Volle Kindergärten, leere AHS
Wie Eltern, Schüler und Lehrer den ersten Lockdown-Tag geschafft haben
Videokonferenzen, Arbeitsaufträge, fehlende Freunde, überarbeitete Lehrer und fast volle Kindergärten: Pädagoginnen, Eltern und Schüler erzählen, wie sie den ersten Tag im neuen Lockdown erlebt haben.
von Elisabeth Schwenter und Christine Bazalka
WIEN. Im Wiener Gymnasium, das Jakob eigentlich besucht, waren heute in der Früh alle bis auf eine Türe geschlossen. Im offenen Klassenraum saßen kurz nach 8 Uhr einige Kinder an jeweils eigenen Tischen. Drei Lehrer hatten heute den ersten Dienst im neuen Corona-Lockdown. Sie haben die Kinder in der Schule betreut. Die anwesenden Schüler gehen in unterschiedliche Klassen der Unterstufe. In den kommenden drei Wochen werden sie zusammen sein.
Jakob ist zuhause geblieben. Er wird in den kommenden Wochen über die Plattform "Teams" am "Distance-Learning"-Unterricht teilnehmen. Das Programm ermöglicht es Chats, Video-Besprechungen, Notizen und Anhänge zu teilen. Die Schülerinnen und Schüler seiner Klasse waren um 8 Uhr alle online, der Klassenvorstand zufrieden. Jakob hatte heute Klassenvorstandsstunde, Englisch, Mathe, Geschichte sowie Lerncoaching. Im Laufe des Vormittages wurde seine Stimmung angespannter. "Der Unterricht vor dem Laptop war anstrengend", erzählt er.
"Ich würde auf jeden Fall lieber in die Schule gehen", sagt der 13-jährige. Dort könne er den Überblick über das Geschehen im Unterricht besser behalten. "In der Klasse kann es außerdem nicht passieren, dass plötzlich das Internet weg ist man nicht mehr an der Stunde teilnehmen kann." Zuhause, gerade auch, wenn die Eltern im Home-Office ebenfalls im W-Lan hängen, passiere das schon mal. Jakob hat am ersten "Distance-Learning"-Schultag in jedem Fach Arbeitsaufträge bekommen, die er in den kommenden Tagen zuhause bearbeiten muss. Seine Stimmung ist am frühen Nachmittag gedämpft. "Ich glaube, dass spätestens ab der zweiten Woche jeder nur mehr genervt ist. Es ist einfach mühsam."
Wie viele Kinder in der Zeit bis zum 7. Dezember tatsächlich in die Schulen gehen werden und wie viele zuhause bleiben, lässt sich nach dem ersten Tag nur schwer beurteilen. In Wien waren nach ersten Erhebungen der Bildungsdirektion rund 22 Prozent der Kinder in den Volksschulen anwesend, an den Mittelschulen rund sechs und an den AHS-Unterstufen rund 3,5 Prozent. Allerdings sind die Zahlen irreführend. An manchen Schulen kam im Schnitt nur ein Kind pro Klasse zur Betreuung, an anderen war deutlich mehr als die Hälfte anwesend. Insgesamt 33 Prozent der Wiener Pädagoginnen und Pädagogen hatten heute Dienst in den Schulen der Bundeshauptstadt.
Echte Lehrer und echte Freunde
Fabian ist sechs Jahre alt. Er ist im 4. Bezirk zuhause. Dieses Jahr ist sein erstes Schuljahr und Anfang September war er unglaublich stolz, dass er jetzt ein Schulkind ist. Heute hat er im "Distance-Learning" einen Zettel mit täglichen Aufgaben aus diversen Schulbüchern bekommen. Bunt gemischt: Schreiben, Lesen, Rechnen. Ab Donnerstag wird Fabian wieder in die Schule gehen.
Seine Eltern sind in sogenannten systemrelevanten Berufen, sie haben keine andere Wahl als den 6-jährigen in die Schule zu schicken und halten das auch für die beste Lösung. „Ich mache sehr gerne mit ihm die Aufgaben, aber ich habe keine pädagogische Ausbildung und kann ihm sicher nicht den professionellen Unterricht geben, den er in der Schule bekommt", sagt seine Mutter. "Und auch wenn er in der Schule lediglich betreut wird, ist er gemeinsam mit seinen Schulfreunden dort, was mit Sicherheit wichtig für seine Psyche ist.“
"Es steht und fällt in der Schule"
Anna (Name von der Redaktion geändert) ist AHS-Lehrerin in Wien. Seit 20 Jahren macht sie diesen Job. Das vergangene Wochenende, sagt sie, war extrem herausfordernd und dass in ihrem Fall, in ihrer Schule, heute alles halbwegs gut funktioniert hat, ist nur dem Zusammenspiel der Kollegenschaft und der Direktion zu verdanken. Und der Tatsache, dass in ihrer Schule schon vorausschauend geplant wurde. Das Bildungsministerium habe dazu wenig bis gar nichts beigetragen.
"Wir haben auf Initiative unserer Schule bereits früh genug damit angefangen, Online-Lernplattformen auszuprobieren und einen Plan zu entwickeln, wie wir im Falle eines zweiten Lockdowns mit dem Unterricht umgehen werden", so Anna. Im August, während der Sommerferien, wurde daran gearbeitet. Dann haben die Lehrerinnen und Lehrer die Lernplattform "Teams" nach und nach in den Klassen etabliert.
