Eine kurze Weihnachtsgeschichte
Stier um Vier
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Werner Preitler
Wien. 24. Dezember. Ein gottverdammter Tag. Der Schnee rieselt wie schlechtes Fernsehprogramm vom Himmel. Leise, bedeutungslos, weißer Dreck, der sich auf die Stadt legt, als würde er irgendwas reinwaschen können. Dennoch war es ein außergewöhnliches Ereignis, denn schon seit Jahrzehnten hat es in Wien zu Weihnachten nicht mehr geschneit.
Ich gehe. Keine Ahnung wohin. Ich bin schon lange unterwegs. Jahre vielleicht. Oder nur Stunden. Man verliert das Zeitgefühl, wenn keiner mehr auf einen wartet. Ich bin ein Schatten unter Lichtern, ein Geruch in der Nase der Passanten, etwas, das man schnell übersieht, wenn man gerade dabei ist, sich selbst wichtig zu nehmen.
Ein Sandler. So nennen sie uns hier. Klingt fast charmant. Ist aber nichts anderes als eine Bezeichnung für „Dreck auf zwei Beinen“.
Ich hatte mal ein Leben. Ehefrau. Tochter. Arbeit. Druckergehilfe. Ordentlich, pünktlich, sogar freundlich. Ich kam heim, küsste meine Frau, las meiner Kleinen vor. Einmal war ich jemand. Kurz.
Dann war da dieser andere Typ. Schlanker, smarter, besser duftend. Sandra sagte, sie hätte sich verliebt. In einen „richtigen Mann“. Was sie meinte war: in einen, der mehr Marie hatte und weniger trank als ich. Ich hab’s einfach weg gesoffen. Erst den Schmerz, dann die Klarheit, dann den Verstand. Irgendwann auch die Arbeit. Danach hat es keiner mehr versucht, mich zu retten. Und ich ehrlich gesagt auch nicht.
Die Gesellschaft?
Hah. Die besteht aus drei Stockwerken: Ganz oben: Die Reichen, die glauben, die Welt gehört ihnen, weil ihnen drei Eigentumswohnungen und ein fetter SUV gehören. In der Mitte: Die Hackler und Baraber, die so tun, als wären sie wer, aber trotzdem jeden Montag kotzen müssen, wenn der Wecker klingelt. Und unten: Wir. Die Sandler. Die Gescheiterten. Die nicht mehr scheitern können, weil keiner mehr hinschaut.
Und heute? Heute ist Weihnachten. Der größte Selbstbetrug der Menschheitsgeschichte. Die Stadt hat sich in Lametta geworfen, als würde sie einen Schönheitspreis gewinnen wollen. Aber alles ist nur Fassade. Drunter gammelt es. So wie ich. Und so wie alle.
Ich stapfe durch die Innere Stadt, Richtung Stephansplatz. Der Wind weht mir den Schnee direkt ins Gesicht, und mein Mantel ist mehr Loch als Stoff. Die Leute meiden mich. Nicht aus Angst. Sondern aus Gleichgültigkeit. Ich bin Teil der Dekoration geworden, ein Schatten, der zu Weihnachten nicht ins Bild passt. Weihnachten ist für schöne Dinge. Für schöne Menschen mit schönen Gedanken. Nicht für müde Typen mit kalten Füßen.
Ich gehe an einem Schaufenster vorbei. Drinnen tanzen Lichter um eine Spielzeugeisenbahn, und daneben sitzt ein Plüschbär mit einer roten Schleife. So viel Liebe für einen Stoffhaufen. Ich hab auch mal einen Bären gekauft. Für meine Tochter. Rosa. Mit Sternen auf den Ohren. Sie hat ihn geliebt. Ob sie sich noch erinnert?
Sie muss jetzt... was? Zwanzig sein? Vielleicht studiert sie. Vielleicht hat sie einen Freund. Vielleicht sagt sie, ihr Vater sei tot, weil das einfacher ist, als zu sagen: „Mein Vater ist ein Sandler, der irgendwo durch Wien irrt.“
Ja, ja die Liebe. Diese verdammte Hütchenspielerin der Gefühle. Erst gibt sie dir Flügel, dann sticht sie dir in den Rücken. Sie macht dich groß und dann so klein, dass du dich in einem Bierglas verlierst. Ich hab sie mal gehabt. Vielleicht. Oder ich hab’s mir nur eingebildet. Scheißegal. Am Ende bleibt man doch allein im Bierglas zurück.
Der Tod… Der kommt, wenn keiner mehr anklopft. Und du hörst auf, die Tür zu bewachen. Ich hab nicht Angst vorm Sterben. Ich hab mehr Angst davor, vergessen zu werden, ohne dass ich je richtig da war.
Ich komme am Graben vorbei. Die Stadt leuchtet wie ein Christbaum auf Drogen. Menschen in Daunenjacken, Selfies vor der Pestsäule. Ein Kind rennt mir fast in die Beine. Die Mutter zieht es weg, als hätte ich Tollwut. Ich sehe mich in einem Schaufenster: langer Bart, eingefallene Wangen, rot unterlaufene Augen. Ich sehe aus wie ein Gespenst mit Hang zur Romantik.
„Frohe Weihnachten“, sagte ich zu meinem Spiegelbild.
Es antwortet nicht.
Es ist fast Mitternacht, als ich den Stephansplatz erreiche. Der Dom ragt aus dem Schnee wie ein riesiger Finger, der zum Himmel zeigt. „Da oben ist keiner“, will ich ihm zurufen. „Die sind schon lange abgezogen!“
Die Christmette ist im Gange. Menschen strömen hinein. Gläubige, die sich auf die Knie werfen, um ihre Schuld in festlichen Liedern zu ersäufen. Und ich? Ich bleibe draußen. Wie immer.
Ein Priester hätte vielleicht gesagt, Gott sei auch für mich da. Aber nur, wenn ich vorher dusche und mich anständig benehme. Doch ich will keine Gnade. Ich will einen Glühwein. Oder eine Decke. Oder... nichts.
Ich stehe da, lausche durch die Türen dem Chor. „Stille Nacht, Heilige Nacht.“ Die Ironie ist köstlich.
Dann gehe ich. Langsam. Die Stadt ist wie leergefegt. Nur der Schnee bleibt mir treu. Er fällt weiter, als wollte er alles zudecken, was schiefgelaufen ist.
Ich komme zum Stadtpark. Dort ist es ruhig. Kein Mensch. Nur Bäume, Kälte und die Stadtlichter, die durch den Nebel glimmen. Ich setzte mich auf eine Bank. Abgelegen. So wie ich’s mag. Dann trinke ich den letzten Rest aus meiner Schnapsflasche, und werfe sie in den Schnee.
Ich hole meine Uhr raus. Casio, uralt, das Plastik ist schon eingerissen. Es ist 03:59, nein 04:00.
„Stier um Vier“, sage ich und lache. So ein richtiger, trockener Lacher, der in der Kälte hängen bleibt wie Zigarettenrauch. Passt irgendwie. Ich habe meinen Hamur doch noch nicht verloren.
Dann sehe ich ihn.
Oder sie. Oder es.
Da steht eine Gestalt. Weiß? