Wie ich im achten Lebensjahr das Ende des Tausendjährigen Reiches in Altenberg erlebte

Als der Regionalhistoriker Erwin Gruber vor etwas mehr als einem Jahrzehnt an der Geschichte von Altenberg an der Rax arbeitete, bat er mich um einen Zeitzeugenbericht. Teile davon verwendete er als Bausteine für die Chronik unseres Heimatdorfes. Das gegenwärtige Gedenken an das Kriegsende vor 70 Jahren ist eine Gelegenheit, den Bericht ungekürzt zu veröffentlichen.

Erinnerungen an die Kindheit sind natürlich lückenhaft. Aber in einer bewegten Zeit prägen sich einzelne Bilder ein. Ich werde zum Beispiel den Tag nicht vergessen, als auf Mürzzuschlag die Fliegerbomben fielen und ich als Kind in der Hofeinfahrt spielte. In jenen Märztagen 1945 gab es fast jeden Tag Fliegeralarm und irgendwann wurde auch der Schulunterricht eingestellt. Der Vater war im Krieg, die Mutter lebte mit mir und meiner drei Jahre jüngeren Schwester in der Stadt und die Front rückte näher. Seit dem Bombenangriff waren wir hier unseres Lebens nicht mehr sicher.

Ich erinnere mich, unser erster Zufluchtsort war der Michlbauerhof, aber hierher drängten sich viele. Mehrere Familien teilten sich oft einen Raum. Daher entschloss sich meine Mutter nach einigen Tagen, mich zu ihren Eltern an den Ortnerhof zu geben und selber zog sie mit meiner Schwester wieder in die Stadt.

Mein Geburtshaus und seine Umgebung waren mir vertraut. "Tante, ich komm eh wieder", hatte ich als Dreijähriger zu Tante Sophie gesagt, als wir in die Stadt gezogen waren. Und ich war oft in den Ferien wiedergekommen. War mit Opa in den Wald spaziert und hatte mir die Schwammerl und die Vogelstimmen erklären lassen, hatte Oma auf dem Einkaufsweg nach Kapellen begleitet und wusste, wie alle Kinder und Hunde entlang der damals noch wenigen Häuser an der Straße hießen.

Jetzt im Frühling 1945 lebten in meinem Geburtshaus noch die Großeltern und Tante Lizzi, die in Mürzzuschlag als Friseurin arbeitete. Auch Opa war in Mürzzuschlag im Werk beschäftigt. Nebenan im Hauptgebäude lebten Tante Sophie und der kleine Klaus und der Herr Steinbichler, der sich tagsüber als Bürgermeister meist auf der Gemeinde aufhielt. Und da waren noch zwei Kriegsgefangene, eine Ukrainerin, die im Haus, und ein Franzose, der im Stall arbeitete. Zum Unterschied von der Ukrainerin durfte er nicht am Ortnerhof schlafen, sondern musste sich abends in irgendein Quartier bei der Gemeinde begeben. In Erinnerung ist mir, wie er uns gesammelte Weinbergschnecken zeigte, mit denen er sich ein Essen bereiten wollte. Das war für mich ein Kulturschock. Ich sammelte Schnecken nur, um mit ihnen zu spielen.

Mein Spielgefährte in diesen Tagen war der Veitschegger Heinz. Sein Vater Emmerich hatte als Arbeitsloser und später als Taxifahrer bei meinen Großeltern gewohnt. Jetzt war er ebenfalls im Krieg. Aber seine Frau die Trude, wohnte mit dem Heinz und seiner kleinen Schwester Brunhilde zweihundert Meter weiter beim Gruber im Nachbarhaus, dort wo man zum Hanslgrabner abzweigt. Mit Tretrollern fuhren wir einander besuchen. Wenn der Heinz daherkam und berichtete, die Gruber Mitzi habe ihn geärgert, dann starteten wir zu zweit eine Strafexpedition und entwendeten der Mitzi die auf einem Strick aufgehängte Puppenwäsche. Im Hof vor meinem Geburtshaus, dort wo auf dem Familienfoto sein Vater im Taxi posiert, spielten und stritten wir als Kinder im Sand. Heute als Pensionisten sitzen der Heinz Veitschegger und ich einander in der Mürzer Gemeindestube gegenüber, er als SP-Vizebürgermeister, ich als Grüne Ein-Mann-Fraktion. Beide schreiben wir für den "Obersteirer", beide sind wir der Zeitgeschichte zugetan.

