksBlätter Innsbruck-Blick auf die Geschehnisse in der Pogromnacht und die Bedeutung der Anichstraße.

Pogromnacht

"Am 7. November 1938 verübte ein 17jähriger Jude, Herschl Grynspan, in Paris ein Attentat auf den deutschen Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath. Der junge Mann wollte mit dieser Tat auf das Schicksal seiner Eltern und weiterer 17.000 polnischstämmigen Jüdinnen und Juden hinweisen, die aus Deutschland ausgewiesen worden waren." Horst Schreiber hat die Nacht detailiert aufgearbeitet, Informationen u.a. unter diesem Link.

Pogromgedenken

Programm des Pogromgedenken 2021.

Tiroler Befehl

Gauleiter Franz Hofer erteilte nach seiner Rückkehr von den Parteifeiern in München am 10. November 1938 um ein Uhr früh den lokalen Führern der SS, SA, SIPO, Gestapo und des SD den Auftrag, dass sich „die kochende Volksseele gegen die Juden” erheben müsse, weil der deutsche Diplomat Ernst vom Rath in Paris einem Attentat eines 17jährigen Juden erlegen war. SS-Oberführer Hanns Feil gab unter Beisein von SS-Standartenführer Erwin Fleiss entsprechend den Anweisungen Hofers ausgesuchten SS-Führern den Befehl, die in der Gänsbacherstraße 4 und 5 wohnenden männlichen Juden (Karl und Wilhelm Bauer, Richard Graubart) „auf möglichst geräuschlose Art umzulegen” und weiters Ing. Richard Berger „aus dem Wege zu räumen”. Der Gebrauch von Schusswaffen war ausdrücklich verboten. Arisierungskommissar Duxneuner hatte die Liste der zu überfallenden Jüdinnen und Juden vorbereitet. Keine jüdische Familie sollte ungeschoren davonkommen. Die Rollkommandos bestanden aus verlässlichen und ideologisch überzeugten SS-Männern. Zwei Drittel von ihnen waren „illegale Nationalsozialisten”, die sich bereits während der Verbotszeit von 1933 bis 1938 für die Partei eingesetzt hatten.

Der Spirituosenhandel von Alois Hermann in der Leopoldstraße wurde geplündert und zerstört.  | Foto: Stadtarchiv/Stadtmuseum
  • Der Spirituosenhandel von Alois Hermann in der Leopoldstraße wurde geplündert und zerstört.
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Auswahl der Opfer

Die Opfer wurden aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position innerhalb und außerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde ausgesucht: Richard Berger war Mitgründer der Zionistischen Ortsgruppe Innsbruck und Vorsitzender der Kultusgemeinde, Richard Graubart Miteigentümer des Schuhhauses Graubart in der Museumstraße, Wilhelm Bauer führte mit seinem Bruder Stefan die Manufakturwarenhandlung in der Brixnerstraße – Herzog-Friedrich-Straße, Josef Adler war Bundesbahn-Oberbaurat und führender Exponent der zionistischen Bewegung und des Bundes Jüdischer Frontsoldaten in Innsbruck sowie Mitglied des Kultusrates. Die Überfälle der Rollkommandos erfolgten schließlich kurz vor drei Uhr früh.

Der Mord an Wilhelm Bauer

SS-Hauptsturmführer Hans Aichinger, der Führer eines aus mindestens neun SS-Männern bestehenden Mordkommandos, eilte mit seinen auf ausdrücklichem Befehl in Zivilkleidung angetretenen Leuten in die Gänsbacherstraße 5, wo Edith und Wilhelm Bauer im Parterre, Richard und Margarethe Graubart mit ihrer kleinen Tochter Vera im ersten Stock wohnten. Die SS-Männer stiegen über den Zaun in den Garten, läuteten und schrien „Gestapo. Sofort aufmachen, Hausdurchsuchung!”. Dem Hausmeister wurde geheißen, sich schleunigst wieder in seine Wohnung zu begeben. Aichinger teilte die Mordgruppe, woraufhin der aus dem Schlaf gerissene Wilhelm Bauer, der nur notdürftig bekleidet öffnete, sofort in den Gang gezerrt wurde. Daraufhin traktierten ihn die SS-Männer mit Pistolenhieben und stachen auf ihn ein, während einer der Täter, Robert Huttig, Edith Bauer im Schlafzimmer bei verschlossener Türe in Schach hielt. Als sie ihren Mann rufen hörte, dass er gestochen worden sei, entwand sie sich dem SS-Schergen. Im Zimmer bot sich ihr ein Bild des Grauens. Wilhelm Bauer lag blutüberströmt am Boden. Noch bei Bewusstsein röchelte er: „Einen Arzt”. Als Edith zum Telefon eilte, machte der SS-Mann Anstalten, sie mit dem Revolver zu schlagen. Mit letzter Kraft beschwor Wilhelm Bauer ihn, von seiner Frau abzulassen: „Sie wollen doch einer Frau nichts tun.” Huttig begnügte sich schließlich damit, das Telefonkabel aus der Wand zu reißen und sich mit einem Sprung aus dem Fenster davonzumachen. Die Eingangstüre wurde von den flüchtenden Tätern noch von außen zugesperrt.

