Religionen / Glaube / Psychologie
Sex und Sexualität in den Kirchen

Homosexualität und trans*Identität in den Kirchen

Die Religionen, Kirchen und Freikirchen tun sich schwer mit Homosexualität, Bisexualität und Trans*Identitäten, aber auch mit Sexualität im Allgemeinen.

Viele Menschen, die schwul, lesbisch, bisexuell oder trans* (transgender, transident, transsexuell, genderfluid, non binary, divers) sind, sind religiös und gläubig und suchen Heimat und Unterstützung in den Kirchen, den Religionsgemeinschaften, den christlichen Freikirchen oder den drei großen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam). Eine Religionsgemeinschaft oder Kirche kann Halt und Sicherheit geben. Viele LGBT (lesbische Frauen, schwule Männer, bisexuelle Menschen und trans*Personen) hoffen, einen authentischen und menschenwürdigen Umgang in einer Glaubensgemeinschaft oder Kirche zu finden.
Doch oft ist das Gegenteil der Fall: LGBTIQA* (Menschen, die schwul, lesbisch, bisexuell, trans*ident, intergeschlechtlich, queer oder asexuell sind) müssen erleben, dass sie gerade in den Kirchen menschenfeindlich, trans*phob und homophob behandelt werden und schweren Diskriminierungen ausgesetzt sind. Dabei handelt es sich um psychische Gewalt.

Immer mehr Mitarbeiter*innen der Kirchen outen sich

Zu beobachten ist, dass insbesondere an der Basis der Kirchen und Religionsgemeinschaften zahlreiche Menschen zu finden sind, die menschenfreundlich und akzeptierend mit LGBT umgehen und diese fördern und unterstützen. Der aktuelle Trend, Regenbogenfahnen an den Kirchen anzubringen geht in diese erfreuliche Richtung.
In der Katholischen Kirchen outen sich mittlerweile immer mehr Mitarbeiter*innen, die LGBT sind, obwohl sie damit eine Kündigung riskieren. Unter diesen befinden sich schwule Pfarrer, schwule, bisexuelle und lesbische Religionslehrer*innen, trans*idente Mönche und queere Pastoralassistent*innen. Bis vor kurzem war es üblich, die sexuelle Orientierung oder trans*Geschlechtlichkeit geheimzuhalten, um keine Kündigung zu riskieren. Wenn ich einen Arbeitsvertrag in einer kirchlichen Einrichtung oder als Religionslehrer*in unterzeichne, dann verpflichte ich mich nämlich, nach den Grundsätzen der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu leben.

Homosexualität und trans*Identitäten (aber auch Masturbation und künstliche Empfängnisverhütung) werden nach der offiziellen Glaubenslehre noch immer als eine schwere Sünde betrachtet und ziehen mitunter Kündigungen nach sich.
Das Bekenntnis vieler Diözesen und einzelner Erzbischöfe, dass sie LGBT unterstützen und sich niemand Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen muss, der offen homosexuell, bisexuell oder trans* lebt, eine gleichgeschlechtliche Ehe oder eingetragene Partnerschaft eingeht, ist eine überraschende, erfreuliche, allerdings auch späte und dringend notwendige Entwicklung.

Homosexualität und verschiedene Sexpraktiken als schwere Sünde

Trotz dieser positiven Trends tun sich die Religionen, wenn sie dogmatisch ausgelegt werden, schwer mit anderen sexuellen Orientierungen. Die Homosexualität/Bisexualität ist dabei nur ein Teilbereich, der von den Religionen verurteilt wird. Bei strenger Auslegung werden auch alle Sexualpraktiken außer der vaginale heterosexuelle Geschlechtsverkehr (der erlaubt ist, wenn er Fortpflanzung nicht ausschließt und nur mit natürlicher Empfängnisverhütung stattfindet), sowie Selbstbefriedigung verurteilt.
Religionen argumentieren hier mit dem Über-Ich, d.h. sie nehmen keine Rücksicht auf das authentische Spüren, auf die Emotionen, Gefühle und Bedürfnisse der Menschen, sondern fahren mit rigorosen Normen, Geboten oder Bibelzitaten, die nicht hinterfragt werden, über authentische Bedürfnisse hinweg.

