Fortsetzung: Vertrieben (42)

Foto: Bayrischer Rundfunk

Die wahre Geschichte eines kleinen Mädchens

Autorin: U. Hillesheim ©

Um diese Zeit finden Adelheid und ich in den gebundenen Kinderzeitschriften, die im Pfarrhof (vielleicht seit der Kinderzeit von Tante Rosi und Großvater) aufbewahrt werden, ein kleines Gedicht, das gut zu unserem Wildgruber Bergausflug passt. Es gefällt uns sehr. Wir lernen es auswendig und ich habe es bis heute behalten:

Als die liebe Frau gegen Himmel fuhr,
ließ den Mantel blau sie auf ird´scher Flur.
Kam ein Windgesell, trieb lustig Spiel
Und der Mantel schnell war zu Fäden viel.
Dann der Wind blies drein, dass nach Süd und Nord
In dem Sonnenschein tanzten Fäden fort.

Wenn nun Herbstes Gold von den Bäumen blinkt,
still als letzter Sold auf die Erde sinkt,
dann ein Silberglanz schwebt im lichten Blau,
spielt im Blättertanz, grüßt die liebe Frau.

Doch mit den schönen sonnigen Herbsttagen geht es jetzt bald zu Ende. Am 28. Oktober hat es zum ersten Mal geschneit. Es ist Staatsfeiertag und Viktor hat Geburtstag. Sechs Jahre wird er heute. Vor Freude ist er ganz außer sich. Geburtstag, Staatsfeiertag und erster Schnee, alles kommt zusammen! Den ganzen Tag singt er voll Glück und stolz ein selbsterdachtes Lied, von dem ich leider nur noch den Kehrreim: „…weil Staatsfeiertag ist“, in Erinnerung behalten habe.

Eine Woche später feiern Adelheid und ich unseren 10. Geburtstag. Wir finden auf dem Geburtstagstisch zwei oder drei Pralinen. Eine ganz einzigartige Köstlichkeit! Wahrscheinlich hat sie Herr Pfarrer aus besserer Zeit aufbewahrt. Natürlich habe ich sie nicht aufgegessen. So etwas Gutes kommt bei uns beiden immer in den Naschkasten. Oft hole ich sie heraus, betrachte sie und stelle mir vor, wie herrlich sie schmecken würden. Doch eines Tages, als ich wieder nach ihnen sehen will, sind sie verschwunden. Weg sind sie, keine mehr da. Viktor hat nicht widerstehen können und sie heimlich gegessen. Kein Zorn und kein Weinen hilft mehr. Erst Jahre später habe ich wieder Schokolade und noch sehr viel später auch Pralinen genascht.

Die Kinder sollen wieder zur Schule gehen. Doch wer soll den Unterricht halten? Gewiss nicht der hitlergläubige Lehrer, der uns in den Jungmädelbund aufgenommen hatte und der sich versteckt hält. Oder ist er interniert? (Der Mann gibt sich nach der Vertreibung streng katholisch. Bei der Entnazifizierung soll ihn Herr Pfarrer entlasten. Der ist außer sich, denn während des Dritten Reiches hat ihm gerade dieser erklärte Nazi größte Schwierigkeiten bereitet. Die gewünschte Entlastung schreibt er ihm nicht.) Als Lehrer kommt nur einer in Frage: Herr Pfarrer. Als Antifaschist genießt er Ansehen bei den Tschechen und außerdem gilt er selber als Tscheche.

(Freilich hat Herr Pfarrer entrüstet zurückgewiesen, ein Tscheche zu sein. „Aber was sind Sie denn sonst“, fragt irritiert Tante Rosi. „Bei Ihnen zu Hause wurde doch tschechisch gesprochen“. „Ich bin ein Morawske“ (Mähre), entgegnet Herr Pfarrer. Und das ist richtig. Nur die Böhmen werden in der Landessprache als „Cech“ bezeichnet. Erst sekundär ist dieser Begriff auf alle slawischen Volksgruppen im Land übertragen worden – ähnlich wie „Allemannen“ für alle Deutschen in der französischen Sprache.)

Herr Pfarrer steht vollkommen solidarisch zu seinen deutschen Pfarrkindern. Er hilft ihnen, wo er nur kann, berät und tröstet sie. Und da gibt es viele zu trösten. Nach dem Sonntagsgottesdienst kommen die Leute zu ihm in die Pfarrküche, weinen und klagen ihr Leid. Meist haben die Tschechen ihnen den Hof genommen und sie sind zu Knechten geworden. Herr Pfarrer ist wie ein Vater für seine Pfarrkinder. (Er hätte daheim bleiben können. Doch er wollte es nicht besser haben als seine Gemeinde. Er wollte das Schicksal der ihm Anvertrauten teilen und so ist er, wie sie, 1946 im Juli vertrieben worden.)

Zunächst werden alle Kinder unterrichtet, deutsche und tschechische. Mit einem hübschen tschechischen Mädchen namens Gelinde Dostal, komme ich besonders gut aus. Sie spricht deutsch, nicht anders als wir. Die Familie ist aus Troppau gekommen. Die Eltern scheinen der Sorte “Fähnchen nach dem Wind“ anzugehören. In deutscher Zeit waren sie natürlich Deutsche, sprachen zu Hause deutsch und gaben den Kindern deutsche Vornahmen. Jetzt ist es opportuner, Tscheche zu sein. Herr Pfarrer unterrichtet nur in zwei Fächern: in Tschechisch und Religion. Einiges, was ich damals tschechisch gelernt habe, zum Beispiel Zählen bis zehn oder verschiedene Grundwörter, habe ich bis heute behalten.

Zu einem für mich sehr unangenehmen Erlebnis kommt es in dieser kurzen Schulzeit in Mohrau: In der Klasse wird viel geschwätzt und Herr Pfarrer warnt die Kinder, dies weiter zu tun. Kurz danach wird in der Bank hinter mir wieder heftig gesprochen. Ich drehe mich um: „Ihr sollt doch nicht schwätzen“! Sofort habe ich eine saftige Ohrfeige. Ich bin völlig verstört, fühle mich ungerecht behandelt. Tief gedemütigt komme ich nach Hause und mag den Herrn Pfarrer nicht mehr.

Bald dürfen die deutschen Kinder nicht mehr zur Schule. Sie sollen ungebildet und dumm bleiben. Mir macht das nichts aus. Umso mehr Zeit haben wir zum Spielen. Wenn tschechische Schulkinder an uns vorbei kommen, rufen sie meist: „Du bist Schweinehunde, du bist Schweinehunde“! Doch nicht faul, antworten wir: „jeste prase, jeste prase, jsi osel“! (du bist ein Schwein, du bist ein Esel). So viel Tschechisch haben wir inzwischen gelernt.

Fortsetzung folgt

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