Gefragte Frau
Barbara Stelzl-Marx über Geschichte und Gegenwart

Barbara Stelzl-Marx leitet das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, wo sie insbesondere zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, zu Kindern des Kriegs, zu Migration, Erinnern und Gedenken forscht. | Foto: Sabine Hoffmann
3Bilder
  • Barbara Stelzl-Marx leitet das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, wo sie insbesondere zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, zu Kindern des Kriegs, zu Migration, Erinnern und Gedenken forscht.
  • Foto: Sabine Hoffmann
  • hochgeladen von Antonia Unterholzer

Die Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Barbara Stelzl-Marx, spricht im Interview mit MeinBezirk.at über aktuelle Forschungsprojekte und Graz als Ausgangspunkt für diese, sowie darüber, warum die Beschäftigung mit der Geschichte für die Gegenwart wichtig ist. 

GRAZ. Seit seiner Gründung im Jahr 1993 untersucht das Grazer Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung die Auswirkungen von Kriegen und Konflikten des 20. Jahrhunderts. 2018 übernahm Barbara Stelzl-Marx die Institutsleitung von Gründer Stefan Karner. Die "Wissenschafterin des Jahres" 2019 forscht zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, zu Kindern des Kriegs, zu Migration, Erinnern und Gedenken. MeinBezirk.at hat sich mit der Grazer Historikerin im Rahmen der Serie "Gefragte Frau" zum Interview getroffen.

  • Womit beschäftigen Sie sich aktuell in Ihrer Forschung?

Barbara Stelzl-Marx: Was wir beispielsweise kürzlich fertiggestellt haben, ist eine Datenbank zur NS-Zwangsarbeit in Graz, eine Art Kaleidoskop von mehr als 15.000 Einzelschicksalen. Damit können wir nun erstmals sagen, wer diese zivilen Zwangsarbeiter waren, wo sie gearbeitet haben, wie alt sie waren, wo sie hergekommen sind, wie lange sie da waren, wer sein Leben verloren hat oder welche Kinder – trotz aller Verbote – geboren wurden. Es hat sich herausgestellt, dass es in Graz über 700 Orte gegeben hat, an denen Zwangsarbeiter untergebracht waren – ihr Einsatz war also wirklich flächendeckend.

  • Ist Graz ein spannender Ort für eine Historikerin?

Ja, auf jeden Fall. Einerseits durch die hier angesiedelten Institutionen, die sich mit Geschichte befassen, andererseits durch die Geschichte der Stadt per se. Mein Zugang ist die Zeitgeschichte, und da sieht man in Graz einschneidende historische Ereignisse oder auch Wendepunkte wie durch ein Brennglas. Im Zusammenhang mit unseren Projekten denke ich neben den Zwangsarbeitern auch an das Lager Liebenau und Graz als "Stadt der Volkserhebung". Und dann hatten wir in Graz diese kurze, aber sehr einprägsame sowjetische Besatzungszeit: insgesamt zehn Wochen, nachdem Graz in der Nacht von 8. auf 9. Mai 1945 der Roten Armee übergeben worden und als letzte österreichische Landeshauptstadt unter alliierte Besatzung gekommen war. Dazu führen wir am Institut gerade ein Projekt durch, das sich "Roter Stern über Graz" nennt. Dazu möchten wir auch mit Personen sprechen, die diese Zeit als Kinder oder Jugendliche selbst miterlebt haben.

Die Historikerin war 2019 "Wissenschafterin des Jahres". | Foto: Sabine Hoffmann
  • Die Historikerin war 2019 "Wissenschafterin des Jahres".
  • Foto: Sabine Hoffmann
  • hochgeladen von Antonia Unterholzer
  • Was bedeutet das nahende Erlöschen von Zeitzeugen für die Zeitgeschichte?

Die Gespräche mit den Zeitzeugen sind durch nichts zu ersetzen. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass es ein ganz großer Einschnitt sein wird. In einigen Jahren wird von dieser Erlebnisgeneration des Nationalsozialismus beziehungsweise des Zweiten Weltkrieges niemand mehr zur Verfügung stehen. Solange wir jetzt noch die Möglichkeit haben, mit Menschen, die aus eigener Erfahrung heraus berichten können, zu sprechen oder auch Interviews zu führen, müssen wir das daher auch möglichst nützen. 