Das religiöse Über-Ich

Das Wort „Über-Ich“ ist ein etwas poetisch und romantisch anmutender Ausdruck aus dem 19. Jahrhundert und wurde von Sigmund Freud, dem Begründer der modernen Psychotherapie, verwendet (allerdings nicht als Wort neu geschöpft), um die Kontrollinstanz in unserer Psyche zu beschreiben. Als Kinder und Jugendliche verinnerlichen wir Normen, die den sozialen Zusammenhalt gewähren. Grundsätzlich ist das Verinnerlichen von Normen etwas Hilfreiches und Sinnvolles, da wir massiv überfordert wären, wenn wir uns von Augenblick zu Augenblick stets aufs Neue fragen müssten, ob eine Norm gerade sinnvoll ist oder nicht. Wir müssten dann in jedem Moment das normative Rad neu erfinden. Verinnerlichte Normen helfen uns somit, geben uns Halt und Orientierung. Verstoßen wir gegen verinnerlichte Normen, so fühlen wir meist Schuld- oder Schamgefühle. aber auch Ängste vor Bestrafung und Verlust, die uns helfen, den Regelbruch wiedergutzumachen oder Sühne zu leisten.
Schädlich sind Normen allerdings dann, wenn sie keinen Sinn mehr machen oder wenn sie, wie oben beschrieben, rein ideologisch begründet werden, ohne Rücksicht auf meine individuellen Neigungen und Bedürfnisse zu nehmen.

Konversionstherapien durch Freikirchen und Sekten

Besonders übel und menschenverachtend ist hier die Situation in vielen Sekten und christlichen Freikirchen, wo zum Teil noch immer die Konversionstherapie angeboten wird. Bei der Konversionstherapie handelt es sich um eine menschenrechtsverletzende Praxis, welche LGBTs so starke Schuldgefühle manipuliert, dass sie aus Angst ihre homosexuellen oder trans*identen Bedürfnisse unterdrücken. Es ist nämlich nicht möglich, die sexuelle Orientierung oder Identität bewusst zu wählen oder zu verändern, da sich diese bereits in den ersten Lebensjahren entwickelt.

Fallbeispiel aus der Praxis
Zur Veranschaulichung bringe ich ein Beispiel, um zu vermitteln, wie schwer das seelische Leid sein kann, dass durch religiöse-psychische Gewalt verursacht wird:
Frau F. ist lesbisch und lebt, weil sie in einer sehr religiösen Familien sozialisiert wurde, in einer Partnerschaft mit einem Mann, den sie auf freundschaftlicher Ebene gern und lieb hat, allerdings nicht liebt oder sexuell begehrt. Sie kommt zu mir in die Stunde, weil sie sich während und nach dem Sex immer ganz traurig, leer und depressiv fühlt und nicht weiß, warum. Während des Sexes fühlt sie starke körperliche Schmerzen im Unterleib, Unlust und Ekel, sie zwingt sich aber dennoch zum Geschlechtsverkehr, weil es sozial und religiös von ihr erwartet wird. Sie spürt lesbische Gefühle, verschließt sich aber sofort, wenn ich sie darauf hinweise, dass ihre Gefühle gut so sind, wie sie sind.
Im Laufe der Therapie kann sie sich zumindest in der Fantasie erlauben, mit Frauen zu kuscheln oder Sinnlichkeit zu genießen. Wenn sie an sexuelle Handlungen mit Frauen denkt, wird sie aber sofort von Schuldgefühlen und Strafängsten überflutet. Frau F. ist so depressiv, dass sie immer wieder suizidal wird und in die psychiatrische Notfallaufnahme muss.

Frau F. wuchs in einer Familie auf, die in einer Freikirche ist. Ihr wurden bereits als Kind, wenn sie zu laut war oder nicht folgte, mit der Hölle und dem Teufel gedroht. Heute ist Frau F. schwer traumatisiert und fühlt sich immer schuldig. Sie wird aufgrund der kultischen Gewalt eine jahrelange Psycho- und Traumatherapie benötigen, um freundlicher und akzeptierender mit sich selbst umzugehen.

