Pflegekräftesituation
„Es reicht nicht ‚Schmerzensgeld‘ zu verteilen"

Die Einführung einer Pflegelehre, um dem Personalmangel in der Pflege entgegenzuwirken, wäre für Thomas Strickner, Bereichsleiter der mobilen Pflege in Innsbruck, enorm wichtig. | Foto: Hilfswerk / Suzy Stöckl
  • Die Einführung einer Pflegelehre, um dem Personalmangel in der Pflege entgegenzuwirken, wäre für Thomas Strickner, Bereichsleiter der mobilen Pflege in Innsbruck, enorm wichtig.
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INNSBRUCK. Thomas Strickner von der „Bereichsleitung Innsbrucker Soziale Dienste (ISD) Mobile Dienste" im BezirksBlätter Innsbruck Interview über Pflegekräftemangel, Schmerzensgeld für Pfleger, die gewünschte Etablierung einer Pflegelehre, und leerstehende Betten in Innsbrucker Seniorenheimen.

Interview

BezirksBlätter Innsbruck: Die schwierige Situation für Pflegekräfte in Innsbruck wird schon seit längerem öffentlich diskutiert. Wie würden Sie die Pflegekräftesituation im Allgemeinen und in den Innsbrucker Seniorenheimen im Speziellen bewerten?
Thomas Strickner: Wir befinden uns aktuell generell in einer Situation, in der die Zahl jener, die ins arbeitsfähige Alter kommen, stark abnimmt und die Zahl derer, die älter werden, womit auch die Wahrscheinlichkeit der Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit steigt, stark zunimmt. Die Anzahl der bevorstehenden Pensionierungen, verschärft zudem das Problem. Wobei die Personalsituation schon seit langer Zeit unbefriedigend ist. Das Problem wird aufgrund der soeben beschriebenen Thematik aber noch größer werden, als wir es bisher kennen. Prognosen zufolge benötigen wir allein in Tirol bis zum Jahr 2030 über 7.000 zusätzliche Pflegekräfte. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass wir auf diese Personalnot zusteuern – unternommen wurde nahezu nichts. Dieses Dilemma jetzt auf den Langzeitpflegebereich in Innsbruck zu beschränken, greift zu kurz. Ganz Europa sucht derzeit händeringend nach Pflegekräften.

In welchem Bereich der Pflege orten Sie den größten Verbesserungsbedarf?
Der Pflegebereich steht und fällt mit der Lösung des Personalproblems. Wenn dieses Thema nicht umgehend höchste Priorität genießt, können wir uns alle anderen Maßnahmen sparen. Es reicht nicht, publicitywirksam (öffentlichkeitswirksam), ‚Schmerzensgeld‘ wie den Corona-Fünfhunderter in Bausch und Bogen zu verteilen oder Werbetafeln aufzustellen. Vielmehr sind jetzt Maßnahmen erforderlich, damit alle Personen, die in die Pflege wechseln wollen, ohne Einkommensverlust auch wechseln können. Ein Stipendium in der Höhe von 470 Euro, wie von der Tiroler Landesregierung vorgesehen, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Die Ausbildung im Pflegebereich muss parallel zur Ausbildung zum Polizisten voll bezahlt werden. Zudem muss sich die Bezahlung derer, die bereits einen Pflegeberuf ausüben, soweit erhöhen, dass diese Entlohnung von denjenigen, die vor ihrer möglichen Berufswahl zum Pfleger stehen, als attraktiv und angemessen empfunden wird.

Aufgrund von akutem Pflegekräftemangel stehen laut Robert Kaufmann, Obmann der „ARGE Tiroler Altenheime“ weit über 100 Betten in Tiroler Seniorenheimen leer. Allein im Wohnheim Pradl in Innsbruck, sollen wegen Personalmangels an die 30 Betten leer stehen. Wo müsste man Ihrer Meinung nach ansetzen, um den Pflegeberuf für junge Menschen und Quereinsteiger attraktiver zu gestalten?

Einerseits sollten wir uns zum Ziel setzen, dass es allen interessierten Personen hierzulande ermöglicht wird, in den Pflegebereich einzusteigen. Da es aber definitiv nicht möglich sein wird, den aktuellen und zukünftigen Bedarf an Pflegekräften mit einheimischen Arbeitskräften zu decken, wird man andererseits nicht umhinkommen, interessierte Personen im Ausland gezielt anzuwerben und die Anstellung ausländischer Pflegekräfte in Österreich zu erleichtern. Zudem benötigen wir dringend Ausbildungskooperationen im EU- und nicht-EU-Raum – mit vergleichbaren Projekten, wie sie in Deutschland bereits laufen.

