Ukrainer:innen in Kammern
Auf den Fotos ist Zerstörung, hier zwitschern die Vögel

- In einem Gemeinschaftsgarten treffen sich ukrainische Familien mit ihren Kindern mit Bewohner:innen von Kammern, um gemeinsam Zeit zu verbringen.
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In Kammern sind derzeit 68 Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht, der älteste mit 85 Jahren, der jüngste Neuankömmling gerade einmal sechs Wochen alt. MeinBezirk.at hat zwei Familien besucht und mit ihnen, sowie den Menschen, bei denen sie wohnen, über ihre Flucht, den neuen Alltag, Ängste und Hoffnungen gesprochen.
KAMMERN. "Von einer Sekunde auf die andere ist alles anders. Richtig verstehen kann der Kopf bis zum Schluss nicht, was da passiert", erzählt die 38-jährige Ukrainerin Nataliia aus Dnipr. Ihr Mann Alexander hatte sie schon länger zu überreden versucht, das Land mit der sechsjährigen Tochter Sofiia zu verlassen. Doch ihn und ihre Mutter zurückzulassen, kam für Nataliia nicht in Frage. Als in der Nacht vom 3. April Raketen in der Stadt einschlugen, änderte sich alles.
Ein Mensch, ein Leben, ein Koffer
Dokumente und Kindersachen, ein bisschen Gewand – viel mehr war es nicht, was Nataliia von Zuhause mitnahm. "Ein Mensch, ein Koffer", so die junge Frau. Busse des Roten Kreuzes brachten sie und ihre Tochter gemeinsam mit 156 anderen Ukrainer:innen in einem Konvoi aus der Stadt hinaus, vorne die Polizei, hinten der Notarzt. Die Fahrt führte sie über Litauen nach Lwiw und schließlich nach Graz.
Nun sitzt Nataliia am Tisch im Haus von Familie Maderdonner-Krammer in Kammern, was trotz der Umstände ein Glücksfall ist. In Ella, der sechsjährigen Tochter der Familie, hat Sofiia eine Spielgefährtin und Freundin gefunden. Die vermeintliche Sprachbarriere scheint für die Mädchen nicht zu existieren. Immer wieder ist ihr Lachen zu hören, aufgeregt laufen sie durchs Haus. Seit wenigen Tagen kann Sofiia sogar mit ihrer Freundin gemeinsam die erste Klasse der Volksschule Mautern besuchen. Jeden Tag lernt das Mädchen nun neue Phrasen auf Deutsch, zuhause werden sie fleißig wiederholt.

- Nataliia und Sofiia sind aus Dnipr in der Ukraine nach Kammern gekommen.
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Die Hände beschäftigen
Für Nataliia selbst ist es ein Auf und Ab. Die Gefühlspalette reicht von extremer Dankbarkeit für die herzliche Aufnahme bis hin zu Sorge und Wehmut. Jeden Tag ist sie in Kontakt mit Zuhause, wo ihr Mann und ihre Mutter ausharren. Sie fehlen ihr sehr. In der Zwischenzeit versucht sie sich abzulenken so gut es geht, mit Hausarbeit, Gesprächen und in der Natur.
"Wenn die Hände beschäftigt sind, kann auch der Kopf weniger denken", so die 38-Jährige. In einem Gemeinschaftsgarten nahe dem Haus kann sie dem nachkommen. Hier kommen auch andere Ukrainer:innen hin, um zu arbeiten, sich auszutauschen und gemeinsam Zeit zu verbringen.
"Wenn die Hände beschäftigt sind, hat auch der Kopf weniger Zeit zum Denken."
Nataliia
Eine einfache Entscheidung
Warum sich Eva-Maria Maderdonner und Christian Krammer dazu entschieden, eine ukrainische Familie aufzunehmen? "Ich kann es nicht erklären, aber ich könnte nicht in den Spiegel schauen, wenn wir das nicht gemacht hätten", versucht die zweifache Mutter in Worte zu fassen, was ihrer Ansicht nach keiner Erklärung bedarf. "Unser Zuhause ist für sie ein sicherer Hafen und es bereichert ja auch uns", erzählt sie, den acht Monate alten Samuel am Schoß. Eigene Probleme erscheinen in Relation betrachtet nahezu banal. Ein Streit mit dem Partner wird zur Kleinigkeit, gemeinsame Zeit dafür umso wertvoller.
"Unser Zuhause ist für sie ein sicherer Hafen."
Eva-Maria Maderdonner
Wie es weitergeht, ist unklar. Ein Tag nach dem anderen. Geplant wird nicht, ist auch nicht möglich. Eins steht für Nataliia jedoch fest: Wenn es die Situation zulässt, will sie mit ihrer Tochter zurück in die Ukraine. Wann auch immer das sein wird. "Zuhause ist schließlich zuhause", meint die 38-Jährige mit Tränen in den Augen.