Film: "Vom Pfarrer zur Pfarrerin"

Immer mehr LGBT outen sich in den Kirchen, so auch diese trans*idente Pfarrerin.

Religionen und psychischer Missbrauch

Ja, ich weiß als ehemaliger Theologie-Student, dass u.a. im 3. Mosebuch, im Buch Leviticus und im Römerbrief Homosexualität verboten wird.
Als Psychotherapeut bin ich allerdings den Bedürfnissen der Menschen verpflichtet. Jedes darüber Hinweggehen ist eine Ideologie und ein massiver Zwang und somit psychische Gewalt. Zudem ist es psychischer Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und Menschen, wenn wir ihnen ihre Gefühle ideologisch ausreden und ihnen eintrichtern, dass ihre Bedürfnisse und Emotionen falsch seien. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Gehirnwäsche, sondern viel mehr um eine Gefühlswäsche.
Derartige Übergriffe sind schädlich, giftig für die Psyche, mitunter sogar traumatisierend und können Mensch depressiv oder suizidal werden lassen, besonders dann, wenn diese religiös-toxischen Normen und Botschaften von den Eltern, von geliebten Vertrauenspersonen oder der Peer-Group kommen. Kinder und Jugendliche verinnerlichen dann, dass sie sich verbiegen oder falsche, aufgesetzte Gefühle vortäuschen müssen (dieses Phänomen bezeichnet man in der Psychotherapie als „hysterisch“ oder „histrionisch“), und dass sie nur geliebt werden, wenn sie ihre authentischen Bedürfnisse und Gefühle unterdrücken und vorgeben etwas zu sein, was sie nicht sind. Sie lernen zudem, dass ihre Gefühle und Bedürfnisse falsch seien.

Das falsche Selbst der Glaubensgemeinschaften

Es entsteht dann ein falsches Selbst. Die betroffenen Personen fühlen ihre ureigenen Emotionen und Bedürfnisse gar nicht mehr und spalten sie mithilfe diverser Abwehrmechanismen ab. Spüre ich kurz mein Bedürfnis oder gehe ihm sogar nach, kann das schwerste Ängste und Schuldgefühle auslösen bis hin zum Versündigungswahn. Das Abspalten von Bedürfnissen kostet selbstredend enorm viel Kraft und Energie. Dies hat zur Folge, dass die Opfer von religiöser-psychischer Gewalt depressiv werden, psychosomatisch erkranken, ein schlechteres Immunsystem bekommen, unter Angst und Panikstörungen leiden, Substanzen missbrauchen oder süchtig werden. Auch Traumafolgestörungen, Psychosen und Suizidalität können auftreten.
Zudem werden die Opfer selbst umso anfälliger für Ideologien, radikale Weltbilder und Schwarz-Weiß-Denken. Sie geben ihre Kränkungen, Verletzungen und Traumatisierungen an andere weiter und werden nicht selten selbst zu Täter*innen.

Das Gewissen in der Psychotherapie: die PERSON

In der Psychotherapieschule der Existenzanalyse sprechen wir von der "Person", der inneren Stimmigkeit, dem Gewissen, wenn wir unseren Handlungen und Verhaltensweisen mit ganzem Herzen zustimmen können. Es stimmt dann im tiefsten Innersten, wir schwingen mit uns selbst mit und geben uns ein inneres „Ja!“. Die Person (bzw. das Gewissen) ist auch vernünftig, anleitend, wertschätzen, mitfühlend und liebend. Sie gibt mir Kraft, schiebt mich an, durchdringt mich, ist oft ein innerer Widerpart zu äußeren Schwierigkeiten (etwa zu Homophobie oder trans*Phobie), ist immer im Dialog mit mir und führt mich zum inneren Erleben: „Das bin wirklich ich.“
In anderen Psychotherapierichtungen gibt es das Bild vom inneren „Wissen“ oder der „Inneren Weisheit“, die zu uns sprechen und wissen, was uns gut tut.
Die Person sagt, was für mich jetzt das jeweils Richtige ist. Dabei spricht das Gewissen bzw. die Person oft viel subtiler und leiser zu mir als es etwa das Über-Ich tut, das mich mitunter mit schweren Schuldgefühlen malträtiert, wenn ich gegen soziale Normen verstoße. Ich muss dann sorgfältig in mich hineinspüren: So kann ich etwa Schuldgefühle empfinden, wenn ich masturbiere (Über-Ich, Verstoß gegen religiöse Normen), obwohl mein Gewissen (die Person) zu mir ganz leise spricht, dass Selbstbefriedigung für mich gut und stimmig ist und ich mich selbst verfehlen würde, wenn ich diese Seite meiner Sexualität nicht ausleben würde. Ich könnte dies dann eines Tages bereuen.

