Frei im Theater: alter
Zeitgenössischer Zirkus im Brux
Zuweilen sind die künstlerischen Koinzidenzen in dieser Stadt schon richtig erstaunlich. Denn nur einen Tag vor der „Safe Ground“-Premiere in den Kammerspielen war mit „alter“ im Brux eine nicht minder eindrückliche tänzerisch-artistische Stückentwicklung von Cie Kumquat vom Verein Freifall zu sehen. Hinter Cie Kumquat stehen die beiden jungen Künstlerinnen und Akrobatinnen Verena Schneider und Charlotte Le May, die gemeinsam an der renommierten Zirkusschule Ésacto’Lido in Toulouse studiert und sich dort auch kennengelernt haben. Was auf den ersten Blick wie eine sehr persönliche – in Deutsch, Französisch und Englisch gesprochene und meist simultan übersetzte – Selbst-Erkundung durch sieben immer tiefer gehendere Fragen erscheint, die stets auch durch tänzerische Balance-Akte beantwortet werden, benennen die beiden Künstlerinnen selbst als „introspektive Zirkusperformance“.
Sensible Transformation
Das ist auch deshalb ungemein spannend, weil ein derart tituliertes künstlerisches Format in unseren Breiten gänzlich unbekannt ist. Was Schneider, die aus Tirol stammt, mit dem Verein Freifall nun ganz offenkundig ändern möchte. Im Vergleich zu Frankreich stecke der zeitgenössische Zirkus in Österreich noch in den Kinderschuhen, erzählt sie im Anschluss, nicht ohne auch auf das „stinkende Erbe“ dieser ursprünglich rassistischen, kolonialen und spekulativen Disziplin hinzuweisen, das es natürlich zu transformieren gelte. Sie wollten daher einen Zirkus schaffen, der die Sensibilität in der unentwegten Balancesuche offenlege und sichtbar mache.
Ein lebenslänglicher Balanceakt
Schneider und Le May, die sich in ihrer Ausbildung übrigens auf Handstand spezialisierten, geben in ihrer einfühlsamen Performance überaus intime Einsichten und Lebenserkenntnisse zweier Frauen wieder, mit denen sie im Vorfeld lange Tiefeninterviews über deren Leben geführt haben. Es geht darin um Bruchlinien und Neuanfänge, Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit, aber letztlich auch um Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung, die existenzielle Frage nach dem eigenen Platz und dem Sinn im Leben, das Wissen um die eigene Vergänglichkeit, die Frage, was einem Kraft gibt und zuletzt bleiben wird. Und gerade über die verschiedenen Handstandvariationen, die Schneider und Le May immer wieder in ihre Bewegungsrepliken einbauen, wird einem schlagartig bewusst, dass das Leben letztlich ein lebenslänglicher Balanceakt ist. Und einem immer dann den roten Teppich ausrollt, wenn man sich ganz auf seine innere Wahrheit einlässt.
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