Gedenken: 85 Jahre "Pogromnacht"
„Es gibt keine Alternative zum Frieden“ - Anna Berger, geborene Uprimny (1920-1998)

Foto: Waltraud Neuhauser-Pfeiffer

Am 9. November 2023 jährt sich die von den Nationalsozialisten zynisch so genannte „Reichskristallnacht“, die den Beginn der systematischen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung markiert, zum 85. Mal. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten vielerorts die Synagogen. Es kam zu Ausschreitungen, Verhaftungen und Verfolgungen, auch in Steyr.
Mit der Lebensgeschichte der Anna Berger soll daran erinnert werden, wie Juden und Jüdinnen aus ihrer Heimat vertrieben und viele von ihnen Opfer des Holocaust wurden.

Zufluchtsland Palästina
Als Anna Uprimny mit ihrem Bruder im Dezember 1938 nach einer vierwöchigen Schifffahrt auf der Donau und über das Schwarze Meer in Palästina landete, war ihre Zukunft noch ungewiss. Die britische Mandatsherrschaft hatte seit 1939 die jüdische Einwanderung stark eingeschränkt. Daher waren die rettenden jüdischen Transporte aus Europa nach Palästina meist illegal. Bei Nacht und Nebel gingen die Menschen an Land und versuchten, die englischen Wachmannschaften zu umgehen. Das gelang auch Anna mit ihrem Bruder.
Hinter ihnen lag die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung nach dem sogenannten „Anschluss“, dem Einmarsch der deutschen Truppen und die Annexion Österreichs an Hitler-Deutschland.

Schatten über der Kindheit
Anna, die Tochter des Malermeisters Eduard und seiner Gattin Margarete Uprimny, war als ältestes Kind 1920 in Steyr auf die Welt gekommen. In Steyr verbrachte sie eine glückliche Kindheit. Sie war eine begeisterte, gute Schülerin. Sowohl die Volksschule als auch die Bürgerschule und die kaufmännische Fortbildungsschule blieben ihr vor allem wegen ihrer Lieblingslehrerinnen in guter Erinnerung.
Doch in den 1930er Jahren häuften sich antisemitische Vorfälle. Als Anna mit ihrem Bruder eines Tages in der Schwimmschule baden war, gingen zwei Halbwüchsige auf sie los und schrien: „Juden raus! Ihr verpestet das Wasser!“ Das war nicht der einzige Vorfall, sowohl Kinder, aber auch Erwachsene sparten nicht mit antisemitischen Äußerungen. So erzählte der katholische Religionslehrer zu Ostern die Leidensgeschichte Jesu mit der Bemerkung, die Juden seien der Abschaum der Menschheit. Auch das Kindermädchen der Familie kündigte, als es erfuhr, dass es bei einer jüdischen Familie arbeitete.
Annas Vater war ehrenamtlicher Sanitäter und sozialdemokratisch eingestellt. In den 1930er-Jahren herrschte Not und Elend in Steyr, auch die wirtschaftliche Lage der Familie Uprimny verschlechterte sich.

Der „Anschluss“ und die Folgen
Anna erlebte den „Anschluss“ im März 1938 in Steyr. Hakenkreuzfahnen prägten das Stadtbild, plötzlich trugen viele das Hakenkreuz-Abzeichen. Mit dem Anschluss waren dem Antisemitismus keine Schranken mehr gesetzt. Annas Bruder Fritz wurde aus dem Boxclub ausgeschlossen und vom Turnplatz verwiesen. Die Kunden blieben dem Geschäft ihres Vaters fern.
Die Auswanderung stand im Raum, die Eltern sorgten sich vor allem um ihre Kinder. Anna machte eine landwirtschaftliche Ausbildung bei einem jüdischen Landwirt in Haidershofen, um sich für ihr künftiges Leben in Palästina vorzubereiten.
Ihr Vater wurde schon im Juli 1938 verhaftet, bald darauf ging er nach Wien.