Über die aktuelle Vorgehensweise des Bildungsministeriums und über die kurzfristige Ankündigung von Bildungsminister Heinz Faßmann, dass nun wieder auf "Distance-Learning" umgestellt wird, ärgert sie sich. "Am Samstag wurde angekündigt, dass ab Dienstag die Schulen wieder geschlossen werden. Das ist eine Zumutung", so Anna. Der Stresslevel, der so erzeugt wurde, sei nicht notwendig gewesen, ist sie sich sicher. "Welches Bild von Schule wird hier auch vermittelt? Wie soll etwas Qualität haben, wenn man zur Vorbereitung dann nur einen Tag Zeit hat?" Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen hätten das ganze Wochenende durchgearbeitet, um den Übergang für die Kids möglichst reibungslos zu gestalten.
Sorge bereite ihr, dass viele Kinder zurückgelassen werden könnten. "An unserer Schule sind viele Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache", erzählt sie. Aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten würden sich diese Kinder mit Videokonferenzen schwerer tun als andere. Und für Lehrerinnen und Lehrer sei es online umso mühsamer, zu erkennen, wer dem Unterricht folgen kann und wer nicht. "In der Klasse sehe ich, wenn jemand müde wird oder gerade nicht versteht, worum es geht. Online sehen ich das nicht." Viele Kinder bräuchten die Schule als Ort, an dem sie Ruhe finden, Struktur und einen direkten Ansprechpartner haben. "Wenn ich diese Kinder nicht vor Ort habe, schaffen sie das Schuljahr vielleicht nicht."
Präsenzunterricht trotz Lockdown?
Conny S. hat zwei Kinder. Sohn Luca geht in die 4. Klasse Volksschule, Tochter Leonie in eine HTL in Wien. "Das Homeschooling läuft diesmal strukturierter als beim ersten Lockdown", erzählt sie. Sohn Luca habe eine Liste an Aufgaben bekommen, die bis 7. Dezember fertig sein müssten und immerhin sei diesmal für alle klar, was zu tun ist. Allerdings habe er heute bereits nach einer halben Stunde Unterricht mit Mama Conny keine Lust mehr gehabt. "Ich musste ständig dabei sein und hätte eigentlich arbeiten sollen, aber bis auf eine Videokonferenz ist sich nichts ausgegangen", erzählt sie.
Tochter Leonie hat abwechselnd Online- und - nach wie vor -Präsenzunterricht. Morgen müsse sie für die Unterrichtsfächer "Labor" und "Werkstätte" in die Schule. Heute sei Leonie zuhause gewesen. "Wenn alle da sind, ist jeder Raum bei uns in der Wohnung mit einer Person besetzt, die an einem Laptop arbeitet und ich komme zu nichts", erzählt die berufstätige Mutter. Sie überlegt, ob sie Sohn Luca doch für die Betreuung in der Schule anmelden soll.
Unruhe im halboffenen Kindergarten
Homeoffice, während Kindergartenkinder fröhlich oder weniger fröhlich durch die Wohnung brettern? Auch das ist wohl in vielen Fällen illusorisch. Dementsprechend gespannt wurde auch die Situation in den Wiener Kindergärten beobachtet: Wie viele Kinder bleiben daheim, wie viele werden vor Ort betreut?
In einem Favoritner Kindergarten waren heute etwa ein Drittel der Kinder da. Das deckt sich mit den Erfahrungen, die in den öffentlichen Kindergärten gemacht wurden: 35 Prozent der Kinder waren heute da, in den nächsten Tagen werden 43 Prozent erwartet. Weit mehr waren es bei den privaten Trägern Wiener Kinderfreund und Kinder in Wien: Dort waren zwischen 62 und 75 Prozent der Kinder da. "Wir nehmen an, dass es im Laufe des Lockdowns eher mehr werden", sagt Michaela Müller-Wenzel von den Wiener Kinderfreunden. In Kleingruppen kann so nicht betreut werden. Der Betrieb läuft - mit hohen Hygiene- und Sicherheitsstandards - wie bisher. Erst in den nächsten Tagen werde man einen guten Überblick gewinnen und die Organisation anpassen können, sagt Judith Hintermeier von der Gewerkschaft younion, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den öffentlichen Kindergärten vertritt: „Kein Kinder wird wieder weggeschickt“, so viel sei fix.
Die Kolleginnen und Kollegen sind aber durch ihre Arbeit einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Abstand halten ist im Kindergarten nicht möglich. Eine Umfrage der Gewerkschaft hat ergeben, dass es in einem Viertel der österreichischen Kindergärten bereits einen Corona-Fall gegeben hat. Dementsprechend angespannt ist die Stimmung in diesem Bereich: Noch ist alles in Ordnung, aber wenn immer mehr Pädagoginnen erkranken, könnte es irgendwann eng werden mit der Betreuung. "Es liegt in Wien ein grundlegender Fachkräftemangel vor und dieser zeigt sich in der Covid-Zeit auch verstärkt", heißt es auch von Kinder in Wien.
Für die 8.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 360 Standorten der öffentlichen Kindergärten in Wien wurden heute Gurgeltests ausgeliefert. Freiwillige Tests wurden bisher schon angeboten, das ist aber die erste flächendeckende Testung. Außerdem wurden neben Mund-Nasen-Schutz wie bisher auch FFP2-Masken bereitgestellt. Auch bei den privaten Trägern sind Gurgeltests, Schutzbekleidung und Desinfektionsmittel vorhanden.
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