Fragen an das Gewissen, die Person

Fragen, die mir helfen können, mit meiner Person bzw. meinem Gewissen in einen Dialog zu treten, können etwa sein:

  • Wenn Du morgen aufwachst und es ist ein Wunder geschehen, wie würdest Du deine sexuelle Orientierung bzw. deine Identität leben?
  • Was würdest Du dann körperlich spüren (im Muskeltonus, in und auf der Haut, in der Atmung)?
  • Welche Emotionen würden in Dir hochkommen?
  • Was würdest Du dann anders machen?
  • Wie würdest Du leben, wenn Dich alle Menschen unterstützen würden?
  • Was würde ich tun, wenn ich mehr Mut hätte?
  • Wenn ich alt wäre, wie müsste ich gelebt haben, um es nicht zu bereuen? Was dürfte dann nicht zu kurz gekommen sein? Was könnte ich bereuen?
  • Wie würden andere Menschen es bemerken, dass Du auf einmal authentisch Deine Sexualität bzw. Identität auslebst?
  • Wie würde so ein Tag aussehen, an dem Du ganz authentisch Deine Orientierung bzw. Identität leben könntest?
  • Gibt es jetzt schon Möglichkeiten, mehr und authentischer Deine Sexualität/Identität auszuleben?
  • Was wären erste, ganz kleine Schritte in die richtige Richtung?

Das echte und personale Selbst

LGBTs erleben sich auf körperlicher Ebene auf einmal wie befreit, also weicher, freier, gelöster, fließender, wenn sie authentisch ihre sexuelle Orientierung oder trans*Identität ausleben können. Die Atmung wird mitunter tiefer und langsamer (Zwerchfellatmung, Bauchatmung), die Muskeln lockern und entspannen sich. Auf emotionaler Ebene spüren LGBTs Emotionen wie Glück, Freude, Erleichterung, Zuversicht, Hoffnung, Selbstbewusstsein, Selbstachtung, Liebe und Selbstbewusstsein.
Hingegen fühlen sich LGBTs, die ihre Identität bzw. sexuelle Orientierung unterdrücken müssen, bedrückt. Enge, innere Verhärtungen der Organe und in der Tiefenmuskulatur, Stresssymptome, Verspannungen im Hals und Nacken, Migräne, ein erhöhter Puls, Muskelverspannungen, Druckgefühle und Anspannungen machen sich körperlich bemerkbar. Die Atmung wird gepresster und flacher. Emotionen wie Angst, Verzweiflung, Selbsthass, Ekel vor sich selbst, Hoffnungslosigkeit, Wut und Trauer können sich einstellen.

Das Richtige, Authentische, Gewissenhafte und Personale zu leben ist dennoch oft schwierig. So kann ich z.B. Widerstände oder Diskriminierung erleben, wenn ich offen als LGBT lebe, obwohl es im Tiefsten Innersten für mich stimmt. Ich bin mir dann selbst treu, gehe mit mir selbst gut um und lebe innerlich frei, erlebe aber dennoch psychische Gewalt und Diskriminierungen vonseiten der Gesellschaft, dem Außen. Normen müssen sich immer hinterfragen und mir Raum lassen für mein personales Spüren, für mein Gewissen. Ansonsten sind sie starr, leblos und tot, etwa dann, wenn mit alten Bibelzitaten gegen Homosexualität gewettert wird.

