Corona-Dokumentation
Ja, ich habe mit heftigen Reaktionen gerechnet.

Der Christkindlmarkt Innsbruck im Lockdown.  | Foto: Jan Hetfleisch
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  • Der Christkindlmarkt Innsbruck im Lockdown.
  • Foto: Jan Hetfleisch
  • hochgeladen von Georg Herrmann

INNSBRUCK. Das Foto „Der Engel von Taksim“ war das Pressefoto des Jahres. Im Sommer 2021 wurden er und ein kleines Team der Fotoagentur für seine Arbeit über die globalen Auswirkungen der Corona-Pandemie als Pulitzer-Preis Finalist geehrt. Jan Hetfleisch ist Fotograf. Er hat das Auge für die Aufnahmen und sieht Fotos auch als Antworten auf Fragen. Fotos des leeren Christkindlmärkte in Innsbruck bewegen und führen auf Facebook zu heftigen Reaktionen.

Herr Hetfleisch. Sie haben Fotos der leeren Innsbrucker Christkindlmärkte online gestellt, was war die Motivation dafür?
Jan Hetfleisch: Ich arbeite derzeit neben der aktuellen Berichterstattung auch an einer Dokumentation über Tirol in der Corona-Zeit. Natürlich gehört zu diesem Thema die Adventszeit mit ihren Christkindlmärkten, speziell jetzt da wir wieder im Lockdown sind.
Wo sich sonst Hunderte oder Tausende tummeln und sich vergnügen, herrscht nun eine Ruhe, die man so nicht kennt. Am Dienstag, den 30. November, hat es geschneit. Für mich eine gute Gelegenheit, diese vordergründig romantische, aber auch melancholische Stimmung einzufangen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen – finde ich. Darum habe ich beschlossen, einen kleinen Teil auch auf Socialmedia zu teilen. Auch wenn die Bilder so ruhig und friedlich aussehen, so lauern im Hintergrund eine globale Tragödie, bewegende Schicksale und unendliches Leid. Um das klarzumachen und erst keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, habe ich diese Zeilen zu den Bildern geschrieben. Denn etwas zu romantisieren, wo keine Romantik ist, ergibt auch ein falsches Bild.

Das Posting

"Ich hätte heute bei dem Rundgang durch Innsbruck gern eine Tasse Glühwein getrunken. Aber irgendwelche Leute - nicht zu sagen Idioten, die das mit der Eigenverantwortung und der gemeinschaftlichen Verantwortung bis heute nicht verstanden haben, haben mir (und tausenden anderen) dieses Vergnügen zunichte gemacht. DANKE !!!!!!!"
Jan Hetfleisch, Facebook, 71 Kommentare, 142 Likes

Foto: Jan Hetfleisch

Haben Sie mit den teils heftigen Reaktionen in den Kommentaren gerechnet? Vor allem mit dem Feedback Ihrer internationalen Arbeit und Erkenntnisse über viele vom Schicksal schwer getroffenen Gebieten, ist diese Emotionalisierung nachvollziehbar?
Ja, ich habe mit heftigen Reaktionen gerechnet. Ich habe mich auch nicht vornehm zurückgehalten, und andere als Idioten bezeichnet. Damit meinte ich nicht nur die Ungeimpften, die offenbar unfähig oder zumindest Unwillens sind den Zusammenhang zwischen leeren Adventmärkten und ihrem egoistischen Verhalten zu erkennen. Sondern auch Geimpfte, die glauben, dass es allein mit den Impfungen getan ist und sie danach tun und lassen können, was sie wollen.

Ich wollte, dass sich jeder darüber Gedanken macht, was gesellschaftliche Verantwortung und Eigenverantwortung im Sinne unserer Gemeinschaft heißt.

Wie sich das Posting entwickelt hat, ist erstaunlich. Eine Gruppe ging als Reaktion sofort auf Angriff – fast so als würden sie sich ertappt fühlen. Viele wollten wissen, wer nun die Schuldigen aus meiner Sicht – die Idioten - seien. Darauf gibt’s nur eine Antwort: Es sind diejenigen, die sich in einer (Krisen)-Situation nicht entsprechend verhalten, die Fakten ignorieren, die Regeln der Behörden missachten, die Rattenfängern folgen nur weil es für einen selbst bequemer erscheint.

