Psychologie
Essstörungen: Magersucht, Bulimie, Adipositas, Binge-Eating - ein Überblick
Das Verhältnis zum Essen und zur Nahrungsaufnahme kann gestört sein. Essstörungen sind eine psychische Erkrankung, die äußerlich gut sichtbar ist.
Essen und Trinken wird von Menschen als etwas Existentielles und Verbindendes erlebt. Dabei wird unser Essverhalten gesteuert durch:
- kognitive Prozesse (etwa Wissen um gesunde Ernährung, Einstellungen wie Vegetarismus oder vegane Ernährung, Informationen über gesunde und ungesunde Ernährungsweisen)
- Emotionale Dispositionen
- Lernprozesse (etwa durch Konditionierungen)
- genetische Veranlagungen
- biologische Mechanismen.
Essen bedeutet aber auch Beziehung, nämlich Beziehung zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zum Leben. So sind viele gesellschaftliche Rituale mit gutem Essen und Trinken verbunden und fördern grundsätzlich die Beziehung zu sich selbst als auch zur Gemeinschaft. Essen kann somit den sozialen Zusammenhalt oder eine Partnerschaft stärken („Liebe geht durch den Magen“), und in allen Kulturen und Religionen wohnt dem Essen und Trinken etwas Transzendentes inne.
Im Essen und Trinken bilden sich auch Machtdynamiken ab: So wird Essen, Einkaufen und Kochen in patriarchalischen Kulturen eher der weiblichen Genderrolle zugeschrieben, Alkohol und Trinken eher dem männlichen Geschlecht (Besäufnisse werden eher bei Männern toleriert als bei Frauen).
Das Verhältnis zum Essen und zur Nahrungsaufnahme kann gestört sein. Dies wird bei folgenden Essstörungen ersichtlich:
- Anorexia nervosa (Magersucht)
- Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht) (der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Ochsenhunger oder Stierhunger“)
- Binge-Eating-Störung (wiederkehrende Essanfälle)
- nicht näher bezeichnete Essstörungen (oder atypische Essstörungen)
- Adipositas (Fettleibigkeit)
Magersucht, Bulimie und Binge-Eating haben gemeinsam, dass sich die betroffenen Personen in übertriebener Weise mit ihrem Körper und ihrem Gewicht beschäftigen, und dass der Körper und das Gewicht einen enormen Einfluss auf das Verhalten, die Selbsteinschätzung und das Selbstwertgefühl haben.
Die Magersucht finden wir tendenziell eher bei Menschen mit einer narzisstischen, einer selbstunsicheren oder soziophobischen Persönlichkeitsstruktur; die Bulimie eher bei histrionischen Menschen oder Personen mit Borderline-Zügen, die Binge-Eating-Störung bei depressiven und ängstlichen Menschen.
Essstörungen sind übrigens kein Phänomen der Moderne oder Postmoderne. Formen von Untergewicht und Fettleibigkeit sind nämlich schon seit der Antike überliefert.
Seit Jahrhunderten sind Formen von Untergewicht und Adipositas bekannt.
Die Ärztin und Psychoanalytikerin Hilde Bruch bringt das Phänomen auf den Punkt: „Menschen mit Magersucht oder Fettsucht sind Individuen, für die das Essen die missbräuchliche Funktion hat, Probleme, die ansonsten unlösbar erscheinen, auf diese Art zu bewältigen… Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie abnorme Mengen Nahrung zu sich nehmen, was sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild ausdrückt…“
Essstörungen sind eine psychische Erkrankung, die äußerlich gut sichtbar ist.
Von der Magersucht und der Bulimie sind vorwiegend Frauen betroffen. Das Verhältnis von Frauen zu Männern liegt bei 10:1. Bei den Männern zeigen homosexuelle und bisexuelle Männer ein höheres Risiko, eine Magersucht zu entwickeln. Bei der Binge-Eating-Störung ist das Verhältnis Frauen zu Männern bei 3:2.
Gründe für diese Verteilung sind vor allem gesellschaftliche, da das Schlankheitsideal eher an das weibliche Geschlecht gebunden ist. Auch das Äußere ist bei Frauen in der Gesellschaft von noch größerer Bedeutung als das von Männern, während bei Männern vielmehr Muskelmasse, Potenz, Leistung und Erfolg zählen.
Männer missbrauchen hingegen häufiger Alkohol und entwickeln eine Suchterkrankung. Frauen sind hier etwas zurückhaltender (oder trinken versteckt und heimlich). Essen ist gesellschaftlich akzeptierter als Alkohol und daher die unauffälligere „Droge“.
Was fördert Magersucht und Bulimie?
Folgende Einflüsse können Magersucht oder Bulimie fördern:
- In der westlichen Zivilisation und in den Wohlfahrtsgesellschaften findet sich heute ein Überfluss und eine Überproduktion an Nahrungs- und Lebensmitteln. So wird mehr Nahrung produziert, als Menschen essen können und tagtäglich landen privat und in den Supermärkten viele Lebensmittel im Müll.
- Frauen aller gesellschaftlicher Milieus und aller sozialer Schichten sind von Magersucht und Bulimie betroffen. Magersucht findet sich eher in bildungsnahen Milieus und in den höheren Sozialschichten, in denen Normen wie restriktives (auch zwanghaft gesundes) Essverhalten, ein extremes Schlankheitsideal, die Sorge um das Gewicht und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper weit verbreitet sind.
- Ein übertriebenes Diätverhalten kann der Nährboden für eine spätere Essstörung sein: So haben etwa 50 Prozent aller Mädchen zwischen elf und 13 Jahre in Westeuropa bereits eine Diät hinter sich.
- Zu den Risikogruppen zählen Sportler*innen, Gymnasiastinnen und Studentinnen, Patient*innen mit Diabetes mellitus und Menschen, die Berufe oder Hobbys ausüben, bei denen ein geringes Körpergewicht von Bedeutung ist (etwa Schauspielerinnen, Models).
- Personen, die in der Kindheit unter Angststörungen oder zwanghaften Zügen litten, haben ein höheres Risiko, in ihrer Jugend magersüchtig zu werden. Hingegen sind Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend ängstlicher waren, ein niedrigeres Selbstwertgefühl hatten, depressive Züge aufwiesen, unter sozialen Angststörungen litten oder Übergewicht hatten, später gefährdeter, eine Bulimie zu entwickeln.
- Auch genetische Faktoren werden diskutiert sowie familiäre Ursachen und die Persönlichkeit eines Menschen.
In der Wissenschaft ist es umstritten, ob es sich bei der Magersucht und der Bulimie tatsächlich um Suchterkrankungen handelt.
Hauptmerkmale einer Suchterkrankung sind der unwiderstehliche Drang, eine Substanz zu konsumieren, den Konsum zu steigern und viel Zeit für die Beschaffung der Substanz und deren Konsum aufzuwenden. Setzt ein Mensch die Substanz ab, so kommt es zu psychischen und/oder körperlichen Entzugserscheinungen. Die von Sucht betroffenen Menschen haben oft nur eine geringe oder gar keine Krankheitseinsicht.
Gerade die mangelnde Krankheitseinsicht findet sich oft auch bei der Magersucht. Zudem wirkt die Magersucht (wie auch andere Süchte) oft unauthentisch (apersonal).
Autor: Florian Friedrich
Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision
(Logotherapie und Existenzanalyse)
Du möchtest selbst beitragen?
Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.
Kommentare
Du möchtest kommentieren?
Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.