Der Mord an Richard Graubart

In der Zwischenzeit war der andere Teil des Mordkommandos in den ersten Stock geeilt, wo Richard Graubart durch einen Dolchstoß von hinten, der unterhalb des Schulterblattes eine drei bis vier Zentimeter breite klaffende Wunde hinterließ, meuchlings ermordet wurde. Als Margarethe Graubart von Edith Bauer aus dem Zimmer, in das die SS-Männer sie gesperrt hatten, befreit wurde, fand sie ihren Mann am Boden in einer Blutlache liegend nur mehr tot auf. Nun konnte vom unversehrt gebliebenen Telefon der Wohnung Graubart der Hausarzt gerufen werden, der aber erst nach einer Stunde in Begleitung von Rettungsmännern eintraf. Wilhelm Bauer, der noch Lebenszeichen von sich gab, wurde zwar in die Klinik transportiert, er verstarb jedoch noch während der Fahrt.

Der Mord an Richard Berger

Ing. Richard Berger wurde von drei SS-Männern aus seiner Wohnung in der Anichstraße 13 geholt und mit dem Auto stadtauswärts Richtung Kranebitten gebracht, wo sie ihn am Innufer brutal ermordeten und seine Leiche anschließend in den Fluß warfen. Josef Adler wurde in seiner Wohnung überfallen und durch Schläge auf den Kopf schwerstens verletzt, sodass er zwei Monate später verstarb. Er litt bereits vorher an einer Gehirnerkrankung.

Zerstörung der Synagoge

Die Morde bildeten zwar den unrühmlichen Höhepunkt der Gewalttätigkeiten in Innsbruck, von den Ausschreitungen betroffen waren jedoch praktisch alle Jüdinnen und Juden. Die Rollkommandos drangen in die Wohnungen von mindestens 25 Familien ein, prügelten die Männer, ob alt oder jung, nieder und verschonten oft auch die Frauen nicht. Die Synagoge in der Sillgasse wurde verwüstet, zwei jüdische Geschäfte geplündert.

Herschel Grynszpan bei seiner Verhaftung, 7.11.1938 | Foto: http://data.onb.ac.at/rec/baa1253126
  • Herschel Grynszpan bei seiner Verhaftung, 7.11.1938
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Blutiger Schauplatz

Im Verhältnis zur Größe der jüdischen Gemeinde war Innsbruck einer der blutigsten Schauplätze der Pogromnacht. Im Gegensatz zu Wien nahm jedoch die Bevölkerung an den Ausschreitungen nicht teil. Vereinzelt wurde jüdischen Familien gegenüber die Ablehnung des barbarischen Vorgehens des NS-Regimes zum Ausdruck gebracht. Generell gab es allerdings kaum Kritik an der Blutnacht. Hilfeleistungen blieben jedenfalls ebenso aus wie ein öffentlicher Protest. Auch die katholische Kirche äußerte sich nicht. Am 11. November erschien in der „Neuesten Zeitung“ unter der Überschrift „Die Synagoge in Innsbruck wurde zertrümmert“ der folgende Artikel: "... Wie in allen deutschen Städten ist es auch in Innsbruck zu ähnlichen Zusammenstößen gekommen. Die berechtigte und verständliche Empörung hat auch in unserer Stadt zu Ausschreitungen geführt, die durch ihren elementaren Ausbruch der zutiefst erregten Bevölkerung Opfer gefordert hat. Unter anderem wurde die jüdische Synagoge in der Straße der Sudetendeutschen von einer Menschenmenge in der Nacht zum Donnerstag gestürmt und im Innern zerstört. Die Menge zertrümmerte in ihrer berechtigten Wut über die erbärmliche Blutbad die Einrichtungsgegenstände des jüdischen Hauses und machte in erregten Rufen gegen die Juden ihrer verständlichen Empörung Luft. Auch die wenigen noch nicht entjudeten Geschäfte fielen dieser Empörung zum Opfer. Zwei Innsbrucker Judengeschäfte wurden in den frühen Morgenstunden des Donnerstags gründlich zerstört. Um weitere Ausschreitungen zu verhindern, mußte eine Reihe von Juden in Schutzhaft genommen werden. .... Im übrigen ist durch die großen Fortschritte der Entjudungsaktion gerade Innsbruck und damit unser Gau in der glücklichen Lage, in allerkürzester Zeit von jeglicher jüdischen Belastung endgültig befreit zu werden."