Man kann auch nicht nach Afghanistan reisen und so tun, als ob die Lage dort einen nichts angeht… als ob es den Krieg nicht gäbe. Im schlimmsten Fall fängt man sich eine Kugel ein – selbst wenn man eine Schutzweste trägt. In der Gesundheitskrise ist das ähnlich: im schlimmsten Fall fängt man sich das Virus ein.

Foto: Jan Hetfleisch

Können Bilder von Menschen und Ländern, in denen es wirklich keine Freiheit gibt, in denen Diktatur herrscht und soziale Nöte das Leben prägen, eine Meinungsänderung bringen?
Ob Bilder etwas bewirken können? Ja. Bilder sind viel konkreter als Worte. Bilder können die Sichtweise auf Dinge dramatisch verändern. Sie erzeugen wahrhafte Emotion – und genau darum bin ich Fotojournalist und Reporter geworden.

Genau deshalb wollen Regime oder Diktaturen eine Gleichschaltung von Medien erzwingen, die Bilder kontrollieren. Kritische Berichterstattung und emotionale Motivation gegen das Regime gibt es dann nicht. Freie Journalisten sind daher unerwünscht, werden unterdrückt, verfolgt, eingesperrt oder sogar getötet.

Hier in Österreich ziehen jetzt viele Vergleiche mit dem NS-Regime. Aber wir sind weit weg von einer Diktatur – in jeder Hinsicht. Demonstrationen ziehen durch die Stadt, jeder noch so abstruser Meinung basierend auf „alternativen Fakten“ wird Platz in den wichtigsten Nachrichtensendungen eingeräumt. Das ist Meinungsfreiheit. Wer da anderer Ansicht ist, darf mich gern mal auf einer Reise begleiten.

Das Schlimme an dieser Pandemie, an unserer aktuellen Krise ist, dass die meisten Opfer anonym bleiben. Von Beginn an haben die Bilder hier in Österreich gefehlt. Und damit die emotionale Verbindung zwischen den Zahlen in den Nachrichten und menschlichen Schicksalen in den Intensivstationen und darüber hinaus. Ich selbst wollte zu Beginn der Krise Fotos aus den Kliniken bringen: Weil jede Krise benötigt ein „Gesicht“, damit sie ernst genommen wird, damit sie als real empfunden werden kann. Leider wurde das mir und vielen Kollegen verwehrt mit den Argumenten die Privatsphäre der Patienten und der Gefahr vor einer Infektion schützen zu wollen.

Das macht heute den Unterschied zwischen Österreich und Deutschland und Italien beziehungsweise Spanien aus. Hier ist die Krise anonym, sind die Opfer unsichtbar. Dort hat sie Namen und ein Gesicht, ist sie emotional nachvollziehbar, kann mit alternativen Fakten nur schwer unglaubwürdig gemacht werden. Deshalb sind Bilder so wichtig. Damit wir die Realität der Krise erkennen und anerkennen und solidarisch handeln.

Foto: Jan Hetfleisch

Welches Foto aus Innsbruck würden Sie gerne machen?
Wenn ich sowas wie eine Wunschliste habe, was ich noch in Innsbruck oder Tirol noch gerne zur Dokumentation fotografieren würde, dann diese:

  • Wie sieht ein Zusammenleben einer Familie im Lockdown in einer kleinen Wohnung aus?
  • Wie sieht die Arbeit in den Kliniken aus – vor auf der Intensiv aus?
  • Gibt es zerstrittene Familienteile, die in der Krise wieder zusammengefunden haben?

Und wie bei all meinen Geschichten geht es mir nicht um eine schnelle Aufnahme, sondern um eine facettenreiche Reportage.

Foto: Jan Hetfleisch

Jan Hetfleisch

Jan Hetfleisch war langjähriger Redakteur einer Tageszeitung. Seit 6 Jahren ist er Reporter und Fotojournalist bei der weltgrößten Fotoagentur GettyImages unter Vertrag. Neben dem Tiroler Werbepreis „Tirolissimo“ gewann er 2014 den APA-Objektive Fotopreis. Das Foto „Der Engel von Taksim“ war das Pressefoto des Jahres. Das Bild von der Zerstörung der philippinischen Stadt Tacloban durch den Taifun Haiyan belegte beim World Photographic Cup den 5. Platz.  Im Sommer 2021 wurde er und ein kleines Team der Fotoagentur für seine Arbeit über die globalen Auswirkungen der Corona-Pandemie als Pulitzer-Preis Finalist geehrt.

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