- Bürgermeister Karl Dobnigg, Dolmetscherin und gebürtige Ukrainerin Nataliia Leitner, sowie Sofiia und ihre Mutter Nataliia (v.l.)
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Drei Tage, 6.000 Kilometer
Fünf Minuten vom Haus der Familie Maderdonner-Krammer entfernt wohnt Georgine Schober mit ihrem Sohn. Trotz ihres hohen Alters und ihres eingeschränkten Sehvermögens hat sie ihre Türen und auch ihr Herz weit geöffnet. Im Wohnzimmer sitzend erzählen Jewgenija und Jewgenii, die in der Ukraine ein Transportunternehmen führten, Tochter Sandra, Onkologin Jelena, die gemeinsam mit ihrem 85-jährigen Vater kam, sowie die frühere Lehrerin Nadiia ihre Geschichte.
Von Mariupol aus waren sie drei Tage lang unterwegs. Der Tank hatte für eine Fahrt quer durch die Ukraine nicht mehr gereicht. Zudem versperrten 25 Blockposten die Straßen. Eine alternative Route führte sie schließlich über Sewastopol auf der Krim, wo die Fahrzeuge getankt werden konnten, über Moskau, St. Petersburg, Lettland und Litauen über Polen und die Slowakei bis nach Österreich.

- Insgesamt sechs Ukrainer:innen hat Georgine Schober (2.v.r.) aus Kammern in ihrem Haus aufgenommen. Hier im Bild mit Bürgermeister Karl Dobnigg (r.) und Dolmetscherin Nataliia Leitner (4.v.r.).
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"Lachen tut gut"
Seit 1. April sind sie nun in Kammern und versuchen, das Beste aus dem neuen Alltag zu machen. So wird viel im Garten und im Haus geholfen, Georgine Schober unter die Arme gegriffen. Was "guten Morgen" oder "gute Nacht" auf Ukrainisch heißt, hat diese von ihren neuen Mitbewohner:innen schon gelernt. Noch gibt es natürlich eine gewisse Sprachbarriere, doch sorgt diese oft unerwartet für einen Moment der Unbeschwertheit. Etwa, wenn von einem kleinen Boot die Rede ist – "lodka" ausgesprochen, und "Wodka" verstanden wird. Doch: "Lachen tut gut", sagt Jewgenii. Letzten Endes ist Sprache nicht alles: "Wir fühlen, was Frau Schober sagt, was sie gibt."
Die Chancen stehen gut, dass Jewgenii eine Arbeit bei der Voestalpine beginnen kann, dafür hat sich Bürgermeister Karl Dobnigg eingesetzt. Auch ein Konzert für die Neuankömmlinge aus der Ukraine wurde in Kammern kürzlich organisiert. Vom Gesang und den Melodien ist Jelena auch ein paar Tage später noch sichtlich gerührt. Nicht nur Jelena, auch die anderen sind von der großen Hilfsbereitschaft überwältigt. Kammern sei wie ein großes Zuhause, in dem die Menschen auf der Straße lächeln und einander grüßen.
Vogelgezwitscher
Die Ukrainer:innen, die bei Georgine Schober untergebracht sind, wollen hier bleiben. Zurück zu gehen ist keine Option. Wie das Haus aussieht – ob es überhaupt noch ein Zuhause gibt – das weiß keiner von ihnen. Jewgenii zeigt ein Foto, auf dem Hühner auf einer Wiese zu sehen sind. 70 an der Zahl hatten er und seine Familie in Mariupol. Als sie fliehen mussten, bot der Nachbar an, die Hühner zu versorgen. Noch gibt es immer wieder Kontakt mit Freunden, Bekannten oder Verwandten, die in Mariupol geblieben sind. Auf den Fotos, die sie bekommen, sieht man Zerstörung. Hier in Kammern zwitschern die Vögel.
Eine Gemeinde hilft:
Zur Info: Ab sofort gibt es Informationen und Serviceberichte rund um die Flüchtlingssituation in Österreich für Österreicher:innen sowie Ukrainer:innen in beiden Landessprachen auf MiyRayon.at (zu Deutsch: MeinBezirk.at).
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