Filmtipp: "Outing-Aktion von Katholiken: »Ein Priester ist nicht schwul«"

Auch immer mehr katholische Priester bekennen sich zu ihrer Homosexualität bzw. Bisexualität.

Religionen, Kirchen und religiöse Gemeinschaften unterdrücken nicht nur Homosexualität / Bisexualität und trans*Identitäten, sondern auch andere sexuelle Bedürfnisse, wie etwa Masturbation, Sex vor der Ehe, diverse Sexualpraktiken u.v.m.

Warum unterdrücken Religionen, Kirchen, Sekten und religiöse Gemeinschaften die Sexualität?

Religionen, Kirchen und religiöse Gemeinschaften tun dies einerseits auf individueller Ebene, weil die einzelnen Mitglieder selbst psychisch-religiöse Gewalt erlebt haben und nun ihre Wunden und Traumen an andere bzw. an die Kinder und jüngeren Generationen weitergeben. Den Kindern werden dann etwa bei der Selbstbefriedigung Schuldgefühle manipuliert, welche die Eltern selber empfinden, wenn sie sich selbst befriedigen bzw. werden eigene (authentische) Bedürfnisse nach Sexualität, die man selbst unterdrücken muss, weil sie ja als sündhaft empfunden werden, projektiv an den Nachkommen bekämpft. Diese Projektion entlastet von den eigenen Strafängsten und Schuldgefühlen, verhindert damit aber, einen guten Zugang zu den eigenen sexuellen Bedürfnissen zu finden. Zudem entsteht auf diese Weise eine unauthentische Doppelmoral:
Ich strafe meine Kinder, wenn ich sie bei der Selbstbefriedigung ertappe und mache ihnen Ängste, dabei passiert es aber auch mir selbst immer wieder, dass mich die autoerotische Lust überkommt und ich mich masturbiere. Schon manche*r Jugendliche*r war schockiert, als er die Pornos seines religiösen Vaters fand, der ihm/ihr eintrichterte, Selbstbefriedigung und Pornographie seien eine schwere Sünde.

Der heilsame Weg: Schuldgefühle aushalten

Ein konstruktiver, heilsamer Weg wäre es, sich dennoch selbst zu befriedigen, die eigenen Schuldgefühle immer wieder auszuhalten (Schuldgefühle bringen mich nicht um, ich kann sie immer irgendwie ertragen), bis diese weniger werden.
Vereinfacht können wir uns das Gehirn nämlich wie einen Muskel vorstellen, der sich trainieren lässt. Religiöse-sexuelle Schuldgefühle sind etwas Antrainiertes und Erlerntes. Die gute Nachricht ist, dass sich Schuldgefühle auch wieder „abtrainieren“, d.h. verringern oder ganz auflösen lassen, wenn ich mich diesen unbegründeten Schuldgefühlen immer wieder aussetze (Expositionstherapie). Im Klartext: Wenn ich das Bedürfnis nach Selbstbefriedigung habe, dann sollte ich sie praktizieren. Das Schuldgefühl wird dann im Laufe dieser Konfrontationstherapie mit der Zeit immer geringer werden und sich eines Tages ganz auflösen. Vermeidung hingegen würde dem Schuldgefühl immer wieder neue Nahrung geben, und es könnte damit noch stärker werden.
Dies ist ein schmerzhafter, oft langwieriger Prozess, der nicht einfach ist, mich am Ende aber mit Entlastung, neuer Leichtigkeit und mehr Lebensfreude belohnt.

Nicht-Validierung und psychische Gewalt an Kindern und Jugendlichen

Eine projektive Bekämpfung der Sexualität an anderen Menschen entlastet mich zwar kurzfristig, und macht es mir vorübergehend leichter, langfristig kann ich mich aber dadurch nicht weiterentwickeln und begehe noch dazu psychische Gewalt an meinen Kindern, die u.U. dadurch traumatisiert werden.
Täter*innen validieren die sexuellen Gefühle und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht. Validieren meint das subjektive Anerkennen der Bedürfnisse und Gefühle der Mitmenschen. Den Kindern und Jugendlichen werden sogar falsche Bedürfnisse und Gefühle, aber auch psychische Schwächen und Krankheiten eingeredet.