Ich versuche mich zu erinnern, wie wir damals Zeitgeschichte erlebten. Eines Tages schneite es Zettel vom Himmel. Wir liefen sie einsammeln. Die meisten wurden uns von einigen Herren abgenommen, die die Straße daherkamen. Doch einen brachte ich ins Haus, der besonders das Interesse von Tante Resi erregte. "Die Rote Armee ist in Berlin einmarschiert", war darauf zu lesen. Tante Resi war vor wenigen Tagen zu uns gekommen. Sie war die Schwester von der Oma, der Tante Sophie und vom Onkel Emmerich, hatte in Berlin gewohnt und hatte sich bis zu uns durchgeschlagen.

Immer öfter hörten wir vom Preiner Gscheid her Geschützdonner. Auch Opa wurde zeitweise zum Volkssturm abkommandiert, um dort irgendwelche Schützengräben zu graben. Angstvoll machte die Parole die Runde: Die Russen kommen!
Ich erinnere mich, dass einige Male die Frauen und Kinder abends zum Hanslgrabner hinauf wanderten, und dass wir dort am Heuboden schliefen, um nicht den Russen in die Hände zu fallen.

Einige Tage waren auch deutsche Soldaten am Ortnerhof einquartiert, daran kann ich mich nur mehr dunkel erinnern. Aber sehr gut erinnere ich mich an den Tag, als die Deutsche Wehrmacht sich aus Altenberg zurückzog und die Einheimischen zum Grubenhaus pilgerten, wo die Soldaten ein Lebensmittellager zurückgelassen hatten. Schwer bepackt kam Opa mehrmals am Tage heim, und ich half ihm, die Sachen am Dachboden zu verstecken. Ich erinnere mich, dass ich an jenem Tag meine erste Sardinendose gesehen habe. Abends machten wir einen Spaziergang vors Haus und Opa nahm sich das Abzeichen mit dem Hackenkreuz vom Rockkragen und schleuderte es in hohem Bogen in den Fluder.

Ich glaube es war der nächste Tag, da hörte ich morgens im Halbschlaf im Hof jemand schreien "Der Krieg ist aus". Ich schlief weiter und stand erst auf, als ich in der Küche viele Stimmen hörte. Ich öffnete die Tür und ich erblickte die ersten Russen, denen die Oma eine Eierspeise zubereitete. Dann erinnere ich mich nur noch, das ich in den nächsten Stunden erfuhr, die Prohaska, die Ukrainerin habe den Ortnerhof in den frühen Morgenstunden verlassen, weil ihr die Russen beim Eintreffen gesagt hatten, sie könne sofort heimkehren, sie sei frei.

Ob der Herr Steinbichler an diesem Tag noch frei war, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur, dass jetzt der Kommunist Stranzl der neue Bürgermeister war.

Woran ich mich sonst noch erinnere?
Dass Tante Lizzi, die sich besonders vor den Russen gefürchtet hatte, jeden Tag erzählte, wie sie sich benahmen, wenn sie ins Friseurgeschäft kamen.
Dass Opa einige Tage verschollen war, weil er in Mürzzuschlag in ein Anhaltelager geriet und erst durch die Intervention eines Bekannten meiner Mutter wieder freikommen konnte.
Dass ich mit Opa eines Tages wild durch den Wald hinüber nach Lichtenbach pirschte, um zu sehen, ob beim Michlbauern alle unversehrt waren.
Dass Tante Resi vom Onkel Otto einen Brief aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft mit vielen zensurierten Stellen erhielt.

Als die Schule wieder ihren Betrieb aufnahm, kam ich zurück nach Mürzzuschlag. Diese bewegte Zeit war mein letzter längerer Aufenthalt in meinem Geburtshaus gewesen. Im Jahr darauf starb meine Oma, 5 Jahre später Tante Lizzi. Als Opa ausgezogen war, diente es noch etliche Jahre den Sängern als Probelokal, bis es eines Tages einer Straßenverbreiterung weichen musste.

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