Quarantäne-Tagebuch
Von der Kunst des Bettrichtens

Großmutter und mein Vater im Jahr 1946.
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Meine Großmutter war eine sehr alte Frau. Sie ist 1913 in einem Land geboren, das es gar nicht mehr gibt: in der K.u.K.-Monarchie. Gestorben ist sie im 21. Jahrhundert, in der gleichen Stadt, in der sie auf die Welt gekommen ist. Sie wurde 93 Jahre alt. Ich habe viele Erinnerungen an sie, aber in letzter Zeit kommt besonders eine immer wieder hervor. Jene, über das Bettrichten. Wie das mit der aktuellen Lage zusammenhängt, erfahren sie in diesem Beitrag. Langeweile trifft Philosophie und Nostalgie.

INNSBRUCK. Ich bin die jüngste Tochter meines Vaters und so kam es, dass ich eine Großmutter in einem Alter hatte, in dem andere ihre Ur-Ur-Großmutter. Mami, wie wir sie alle nannten, lebte in Baja, einer kleinen staubigen Stadt im Süden Ungarns. Berühmt ist die Stadt von ihrer Fischsuppe, die über offenem Feuer aus frischgefangenem Karpfen aus der Donau kredenzt wird. Eine Aufgabe der Männer – dazu gibt es Streichholznudeln, die wiederum nur von Frauenhand gemacht werden. Im Fall der aktuellen Erzählung ist diese Tatsache zwar nebensächlich, gehört aber zu jeder Geschichte, die ich über meine Familie erzähle. Somit bekommt man ein Gefühl für die Stadt, in der meine Großmutter ein Großteil ihres Lebens verbracht hatte.

Da auch mein Großmutter die jüngste Tochter ihrer Eltern war, hatte sie Geschwister die noch Ende des 19. Jahrhunderts geboren waren und sogar im 1. Weltkrieg kämpften. Der Bruder – Duci bacsi – kam nach einer Gefangenschaft in Russland aus dem Krieg zurück und wurde zu einer Zeit Kommunist als das noch überhaupt nicht üblich war. Er heiratete – obwohl er aus einer gutbürgerlichen Familie kam – zum Entsetzen seiner Mutter eine Roma-Frau. Was im Späteren ein ziemliches Glück war, denn die Roma Frau konnte jede Menge Sprachen, so auch Serbisch, was im zweiten Weltkrieg – als die Russen dann ins Land kamen – als eine Kenntnis galt, die Leben retten konnte. Und die Familie zu Fleisch und Verständigung mit den Soldaten verhalf.

Großmutter im Jahr 1934.

Aber auch das ist nebensächlich, denn in dieser Erzählung geht es um meine Großmutter, die bis zu ihrem Lebensende eine ziemlich fitte Frau war. Sie lebte in Budapest im Zweiten Weltkrieg, weil sie als Sonderpädagogin dorthin versetzt wurde. Und in der Stadt gab es nicht besonders viel Essen. Und obwohl meine Großmutter ziemlich lange alle um sie buhlende Männer abwehrte, kam einer auch nach Budapest nach und brachte ihr ein Huhn, das im Schrank lebte und für sie in der Kriegszeit Eier legte. Dieser Mann wurde mein Großvater – trotz dem, dass er geschieden war. Eine große Schande zu der Zeit. Aber der Krieg mischte die Karten auch in Liebes- und Heiratsgewohnheiten neu. Nachdem meine Großmutter zahlreiche Fehlgeburten hatte, kam mein Vater im September 1945 zur Welt. Es gab nicht viel zu Essen, viele Gebäude waren zerbombt, alle schliefen in einem Raum, um nicht so viel heizen zu müssen. Es war Kommunismus und meine Familie auf der schwarzen Liste. Das Leben war für Menschen, die aus gutbürgerlichen Familien stammten, schwer.

Als ich zur Welt kam, war der Kommunismus so gut wie vorbei und wir konnten alle wild im Westen einkaufen. Jeanshosen, Mc Donald's, alles, was das Ostherz begehrte, durfte endlos konsumiert werden. Während meine Familie auf der Suche nach einem besseren Leben in Deutschland war, blieb meine Großmutter mit ihrer Schwester – die eine wurde nach wenig Jahren Ehe Witwe, die andere heiratete nicht  – in diesem alten Familienhaus, in dem sie geboren wurden.

Großmutter im Wald.

Die Wände waren aus Lehmziegelsteinen, die Straße vor dem Haus aus Kofsteinpflaster, die von Platanen gesäumt war. Ich habe viele Sommer in diesem Haus verbracht, das drei Zimmer hatte und daher musste ich immer mit meiner Großmutter in einem Zimmer schlafen. Früher auf einer alten Bank, die noch von der Urgroßmutter übrig geblieben war, und als ich zu groß für die Bank wurde auf einem ausklappbaren Polstersessel. Mit den Jahren ist das Haus so sanierungsbedürftig geworden, dass ich von Wochenende zu Wochenende immer neue Risse entdeckte während ich im Bett lag und auf die Decke starrte.

Irgendwann, als der Krieg in Jugoslawien wütete und die Nato über unseren Köpfen hinweg die Düsenjets in unser Nachbarland schickte, rieselte es aus den Rissen des Hauses Sand in mein Gesicht. Manchmal wachte ich auf, denn es kitzelte. Und manchmal bekam ich Angst, dass das Haus zusammenbricht und deshalb nahm ich meine Decke und schlief lieber im Auto. Am nächsten Tag wurde gestaubsaugt.

Großmutter und Großvater Ende der 30er Jahre.

Es veränderte sich viel während der Jahre, aber eins ist immer gleich geblieben: Mami und ihre Schwester, Tantusch, achteten auch in ihrem hohen Alter darauf, dass ihre Betten ordentlich gerichtet sind. Sie hatten kleine Betten, in denen ein Mensch grade mal Platz hatte, aus massivem, dunklen Holz und vielen harten Federn in der Matratze und ich fragte mich immer, wie sie das schafften. Obwohl sie so zerbrechlich waren und den ganzen Tag in ihren tiefen Sesseln saßen, waren ihre Betten wie beim Militär gerichtet. Straff, keine Falten im Stoff, die Decke und das Polster darunter ebenmäßig verteilt. Ein Ritual, das sich durch ihr ganzes Leben gezogen hat. Ein Ritual, das ihnen versicherte: Sie haben alles in ihrer Macht stehende für einen guten Schlaf getan.

Ein Ritual, das ich für mich in der Quarantäne entdeckt habe. Der Zauber des ordentlichen Bettes. Was bisher nur eine Last war  – schnell, schnell eine Tagesdecke über die zerknäuelte Nacht legen – ist heute für mich das einzig sichere. Egal ob es regnet, schneit, Ausgangssperren erlassen werden, ich zerlege mein Bett in Stücke und lege es wieder ordentlich zusammen. Es wird nie so penibel wie das von der Großmutter und ihrer Schwester sein – dafür fehlen mir die Jahre in der Klosterschule, die sie besucht haben –, aber es ist meine tägliche Ordnung in einer Welt, die soeben Kopf steht.

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