Folgende toxische Sätze sind dabei typisch:

  • „Homosexualität/Bisexualität ist eine Krankheit.“
  • „Du steht doch eigentlich eh auf das andere Geschlecht, du weißt es nur noch nicht.“
  • „Probiere doch einfach mal Heterosexualität aus. Dann weißt Du, wie schön das ist.“
  • „Homosexualität ist gegen Gottes Schöpfung. Darum sind deine Gefühle falsch und sündhaft.“
  • „Wenn du Deine Homosexualität auslebst, dann wirst du in der Hölle landen.“
  • „Deine Gefühle sind falsch. Ich weiß, was gut für dich ist.“
  • „Homosexualität lässt sich heilen.“
  • „Deine Religion verbietet es dir, vor der Eheschließung Sex zu haben. Versündige dich nicht!“
  • „Selbstbefriedigung ist eine Sünde. Darum hat Gott Onan bestraft.“
  • „Wenn Du dich weiterhin selbst befriedigst, wird Gott Dich mit Krankheiten, Schwäche und Impotenz strafen.“
  • „Oralverkehr ist widernatürlich und gegen Gottes Schöpfung.“

Isolation als Teil der kultischen Gewalt und religiöse Schuldgefühle

Religiöse Täter*innen versuchen oft, die/den andere*n zu isolieren. Freund*innen, die nicht gläubig sind, werden abgewertet und das Pflegen von Freundschaften wird überwacht.
Auf einer kollektiven Ebene, also auf der Ebene der Institutionen, verschafft das Manipulieren von religiösen Schuldgefühlen den einzelnen Täter*innen, aber auch den Institutionen Macht. Menschen, die unter schweren Strafängsten und Schuldgefühlen leiden und die dadurch verunsichert sind, lassen sich nämlich leichter kontrollieren als gesunde, selbstsichere Personen, die ihre sexuellen Bedürfnisse frei und zufrieden ausleben.

Heteronormative patriarchalische Strukturen werden verfestigt

Auch heteronormative und patriarchalische Strukturen lassen sich auf diese Weise umso besser verfestigen oder zumindest aufrechterhalten.
Heteronormativ meint, dass Frauen dem klassischen sozialen Rollenbild entsprechen, nur Männer lieben und ganz in Hausarbeit und Kindererziehung aufgehen; Männer hingegen seien die Versorger und Beschützer und lieben und begehren nur Frauen. Frauen seien passiv, Männer aktiv.
Gerade Homosexualität / Bisexualität und Trans*Identität würden patriarchalische Strukturen aufweichen oder gar infrage stellen. Daher gilt: Umso heteronormativer und patriarchalischer eine Gesellschaft oder Institution ist, desto schwerer tut sie sich auch mit einer authentischen Sexualität und LGBTIQA*.
Das Modell der patriarchalen Zweigeschlechtlichkeit verteilt die Rollen, Aufgaben und Privilegien höchst ungleich zugunsten des männlichen Geschlechts.

Film: "Glaube Liebe Lust - Sexualität in den Weltreligionen"

Im orthodoxen Judentum, Islam und Christentum finden sich noch immer viel psychische Gewalt und Sexualunterdrückung, die mit Strafängsten und Schuldgefühlen arbeiten.

Homophobie in der Psychoanalyse

Auch weltliche Institutionen und Glaubenssysteme haben sich viele Jahrzehnte lang homophob und trans*phob verhalten und haben dabei Grundsteine für die religiösen Konversionstherapien gelegt. Dies zeige ich am Beispiel der Psychotherapie und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert auf.

Homophobie und trans*Phobie in der Psychotherapie und Psychoanalyse

Im letzten Teil meines Essays zu Homophobie und Trans*Phobie in den Kirchen und Religionsgemeinschaften möchte ich ein weltliches Glaubenssystem präsentieren, welches lange diskriminierend und gewaltvoll mit LGBT umgegangen ist. Es handelt sich dabei um das System der Psychotherapie. Ich möchte aufzeigen, dass Feindlichkeit, Pathologisierungen, Konversionstherapien, Homophobie und trans*Phobie kein spezifisch religiöses Phänomen sind, sondern ein gesamtgesellschaftliches darstellen, das wir auch in den Humanwissenschaften und weltlichen Glaubenssystemen finden. Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass ich nichts von der Psychoanalyse halte.
Das Gegenteil ist der Fall: Ich bin ein großer Anhänger der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie. Jedoch haben vor allem Psychoanalytiker*innen sehr viel zur Homosexualität geschrieben und sich als Kinder ihrer Zeit geirrt und Fehler gemacht, von denen sie sich leider nur selten im Nachhinein distanzierten.