Anichstraße 5

Die Freiheitliche Partei hat in der Anichstraße 5 ihr Bürgerbüro in der ehemaligen Wohnung der Familie Adler eingerichtet. Ing. Josef Adler war Oberbaurat der Bundebahnen, Mitglied des Israelitischen Kultusrates sowie Schwager des ermordeten Ing. Richard Berger. In der Reichspogromnacht war seine Frau Gertrude, geb. Weiss und sein Vater Itzig Adler in der Wohnung. Seine Frau schilderte den Überfall mit den Worten: "In der Nacht vom 9. auf 10. November brach eine entmenschte Horde, zirka 10-12 Mann, in unsere Wohnung, Anichstraße 5, 1. Stock, stürmte unser Schlafzimmer, schlug meinen Mann und mich nieder. Soviel ich mich erinnern kann, kamen sie in dieser Nacht noch ein zweites Mal. Mein Mann konnte sich nicht mehr rühren, er trug eine Lähmung davon und ich eine Gehirnerschütterung. Am nächsten Morgen veranlaßte unser Hausarzt, Dr. Köllensberger, die Überführung meines Mannes in die Nervenklinik. Ich blieb zu Hause, weil ich die Wohnung nicht allein zurücklassen wollte. Eine goldene Schaffhauser Herrenuhr ließen die Banditen auch mitgehen. Wir hatten einen Termin, bis wann wir Innsbruck verlassen mußten, und so verließen wir am 3. Jänner 1939 mit der Ambulanz Innsbruck und fuhren nach Wien, wo mein Mann 3 Wochen später starb.“

Beispiel Anichstraße

Die Anichstraße war Heimat zahlreiche Geschäftsleute und Bürger der jüdischen Gemeinde.
Bereits 1889 gab es im Wahlkampf ein antisemitisches Flugblatt. Die Gruppierung „Christlicher Mittelstand“ warb mit der Devise „Vorsicht vor Juden! Kauft nicht bei Juden.“, und führte das Geschäft von Jakob Picker, Hülsenfrüchte und Mehlhändler in der Anichstraße an.

In der Anichstraße 3 war ein Linoleum und Teppichgeschäft von A. Blum und G. Haas. Das Modehaus Julius Meisel war in der Anichstraße 3 beheimatet (als Nachbar von Blum und Haas). Am 2. Juni 1938 ging das Modehaus in arischen Besitz mit den neuen Inhabern Rabitsch und Richter über. Die Familie Meisel musste nach Wien übersiedeln und wurde 1942 nach Polen deponiert und ermordet.

In der Anichstraße 4 war das Wiener Kleiderhaus „Zum Matrosen“ von Leon Abrahmer beheimatet. Nach dem „Anschluss“ wurde das Geschäft von SS-Sturmbandführer Alois Schintlholzer, einer der Mörder in der Pogromnacht geführt und schließlich von Ludwig Schirmer arisiert. In der Anichstraße 4 war auch das Modehaus Stiassny & Schlesinger untergebracht. Wenige Wochen nach dem Anschluss wurde der Betrieb arisiert und hieß Alteneder & Co. Die Liegenschaft der Familie Stiassny, bestehend aus einem Gebäude mit acht Wohnungen und zwei Geschäftslokalen, wurde von der Gestapo am 24.6.1938 zugunsten des Landes Österreich beschlagnahmt.

Die Samuel Hacker OHG betrieb in der Anichstraße 6 ein Tuchhaus. Erich Hacker verweigerte im September 1938 die Unterschrift zum Verkauf des Betriebes und wurde von der Gestapo verhaftet und drei Monate eingesperrt. Nach der Arisierung des Betriebes musste Hacker zwangsweise nach Wien übersiedeln und konnte 1939 nach England emigrieren.

Die Familie Brüll hatte in der Anichstraße 7 ein Möbelhaus und Möbelfabrik. In der Pogromnacht wurde die Familie in ihrer Wohnung im selben Haus überfallen. Rudolf Brüll wurde mit einem Schlagring zu Boden geschlagen und ihm wurden 3 Rippen gebrochen. Seine Frau Julie wurde geschlagen und getreten und konnte sich durch einen Sprung über den Balkon auf das Hausdach retten. Rudolf wurde mit seinen Brüdern Franz und Josef am selben Tag von der Gestapo verhaftet. Nach einer kommissarischen Verwaltung wurde das Möbelhaus Brüll von Karl Zoglauer arisiert. 1949 wurde das Geschäft an die Familie Brüll zurückgegeben.

In der Anichstraße 13 gab es das Kinderkonfektionsgeschäft von Grete Berger. Grete Berger war die Schwester von Gertrude Adler. Grete Berger war mit Ing. Richard Berger verheiratet, der in der Pogromnacht erschlagen wurde. Grete Berger konnte mir ihrem Sohn Walter nach Palästina flüchten. Der zweite Sohn Fritz wanderte im August 1938 nach England aus.

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