An der Ferrarischule Innsbruck, in Kooperation mit dem Ausbildungszentrum West für Gesundheitsberufe (AZW), ist es seit vergangenem Herbst möglich, bereits ab dem 14. Lebensjahr eine dreijährige Pflegeassistenzausbildung zu absolvieren. Glauben Sie, dass solch junge Menschen den Herausforderungen des Pflegeberufes gewachsen sind?
Wie sich die Ausbildung an der Ferrari-Schule darstellt, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich gehe aber davon aus, dass die Ausbildungsmodule ident zu jenen Modulen sind, wie man sie für die Pflegelehre angedacht hat. Die Ausbildung in der ‚Ferrari‘, kann nämlich nur eines von mehreren Ausbildungsmodellen sein, um junge Menschen in den Pflegeberuf zu begleiten. Um alle abzuholen, die daran Interesse zeigen, braucht’s mehr. Es gibt schließlich auch eine nicht unbedeutende Gruppe an jungen Menschen, die nach ihrem Pflichtschulabschluss keine weitere Schule mehr besuchen wollen und sich trotzdem für den Pflegeberuf begeistern. Für diese Personengruppe wäre die Einführung einer Pflegelehre immens wichtig. Ich weiß, dass die Pflegelehre da und dort kritisch betrachtet wird – meiner Ansicht nach zu unrecht. Ich gehe nämlich nicht davon aus, dass der Auszubildende im ersten Lehrjahr mit Situationen konfrontiert ist, die ihn konsequent überfordern. Auch in der Schweiz wurde die Pflegelehre zu Beginn kritisch beäugt, mit den gleichen Argumenten wie hierzulande. Mittlerweile ist die Ausbildung zur FaGe (Fachmann/frau Gesundheit), wie sie dort heißt, und vergleichbar ist mit unserer Pflegeassistenzausbildung, als zweithäufigster Schweizer Lehrberuf nicht mehr wegzudenken.

Auf welche Schwerpunkte sollte man Ihrer Meinung nach in der Pflegeausbildung den Fokus legen?
Der Fokus sollte darauf liegen, dass mit den erworbenen Fähigkeiten die Basis geschaffen wird, pflege- und betreuungsbedürftige Personen qualitativ pflegen und betreuen zu können. Um künftige Überforderungen zu vermeiden, sollte die Ausbildung ein möglichst realistisches Bild von dem zeichnen, wie es sich später im Berufsleben darstellt. Da die Pflege definitiv zu den herausforderndsten Berufen zählt, sollte auch vermehrt auf die individuelle Entwicklung der Persönlichkeit gelegt werden – vor allem hinsichtlich der Fähigkeit zur Resilienz (Widerstandsfähigkeit).

Könnten betreute Seniorenwohngemeinschaften in Zukunft klassische Seniorenheime entlasten beziehungsweise ein echtes Alternativmodell dazu sein?
Entlasten vielleicht, ersetzen sicher nicht. Als echtes Alternativmodell taugen sie meiner Einschätzung zufolge nicht, zumal der Grad der Pflegebedürftigkeit in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Ebenso ist der Anteil an Demenz- beziehungsweise psychiatrisch Erkrankten, rasant gewachsen - womit auch der Bedarf an Schwerpunktbetreuung laufend zunimmt. Damit stoßen zum Teil bereits jetzt, hoch qualifizierte Altenpflegeeinrichtungen an ihre Grenzen. Vielmehr würde es einen Ausbau an spezialisierten Einrichtungen wie jene der Landespflegeklinik benötigen. Dort sind die paar Pflegeplätze, die es gibt, nämlich über Jahre hinweg ausgebucht.

Was schätzen Sie an Ihrem Beruf, als Bereichsleiter der „ISD Mobile Dienste“? Gibt es vielleicht auch Dinge, die Ihnen an Ihrer Tätigkeit weniger gut gefallen?

Ich bin in der glücklichen Lage, einen Beruf ausüben zu dürfen, der mir auch nach 15 Jahren immer noch jeden Tag Spaß macht. Die Anforderungen sind breit gestreut und die Gestaltungsmöglichkeiten riesig. Zudem ist es immer wieder schön zu sehen, mit wie viel Engagement und Motivation die Mitarbeiter ihre Arbeit erledigen. Ganz im Gegensatz zu jenem verheerenden Bild, das in manchen Medien mitunter gezeichnet wird.

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