Selbstbestimmung vs. Aufsichtspflicht
OGH fällt Grundsatzurteil

Für Menschen mit Behinderungen, sind Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft Menschenrechte. | Foto: Pixabay
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Die eigenständige Gestaltung des Alltags, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, das Erledigen von Besorgungen, das Arbeiten und der Besuch von Veranstaltungen sind für zahlreiche Menschen mit Behinderungen auch in der heutigen Zeit keineswegs selbstverständlich.

TIROL. In der UN-Behindertenrechtskonvention ist das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe klar verankert. Die Lebenshilfe Tirol betrachtet dies als höchstes Anliegen und setzt die Vorgaben des Tiroler Teilhabegesetzes um, indem sie ihren Klientinnen und Klienten ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Qualifizierte und verantwortungsbewusste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berücksichtigen dabei individuell die Fähigkeiten, Möglichkeiten und Lebensumstände jeder Person. Wenn beispielsweise ein Klient den Wunsch hat, alleine einkaufen zu gehen, werden gemeinsam mit den Assistentinnen und Assistenten die Bedingungen erörtert, unter denen dies für ihn umsetzbar ist. Durch ein sorgfältiges und auf ihn zugeschnittenes Training werden ihm die nötigen Fertigkeiten vermittelt, um sein Ziel zu erreichen.

Ein Wunsch wird ernst genommen

Ein Klient an einem Arbeitsstandort der Lebenshilfe Tirol äußerte vor etwa fünf Jahren genau diesen Wunsch. Mit den Assistentinnen und Assistenten übte er monatelang den Weg zum Supermarkt sicher zurückzulegen und insbesondere auch den Zebrastreifen zu benutzen. Der Verlauf des Trainings wurde schriftlich dokumentiert. Als die Assistentinnen und Assistenten sich davon überzeugt hatten, dass der Klient die Gefahren im Straßenverkehr erkennen und mit ihnen umgehen kann, war der Weg frei: Der Klient konnte seinem Wunsch gemäß alleine einkaufen gehen. Eines Tages überquerte er aber die Straße, ohne den Zebrastreifen zu benutzen. Er wurde von einem Auto erfasst und schwer verletzt.

Streitfall Aufsichtspflicht

Die Beifahrerin des Unfalllenkers verklagte die Lebenshilfe Tirol daraufhin auf Schadensersatz. Der Klient hätte ihrer Meinung nach nicht alleine Richtung Supermarkt gehen dürfen, sie vermutete eine Verletzung der Aufsichtspflicht.

Selbstbestimmung wiegt mehr

Zwei gute Nachrichten gibt es nun zu vermelden: Der Mann hat sich von seinen Verletzungen inzwischen gut erholt. Und der OGH hat nach einem langen Rechtsstreit nun ein Grundsatzurteil gefällt. Er folgt darin der Argumentation der Lebenshilfe Tirol und stellt fest, dass die Assistenz nicht mit einer Aufsichtspflicht einhergeht. Volljährige Menschen mit Behinderungen müssen und sollen also nicht grundsätzlich rund um die Uhr „beaufsichtigt“ werden, weil das in klarem Widerspruch zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung stehen würde. Nur wenn die Lebenshilfe Tirol ihre „allgemeinen Verkehrssicherungspflichten“ verletzt hätte, so der OGH, müsse die Haftung und daraus folgend eine Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz geprüft werden. Verkehrssicherungspflicht bedeutet in diesem Zusammenhang, dass im täglichen Umgang Rücksicht auf andere zu nehmen ist und dass Gefahrenquellen abgesichert werden müssen, soweit dies zumutbar ist. Gerade bei der Prüfung dieser Verkehrssicherungspflichten sei laut OGH die UN-Behindertenrechtskonvention zu berücksichtigen, in der die Achtung der individuellen Autonomie von Menschen mit Behinderungen und das Recht auf selbstbestimmtes Leben verbrieft sind. Die Schadenersatzforderung der Klägerin wurde folglich abgewiesen.

Urteil als wegweisendes Signal

"Dieses Grundsatzurteil ist ein wegweisendes Signal für Menschen mit Behinderungen: Ihre Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft sind Menschenrechte, die nun auch in der österreichischen Rechtsprechung verankert sind. Dieses Urteil konkretisiert die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention, die von Österreich 2008 ratifiziert wurde", so Georg Willeit, der Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol.

"Darüber hinaus ist es ein juristischer Meilenstein für alle anderen Organisationen in Österreich, die Menschen mit Behinderungen begleiten: Laut OGH haben sie nicht die Aufgabe, sämtliche Risiken von Dritten auszuschließen, denn das ginge auf Kosten der Selbstbestimmung und der Freiheitsrechte eines volljährigen Menschen mit Behinderungen," bringt es Philippe Narval, Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich, auf den Punkt.

Die Lebenshilfe in Österreich

Die Lebenshilfe Tirol begleitet rund 1000 erwachsene Menschen mit Behinderungen beim Arbeiten, beim Wohnen und in der Freizeit. Die Lebenshilfe Österreich ist der Dachverband der insgesamt acht Lebenshilfe-Landesorganisationen mit Hauptsitz in Wien. Sie vertritt die Rechte von Menschen mit intellektuellen Behinderungen auf Bundesebene. Die Lebenshilfe Österreich engagiert sich für die Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft auf Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention und formuliert konkrete Forderungen an Politik, Entscheidungsträger und die Gesellschaft. Für mehr Chancengleichheit von Menschen mit intellektuellen Behinderungen.

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