Zur Sache, Schätzchen!
Die Hausfassade ist erneuert, die Nacht des Freitags noch jung. Als ich ankomme, gleicht das „Schätzchen“ wieder einem Wohnzimmer, das ohne große Geste etwas aufgeräumt wurde.
Die Flasche Zweigelt in meiner Tasche wird gänzlich mir bleiben, denn Kerstin Feirer und Sonja Herbitschek haben noch Prosecco auf dem Tisch. Der ist die letzte Spur einer Frauenrunde, welche sich bei der Vintage Mode so unbefangen umgesehen hatte, daß Feirer die Vorhänge zuziehen mußte, da der ganze Laden zur Umkleidekabine geworden war.
Ich bin eigentlich gekommen, um kurz hundert Jahre Mode durchzunehmen. Das Buch dazu hatte ich mir anläßlich einer Arbeit zu einem verflossenen Aprilfestival von Kunst Ost beschafft. Nun sitze ich neugierig auf dem Plüschmöbel, aus dem man nur mit einem guten Konzept wieder elegant hoch kommt.
Erstens bin ich neugierig, ob mein Buch über 100 Jahre Fashion Zustimmung findet, denn als Rookie auf diesem Gebiet muß ich damit rechnen, daß ich mir damals hübschen Plunder gekauft hab. Zweitens bin ich auf unsere Erörterung neugierig, die sich an der Zeitreise festmachen mag, die das Buch anbietet.
Gleich vorweg, das Buch ist von Feirer und Herbitschek als relevantes Werk abgesegnet und liegt nun im „Schätzchen“ auf. Aber was wollte ich wissen? Mit Mode ist es ähnlich wie mit Architektur.
Erstens betrifft es alle. Nicht einmal Babies sind von dieser Betroffenheit ausgenommen. Zweitens reden alle in der Sache mit. (Babies ausgenommen.) Drittens verschaffen sich nur wenige wenigstens Grundkenntnisse des Vokabulars.
Was das meint? Sehen Sie einmal zu, wie Feirer durch ihr Sortiment tanzt und erläutert, womit man es bei diesem oder jenem Stück zu tun hat. Dann kapieren auch Laien, daß Mode erstens eine Formensprache hat, die man erlernen kann, wie man auch eine Fremdsprache lernt, wenigstens einen „Grundwortschatz“, zweitens erzählt Mode Geschichten. Auch: Geschichte. Nämlich Zeitgeschichte und Kulturgeschichte.
Das bedeutet, Gleisdorfs „Schätzchen“ ist nicht bloß ein Geschäft für Vintage Mode, sondern gewissermaßen auch eine Kulturinitiative.
Wir sitzen also rund um das Buch. Ich erfahre grundlegende Dinge des Handwerks und des stets neuen Ringens um die Silhouette der Frau. Schnitte, Stoffe, Applikationen. Glasperlen-Stickereien, die nach Gobelin aussehen.
Mit dem Messer geschnittene, komplexe Lederornamente, die zu Schmuckstücken auf Stoff vernäht werden. Faltenwürfe und so manche Linien, die heute niemand mehr nähe könne.
Einige der zart wirkenden Geschöpfe müssen Athletinnen gewesen sein. Die Frau von Stand hatte einst bis zu 20 Schichten Stoff auf dem Leib. Die Hüften mußte enorm viel tragen. Eine Reformbewegung suchte, dieses Gewicht auf die Schultern zu bringen und die Einschnürungen des Frauenkörpers abzuschaffen.
Quer durch das 20. Jahrhundert gehen dann im „Schätzchen“ die Emotionen hoch. Mußte eine Frau in den 1920ern noch durchaus mit Anfechtungen rechnen, wenn sie in der Öffentlichkeit einen Hosenrock trug, überschlugen sich danach die Ereignisse schnell.
Da die Erörterungen der Frauen auch den Abend mit den Kundinnen betreffen, ist mir zwischendurch, als sei ich heimlich in ein Mädchenzimmer geschlichen, denn solche Debatten des Kleidens und des Kleidsamen mit derlei Kriterien habe ich unter Männern noch nicht erlebt.
Im Buch führt natürlich kein Weg an Marlene Dietrich vorbei. Es zeigt aber auch die von mir verehrte Amelia Earhart, welche von Neta Snook das Fliegen gelernt hat und 1937 über dem Pazifik verschollen ist. Zwischen all dem freilich ebenso Bilder aus der Arbeitswelt, aus Fabriken, von den Straßen.
Was greifen Couturiers auf, wenn sie auf den Lauf der Dinge reagieren? Was übernehmen Massenproduzenten von den Modeschöpfern? Was landet von all dem dann wie wieder auf der Straße?
Und wo wurde einst verhandelt, welche Modeerscheinungen Bedeutung haben? Wo und wie wird es heute verhandelt? Was ist Kunst und was Kunstfertigkeit?
Zwischen all dem, herausragend, zwei Worte: Vivienne Westwood.
Es tun sich eine Menge Fragen auf, die ich auf solche Art aus dem Kunstbereich kenne, die in der Kulturarbeit gleichermaßen anliegen. Ich lerne an diesem Abend vor allem zwei Kategorien kennen, die eine nähere Betrachtung empfehlen.
Kerstin Feirer: „Chanel ist wie die Erfindung des Rades. Aus.“
Sonja Herbitschek: „Ja, aber nein!“
+) „Schätzchen“ (Vintage Mode in Gleisdorf) [link]
+) Post Scriptchen:
Kurioser Zufall, den heute ist der 3. Oktober 2015, vor genau einigen Jahren, nämlich am 3. Oktober 2012, habe ich im Teilprojekt „Die Gefolgschaft des Ikarus“ erörtert, wie das Fahrrad der Frau in Hosen zu mehr Platz in der Alltagswelt verhalf, nachdem erst einmal Korsagen und Stoffberge zurückgedrängt werden mußten, um der Silhouette des Frauenleibes neue Linien zu erlauben: [link]
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