Homosexualität als schwere psychische Erkrankung und Störung

Bezüglich des Schürens von Vorurteilen gegenüber Menschen mit homosexuellen Neigungen und der Pathologisierung von Homosexualität hat sich die moderne Psychologie und Psychotherapie zutiefst schuldig gemacht und mit ihrer Erklärung der Homosexualität als einer schweren Neurose bzw. psychischen Störung unermessliches Leid über ihre Patient*innen gebracht.

Als Begründer der Psychoanalyse vertrat Sigmund Freud eine sehr ambivalente Haltung zur Homosexualität, pathologisierte diese jedoch im Gegensatz zu seinen Schülern/Schülerinnen und Nachfolgern/Nachfolgerinnen kaum.
Die Haltung Freuds zur Homosexualität kann man, trotz aller Ambivalenzen, historisch betrachtet nur als feinfühlig beschreiben – etwa wenn er die Selbstfindung betont. So schrieb er:
"Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von anderen Menschen abzutrennen […] [Sie, d.V.] erfährt […], daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben."

(Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Stuttgart 2010, S 25. Fußnote).

Keine homosexuellen Ausbildungskanditat*innen

Im Gegensatz zu seinen Nachfolger*innen trat Freud dafür ein, dass homosexuelle Kandidat*innen in die psychoanalytische Ausbildung aufgenommen werden sollten, konnte sich hier jedoch nicht durchsetzen. Ganz im Gegenteil: So fortschrittlich der Begründer der Psychoanalyse auch gedacht hatte, seine unmittelbaren Schüler*innen, aber auch Vertreter*innen anderer tiefenpsychologischer Schulen verhielten sich reaktionär. Selbst große Denker*innen und brillante Geister, welche die Psychoanalyse „entstaubten“ und mit Sozialwissenschaften, Philosophie, Kulturkritik und Theologie synthetisierten, allen voran Erich Fromm, aber auch Eugen Drewermann (letzter hat heute sein Pathologiemodell aufgegeben).
Einer der berühmtesten Psychoanalytiker, Otto Kernberg, schrieb noch 1985, d.h., zwölf Jahre nachdem die homosexuelle Orientierung aus dem Internationalen Katalog der psychiatrischen Erkrankungen, dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), gestrichen worden war:
„Wir finden eben, ganz einfach gesagt, keine männliche Homosexualität ohne ausgeprägte Charakterstörungen.“

(Otto F. Kernberg, Ein konzeptuelles Modell zur männlichen Perversion, in: Friedrich Beese, Tobias Brocher, Helmut Enke, Michael Ermann u.a., Hg., Forum der Psychoanalyse Band 1, Berlin 1985, S. 184.)

Darüber hinaus unterstellt er schwulen Männern Furcht vor einem „genitalen und liebevollen Sich-Einlassen mit einer Frau, Furcht, mit dem ödipalen Vater im sexuellen Bereich zu konkurrieren [...]“. (op.cit., S. 183.)

Film: "Psychoanalytiker Otto Kernberg über Liebe und andere Identitätsgefühle"

Der Psychoanalytiker Otto Kernberg hat mittlerweile sein Pathologiemodell der Homosexualität zurückgenommen. Dies zeichnet ihn als Humanwissenschaftler aus.