  • Warum ist es notwendig, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen?

Der Blick zurück in die Geschichte ermöglicht es, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. Das sieht man gerade auch im Zusammenhang mit Krieg: Kriege hören nicht auf, wenn die Waffen schweigen, sie haben immer eine Vorgeschichte und vor allem Folgen, die zum Teil über viele Jahrzehnte spürbar sind. Durch den Ukraine-Krieg zeigt sich etwa, dass viele Themen auf einmal große Aktualität haben, mit denen ich mich schon seit 30 Jahren in der Forschung beschäftigte, bisher jedoch immer aus einem retrospektiven Blickwinkel. Zum Beispiel Kriegsgefangene, Zwangsmigration, Propaganda, Nachrichtendienste oder das Thema Kinder des Krieges: Es entsteht gerade eine neue Generation von Kindern, die den Krieg in den Luftschutzkellern miterlebt haben oder aus ihrem normalen Leben herauskatapultiert wurden und sich jetzt auf der Flucht im Ausland, in Österreich befinden. Man sieht einfach, dass so etwas nachwirkt, über Generationen hinweg.

  • Beschäftigen wir uns genug mit unserer Geschichte?

Auf der einen Seite gibt es sehr viel Information, vielleicht sogar ein Übermaß. Auf der anderen Seite habe ich aber den Eindruck, dass es doch große Lücken gibt und nach wie vor ein Forschungsbedarf besteht. Und was aus meiner Sicht besonders wichtig ist, ist die Vermittlung an die Öffentlichkeit – das ist auch einer der Schwerpunkte am Ludwig Boltzmann Institut bzw. am Institut für Geschichte der Uni Graz. Es gibt Themen, zu denen immer noch viele Mythen vorherrschen oder kaum etwas bekannt ist – da können über die Forschung neue Erkenntnisse vermittelt werden.

Steckbrief

Barbara Stelzl-Marx forscht zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, zu Kindern des Kriegs, zu Migration, Erinnern und Gedenken. Die "Wissenschafterin des Jahres" 2019 ist Universitätsprofessorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz – Wien – Raabs, sowie Vizepräsidentin der Österreichischen UNESCO-Kommission.

Nach Studium der Geschichte, Anglistik und Slawistik in Graz, Oxford, Volgograd und an der Stanford University sowie einem Postdoc-Erwin-Schrödinger-Stipendium des FWF in Moskau war sie APART-Stipendiatin der ÖAW und erhielt für ihre Arbeiten mehrere Preise und Auszeichnungen.

Mehr aus unserer Serie "gefragte Frau" liest du hier: 

Ionela Stiegler-Lixandru – Bademeisterin mit kühlen Kopf
Pfarrerin Barbara Lazar über die "Kirche von heute"

Push-Nachrichten auf dein Handy
MeinBezirk.at auf Facebook verfolgen
Die Woche als ePaper durchblättern
Newsletter deines Bezirks abonnieren

Kommentare

?

Du möchtest kommentieren?

Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.

Anzeige
Das KosMedicS-Team um Karin Migglautsch (M.) berät zu Schönheitsfragen. | Foto: Konstantinov
3

Wohlfühlen in der eigenen Haut
KosMedicS als Ansprechpartner für ästhetische Medizin

KosMedicC ist ein innovatives Kosmetikstudio und Medical Beauty Clinics mit zehn Jahren Erfahrung zu Beauty-Themen. GRAZ. Wer Angebote rund um Schönheit und Gesundheit für Gesicht und Körper sucht, findet diese bei KosMedicS unter Karin Migglautsch und ihrem KosMedicS-Team. Ob reine Kosmetik, ärztliche Behandlung oder beides gemeinsam: Hier findet sich alles unter einem Dach, von der klassischen Gesichtsbehandlung bis zum minimalinvasiven medizinischen Eingriff. Hier werden mittels neuester...

  • Stmk
  • Graz
  • RegionalMedien Steiermark

Du möchtest selbst beitragen?

Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.