Die „Pogromnacht“ in Steyr
Anna Berger, geborene Uprimny, erinnerte sich:
"Die Stimmung war traurig. Am 10. November 1938 um 5 Uhr morgens verhaftete man uns. Man nannte es “Schutzhaft”. (Neuhauser, Waltraud – Neuhauser Georg: Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt, Grünbach 1998, 111)
Die Familie aus dem Schlaf gerissen und inhaftiert - die Mutter, Anna, aber auch ihre beiden Brüder Dolfi und Heinzi. Anna wurde geohrfeigt und in Einzelhaft gesperrt. Während ihrer Haft wurde die Wohnung verwüstet und ein Foto davon öffentlich zur Schau gestellt. Als die Mutter nach ihrer Entlassung das Chaos in ihrem Haus erblickte, wurde sie wütend, die Mitbewohner denunzierten sie und sie wurde abermals inhaftiert.

Abschied und Flucht
Der Vater war zu diesem Zeitpunkt in Wien, auch die Mutter musste mit ihren Kindern nach Wien übersiedeln. Eine weitere Tochter, Mirjam, kam dort 1939 zur Welt. Margarete korrespondierte mit zwei befreundeten Frauen aus Steyr, denen sie ihre schwierigen Lebensumstände und ihre Zukunftsangst schilderte.
Anna flüchtete mit ihrem Bruder Dolfi Ende November 1938 nach Palästina, ihrem älteren Bruder Fritz gelang dies 1939 von der ČSR aus ebenso.
Erst nach Kriegsende wurde zur traurigen Gewissheit: Ihre Eltern, Eduard und Margarete mit den kleinen Kindern Heinzi und Mirjam, aber auch ihre Tante Ella Sternschein, die mit der Familie in Steyr am Wieserfeldplatz gewohnt hatte, wurden im Holocaust ermordet.

Neubeginn in Palästina
Anna heiratete 1940 Adolf Berger und lebte fortan als Landwirtin. Sie brachte zwei Töchter, Jael und Sarah, zur Welt.
Gern erinnerte sie sich an Steyr, überall in ihrem Haus hingen Bilder von ihrer ehemaligen Heimatstadt. Sie empfand keinen Hass, dennoch hat sie nie verstanden, warum ihr Bruder Fritz nach Steyr zurückgekehrt war.
1948 wurde der Staat Israel gegründet. Anna verfolgte die politische Entwicklung mit kritischem Blick. Sie war traurig über den Zwiespalt zwischen den Parteien und sie ängstigte sich vor Fanatikern sowohl auf jüdischer als auch auf palästinensischer Seite. Sie war überzeugt, dass man auch mit Arabern friedlich zusammenleben könne.
Im Rahmen eines Interviews aus dem Jahr 1997 meinte sie:
Es gibt keine Alternative zum Frieden, aber ich werde keinen Frieden mehr erleben, und ich habe Angst davor, dass nicht einmal meine Enkel Frieden haben werden.“ (Neuhauser - Neuhauser, Fluchtspuren, 117)

Sie sollte recht behalten: Ihr Enkel Adi und ihre Urenkel Guy, Ziv, Tomer und Ratem wurden nach dem barbarischen Terroranschlag der radikalislamischen Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023 zur Armee einberufen. Der Krieg in Nahost mit zahlreichen Todesopfern auf beiden Seiten droht zu eskalieren. Der Antisemitismus nimmt in aller Welt zu, jüdische Einrichtungen müssen wieder verstärkt vor Terrorangriffen geschützt werden.
Dies musste Anna nicht mehr erleben, sie verstarb 1998. Doch mit der Einberufung der direkten Nachkommen wird eine neue Seite in der Familiengeschichte der Anna Berger aufgeschlagen, die offensichtlich noch nicht zu Ende geschrieben ist. Die Hoffnung, dass das Land Frieden erleben wird, ist wieder in die Ferne gerückt.

©Waltraud Neuhauser-Pfeiffer

Anmerkung:
Der vorliegende Text beruht auf Interviews, die mit Anna Berger 1995 und 1997 in Kfar Jedidia, Israel, von Waltraud und Georg Neuhauser geführt wurden.

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