Traumatherapie / Psychologie / Trans*Identitäten
Pathologisierung, Traumatheorien und Trans*Geschlechtlichkeit
Retraumatisierungen durch völlig veraltete Erklärungsmodelle von Trans*Identität
Noch immer spuken in der Psychologie und Psychotherapie völlig veraltete, trans*negative Theorien herum, dass Traumatisierungen in Kindheit und Jugend zu Trans*Geschlechtlichkeit führen würden. So wird etwa jungen Trans*Menschen gar nicht so selten unterstellt, dass sie nur deshalb transgender, transident, transsexuell oder genderfluid seien, weil sie psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt von einem Elternteil erfahren haben.
Immer wieder habe ich Klient*innen, die erleben mussten, dass sie von Psychiater*innen, Psycholog*innen oder Psychotherapeut*innen pathologisiert wurden und dass ihre Trans*Geschlechtlichkeit auf Traumatisierungen zurückgeführt wurde. Diese Traumatheorien, die früher auch bei der Erklärung der Homosexualität beliebt und verbreitet waren, haben sich als ein Irrtum herausgestellt. Sämtliche jener Erklärungsmodelle sind übrigens Defizitmodelle, da sie Trans*Geschlechtlichkeit als eine negative Copingreaktion auf Traumatisierungen betrachten.
Ich vermisse hier Erklärungsversuche der Cis-Identitäten, d.h. wie Menschen sich entwickeln, dass sie sich in ihrem biologischen Geschlecht wohl fühlen (Geschlechtseuphorie). Sehr viele Menschen, die cis sind, sind schwer traumatisiert. Könnte nicht dann auch, provokant formuliert, die Cis-Identität eine Copingreaktion auf eine Traumatisierung sein?
Aufgrund der pathologisierenden Grundhaltung der Psy-Berufe gegenüber Trans*Personen ist heute eine wertschätzende, phänomenologische Diskussion und Erforschung, inwieweit Traumatisierungen die Genderidentitäten (auch die Cis-Identität) beeinflussen, kaum noch möglich.
Auch Trans*Personen sind manchmal Erklärungsmodelle wichtig, weil diese den Druck, die eigene Trans*Geschlechtlichkeit zu rechtfertigen, vermindern. Tatsächlich gibt es aber bis heute kein einziges Erklärungsmodell, das wirklich überzeugen kann oder plausibel ist, und sämtliche monokausalen Theorien zur Entstehung oder Entwicklung der Trans*Geschlechtlichkeit haben sich als Irrtum erwiesen.
Da Trans*Geschlechtlichkeit extrem vielschichtig und vielseitig ist (von Transidentität, über genderfluid, polygender, gender-queer, agender, non-binary bis hin zu Cross-Dressing finden sich hier ganz unterschiedliche Phänomene der menschlichen und geschlechtlichen Identitäten), würde es mich auch wundern, wenn es hier ein allgemeingültiges Erklärungsmodell gäbe.
Letztlich dürfen wir wohl alle akzeptieren, dass Trans*Identität eine Form des menschlichen Seins ist, dessen Ursache nicht gefunden werde kann (oder muss) und dass radikale Akzeptanz und Selbstakzeptanz viel wichtiger sind, als der verzweifelte Versuch, sich an fadenscheinige Entstehungstheorien zu klammern.
Trans‘*Geschlechtlichkeit kann in unterschiedlichen Lebensabschnitten auftreten, obwohl sie das bei vielen Menschen bereits in der ganz frühen Kindheit tut, oft zeitlich vor schweren Traumatisierungen. Zudem entstehen Traumatisierungen ja auch gerade dadurch, dass das soziale Umfeld die Trans*Geschlechtlichkeit gewaltvoll sanktioniert und Trans*Personen diskriminiert werden (Beschimpfungen, Mobbing, Bullying, körperliche und seelische Gewalt). Man könnte auch sagen: Menschen haben trotz schwerster Traumatisierungen den Mut, die Kraft und die personalen Ressourcen, ihre Trans*Geschlechtlichkeit zu spüren und diese authentisch zu leben. Insofern können auch die Trans*Geschlechtlichkeit und der Stolz darauf Ressourcen und Kraftquellen sein.
Psychotherapie, Beratung und Coaching sollten zur Selbstfürsorge, zum Ausprobieren, Kennenlernen, Erkunden, Riskieren anregen und ermutigen und Entwicklungshilfe geben. Das ist aber nicht möglich, wenn Trans*Menschen Traumatisierungen und Traumafolgestörungen verschweigen müssen, weil sie spüren, dass ihre Helfer*innen damit nicht umgehen können, problematischen Ursachentheorien anhängen oder denken, dass sich Trans*Geschlechtlichkeit aufgrund von Traumatisierungen entwickle.
Mir sind Trans*Personen bekannt, denen ein Gutachten zur Befürwortung geschlechtsangleichender medizinischer Maßnahmen verweigert wurde, weil ihre Psychotherapeut*innen ihre Trans*Identität aufgrund von Traumatisierungen angezweifelt hatten.
Insofern ist die Sorge und Zurückhaltung vieler Trans*Personen, Gutachter*innen und professionellen Helfer*innen von ihren Traumen zu erzählen so unberechtigt nicht. Die berechtigte Angst zwingt aber zum sich-Verstellen und zur Überanpassung an die Normen der Helfer*innen, was viele Trans*Personen ohnehin in ihrer Biographie oft genug tun mussten und wiederum (re-)traumatisieren kann. Insofern können auch professionelle Helfer*innen, die veralteten Entstehungsmodellen der Trans*Identität anhängen, für Traumen verantwortlich sein.
Halten wir uns vor Augen: Wer trotz schwerer Traumatisierungen und Traumafolgestörungen zu seiner Trans*Identität findet, leistet Enormes und muss über erstaunliche innere Kräfte und Ressourcen verfügen. Einer Trans*Person aufgrund Traumatisierungserfahrungen (und unhinterfragten, völlig veralteten Pathologiemodellen) geschlechtsangleichende Maßnahmen zu versagen, ist unmenschlich, verstößt gegen jede professionelle Ethik und ist eine Verletzung der Menschenrechte.
Autor: Florian Friedrich
Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision
(Logotherapie und Existenzanalyse)
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