Die Psychoanalyse und Psychotherapie traumatisierten Menschen durch Konversionstherapien

Mit diesen Äußerungen der prominentesten Vertreter der Tiefenpsychologie hat diese einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt und ihr hehres Ideal verraten, den Menschen zu sich selbst zu führen, all das, was in einem Menschen zerbrochen ist, bewusst zu machen, durchzuarbeiten und zu einem integrierten Ganzen zusammenzufügen, mit anderen Worten: den Patienten/die Patientin zu lehren, sich mit all seinen/ihren Anlagen und Eigenschaften so zu lieben, wie er/sie ist. Psychoanalyse und Psychotherapie implizierten von Beginn an ein kritisches Hinterfragen der Kultur, der sozioökonomischen Verhältnisse, der althergebrachten Werte, Moralvorstellungen und Normen.
Diese Verunglimpfung der homosexuellen Orientierung als Neurose ist keineswegs eine Lappalie, sondern ein regelrechter Verrat am Menschen, gerade dann, wenn man sich besinnt, wie fortschrittlich der Begründer Sigmund Freud gedacht hatte. Stattdessen wurden Personen, denen es aufgrund der permanenten Diskriminierung und Verachtung, der psychischen und physischen Gewalt von Haus aus schlecht ging, noch tiefer verunsichert und von ihrem Selbst entfremdet. Anstatt Neurosen zu lösen wirkte die Psychoanalyse ihrerseits neurotisierend und traumatisierend.

Bis weit in die 1990er Jahre konnten schwule, lesbische oder bisexuelle Menschen, die aufgrund ihrer Schwierigkeiten und Verunsicherungen, die mit ihrer Selbstfindung im homophoben Milieu einhergingen, eine Psychotherapie begannen, nur heilfroh sein, wenn sie keinem Analytiker/keiner Analytikerin in die Hände fielen. Die Psychoanalyse verbrach an Schwulen, Lesben und Bisexuellen das, was heute christlich-fundamentalistische Organisationen, Freikirchen und Sekten tun, die homosexuelle Menschen per psychischer Manipulation zu Heterosexuellen machen wollen. Heute widerlegen alle Erfahrungen, dass sexuelle Orientierungen geändert werden können.
Darüber hinaus ist es für jeden homosexuellen und bisexuellen Menschen eine massive Kränkung, wenn er in einer so zentralen Dimension, wie seiner sexuellen Orientierung, sich vom Therapeuten/von der Therapeutin nicht angenommen, akzeptiert und verstanden weiß.

Die Verwechslung von Ursache und Wirkung

Die Psychologie und Psychotherapie haben hierbei viele Jahrzehnte lang Ursache und Wirkung verwechselt. Homosexuelle und bisexuelle Menschen sind nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung neurotisch, narzisstisch, nicht zur Liebe fähig etc., sondern weil sie traumatisiert und diskriminiert werden sowie unter Minderheitenstress leiden.
Die meisten Psychotherapeut*innen waren bis weit in die 1980er Jahre völlig blind dafür, zu erkennen, dass Menschen, die in ihrer sexuellen Orientierung abgelehnt, verfolgt und diskriminiert werden, massive seelische Störungen und Komplexe Posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln können.

Vor allem der viel beschworene Narzissmus homosexueller Männer ist eine Neurose, welche auf Nicht-Akzeptanz und schwere Traumen zurückzuführen ist: Das homophobe Umfeld führt häufig zu großen Entwicklungsstörungen der Selbstidentität und des Selbstwertgefühls; ein homosexueller Mensch hingegen, der von seinem sozialen Umfeld so angenommen und geliebt wird, wie er ist, bekräftigt und gespiegelt wird, wird ein gesundes, stabiles Selbstwertgefühl entwickeln. Bedauerlicherweise ist so eine gesunde psychische Entwicklung in unserer homophob-patriarchalischen Gesellschaft eher die Ausnahme, da, selbst wenn die Kernfamilie liebevoll und akzeptierend mit der anderen sexuellen Orientierung des Heranwachsenden umgeht, dieser sich doch unendlich vielen Anfeindungen und psychischer Gewalt in den Schulen, Ausbildungsstätten, in den Peer-Groups etc. gegenübersieht. Insofern hat jeder Mensch mit homosexuellen Neigungen zahlreiche Verletzungen aufzuarbeiten, woran viele scheitern.

Autor: Florian Friedrich
Psychotherapeut in Salzburg und Hamburg
(Existenzanalyse)

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