Familienflüsterer Dr. Streit
Wertschätzend miteinander umgehen
Jetzt haben wir ihn, den vierten Lockdown und die Temperaturen steigen. Hier sind die Befürworter, dort die Leugner und Impfgegner. Hier die Vernünftigen, dort die Verrückten. Und beide haben einen gemeinsamen Schuldigen – die Regierung. Es schaukelt sich auf, wechselseitige Drohungen bleiben nicht aus, leider auch nicht erste Gewalttaten. Wo sich aufschaukelnde Szenarien, Drohungen und Gewalt enden können, wissen wir nur allzu gut aus der Geschichte, aber auch im Kleinen aus zahlreichen Scheidungs- und Familientragödien. Das Muster des Aufschaukelns ist immer dasselbe: Der andere muss sich ändern und einsehen, sonst geht nichts. Dafür entmenschlichen und beschämen wir ihn, wenn er nicht klein beigibt.
Moderne Kommunikations-, Friedens- und Umgangsforschung zeigt: Dies führt über kurz oder lang zu Pogromen der Vernichtung, aber nie zu einer Lösung mit Menschenwürde. So kann es nicht gehen. Das, was hilft, hat Altbundespräsident Heinz Fischer gesagt: Aufeinander zugehen und sich begegnen. Das Festhalten daran, dass der oder die andere ein menschliches Wesen ist, das Wertschätzung verdient und Bedeutung hat, auch wenn es noch so abwegige Ansichten hat.
Dies ist schwer zu denken, da wir oft ganz anders fühlen, wenn wir hochgefahren sind. Gerade aber für die Pandemie in ihrer jetzigen Situation heißt das: Wir schaffen es nur miteinander. Das heißt nicht, dass wir nicht klar unsere Meinung sagen können, für das Impfen etwa, einen Lockdown oder die Impfpflicht. Aber was zählt, ist der Respekt und das Wahren der Würde des anderen auch bei konträren Meinungen. Nur durch das aufeinander zugehen und Austauschen oft gegensätzlichster Meinungen kann es über kurz oder lang zu einem Miteinander kommen. Die Gemeinschaft und die Würde überwiegen. Das ist durchaus herausfordernd, hier nun aber einige Vorschläge, wie es gelingen kann.
- Fangen Sie wie üblich bei sich selbst an. Halten Sie inne: Was macht Sie wütend? Was steckt dahinter? Ist es Ihre Angst? Ihre Sorge?
- Nutzen Sie diese Energie: Seien Sie lieb zu sich selbst, wertschätzen Sie sich selbst. Registrieren Sie Ihre Gedanken.
- Gehen Sie auf den anderen zu. Üben Sie Begegnung. Gehen Sie mit dem anderen in Resonanz. Sie können das ja aus Ihren engen Beziehungen.
- Wertschätzen Sie den anderen durch eine kleine Geste, ein in die Augen schauen, ein Zulächeln, ein Innehalten.
- Hören Sie zu, was er oder sie zu sagen hat.
- Finden Sie dabei gute Motive. Lassen Sie ein gutes Haar an den Aussagen des anderen, finden Sie das Weiterführende, Nützliche.
- Sagen Sie durchaus Ihre Meinung, Sie können auch dabeibleiben, aber unter Beibehaltung der Würde und der Beziehung zum anderen.
- Finden Sie dann das gemeinsame Weiterführende.
- Wenn es nicht gelingt, probieren Sie es noch einmal.
- So kann durch aufeinander Zugehen auch eine Lösung für die unwahrscheinlichen Dinge gelingen.
Der Experte
Dr. Streit Philip Streit ist klinischer Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut, Lebens- und Sozialberater. Seit 1994 leitet er das „Institut für Kind, Jugend und Familie“ in Graz, das auch jetzt für Sie unter 0316/77 43 44 da ist.
Web: www.ikjf.at
Haben Sie Fragen, wie sie ihr Leben gestalten sollen, brauchen Sie Rat? Ihre Fragen an Dr. Philip Streit gerne jederzeit an: redaktion.graz@woche.at
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