Lesung mit Sepp Mall bewegte Imster Publikum
Ergreifender Roman zur Auswanderungsgeschichte einer Südtiroler Familie

Mit der Lesung aus seinem jüngsten Werk gab Sepp Mall Einblicke in die berührende Geschichte und in seine feinfühlige Art des Erzählens.
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  • Mit der Lesung aus seinem jüngsten Werk gab Sepp Mall Einblicke in die berührende Geschichte und in seine feinfühlige Art des Erzählens.
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IMST(alra). Der renommierte Vinschgauer Schriftsteller Sepp Mall folgte kürzlich der Einladung der Tyrolia Imst in die Stadtbühne, um sein neuestes Buch "Ein Hund kam in die Küche" vorzustellen. Nach einem eingehenden Autorengespräch, geführt von Anna Rottensteiner, der ehemaligen Leiterin des Literaturhauses am Inn, folgte eine Lesung aus dem Werk, das 2023 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Gut 90 Zuhörer*innen ließen sich berühren von der sensibel und tiefgründig erzählten Auswanderungsgeschichte einer Südtiroler Familie, die unmittelbar mit den grausamen NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderung verbunden ist.

Folgenschwere Entscheidungen

Die Handlung des Romanes ist literarisch feinsinnig aufbereitet und aus der Perspektive eines Elfjährigen erzählt, der sich trotz der Abgründe von Krieg und Nationalsozialismus seinen Weg des Kindseins bahnen muss. Der heranwachsende Ludi schildert Ereignisse, die sich schwer begreifen lassen und von ihm kindlich eingeordnet werden. Als die Familie – in erster Linie der Vater – 1942 beschließt, ins Deutsche Reich auszuwandern und das vertraute Dorf in Südtirol zu verlassen, beginnt eine Odyssee voller Abschiede, Angst, Sehnsucht und menschlichem Leid, die letztendlich auch zu den NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderung führt. Es ist jedoch auch eine Geschichte leiser Zuversicht, innerer Stärke und Verbundenheit, die irgendwann wieder im Heimkehren mündet.

Dramatische Ereignisse

Besonders ergreifend nimmt sich die innige Beziehung zwischen Ludi und seinem Bruder Anton, genannt "Hanno" aus, der in Folge von Geburtskomplikationen mehrfache Behinderungen davongetragen hat. Hanno wird auf ärztliches Anraten in ein Heim in Tirol gebracht – dort soll ihm eine bessere Entwicklung angedeihen. Die Familie zieht weiter nach Oberösterreich und der Vater geht an die Front. Ludi und seine Mutter sind auf sich gestellt, auch als sie die Nachricht vom Tod Hannos erreicht. Er ist laut amtlicher Mitteilung in Kaufbeuren angeblich an einer Lungenentzündung gestorben. Die Wahrheit über Hannos Tod bleibt unausgesprochen – wie so vieles. Sie offenbart sich jedoch der Leserschaft durch den Bezug zur realen Vergangenheit und das Wissen um die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee als eines der Zentren für die staatlich organisierte NS-Euthanasie. Der kleine Hanno ist folglich eines von unvorstellbar vielen Opfern des NS-Regimes, die aufgrund ihrer körperlichen oder psychischen Erkrankung bzw. ihrer Arbeitsunfähigkeit medizinischen Versuchen ausgesetzt bzw. ermordet wurden.

Trauer eines Kindes

„…alle von uns müssten Opfer bringen, auch wenn das schwer sei, aber das sei man dem Volkskörper schuldig. Dem gesunden Volkskörper sei man das schuldig“,

entnimmt Ludi einer Unterhaltung von Bekannten, kurz nachdem die Familie die Todesnachricht erhalten hat. Den Tod des Bruders versucht er zu kompensieren, indem er ihn in seiner Vorstellung wieder zurück ins Leben und an seine Seite holt – womöglich um zu verarbeiten, was zu groß für eine Kinderseele ist. Den jähen Verlust ohne Abschied paart Ludi mit kindlicher Zuversicht:

„Manchmal dachte ich daran, wie mir Mutter erklärt hatte, dass man nie ganz tot war, auch wenn man gestorben war, und deshalb hoffte ich, dass auch mein Bruder eines Tages wieder auftauchte.“

Sprache voller Nähe und Berührbarkeit

Die Sichtweisen eines Kindes, das den Ereignissen selbst Worte und Schlussfolgerungen verleihen muss, weil ihm vieles nicht erklärt wird oder oftmals die Eltern bzw. das Umfeld im eigenen Schmerz und der Hilflosigkeit keine Worte für das Unaussprechliche finden, geben dem Roman eine besondere Intensität. In ihr verdichten sich Emotionen und Stimmungen in einem Sprachraum, dem Deutlichkeit ebenso innewohnt wie Behutsamkeit. Betont wird dies auch durch die Tatsache, dass Ludi, der Zeit, die vor ihm liegt – der Zukunft – keinen Ausdruck verleiht, ihr keine Worte gibt. Alles ereignet sich in einem Jetzt, in einer Aktualität, die auch für die Leserschaft zu einer unmittelbaren Jetzt-Erfahrung wird. In einfühlsamer Erzählweise konfrontiert Sepp Mall mit existenziellen Fragen der Menschlichkeit. Er richtet einen klaren Blick auf Abgründe, aber auch auf Verbundenheit, Mut und die Hoffnung nach der selbst in den dunkelsten Zeiten – auch von Kinderhänden – immer wieder gefasst wurde. Mall verleiht Ludis Gedanken atmosphärische Bilder, die sich anmutig, teils in Leichtigkeit entfalten:

„Wenn man es schon in einer kleinen Glaskugel schneien lassen konnte, dann müssten auch andere Dinge möglich sein, Dinge, die man sich im Augenblick nur nicht vorstellen konnte.“

Geschichte bewahren – dem Schweigen entgegentreten

Der Roman ist ein literarisch anspruchsvoller Beitrag zur Erinnerungskultur. Er verdeutlicht die unverzichtbare Rolle von Literatur in der Bewahrung unserer Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses. Von teils folgenschweren politischen Programmen, von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bis zu den verheerenden Ausmaßen ideologische Muster finden sich große, zentrale Themen, in die das Kindsein eingebettet ist. Themen, die erschüttern, ergreifen und als Grundlage für Auseinandersetzung dienen. So geschehen auch in Imst – wo Sepp Malls Werk im Rahmen von Lesung und Gespräch das Publikum berührte und begeisterte sowie zum Austausch anregte.

Zum Autor:
Sepp Mall wurde 1955 in Graun (Südtirol) geboren. Er hat in Innsbruck studiert und lebt als Schriftsteller in Meran. Für sein literarisches Wirken hat er zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Etwa den Meraner Lyrikpreis, das Staatsstipendium des österreichischen Bundesministeriums, das Große Literaturstipendium des Landes Tirol.

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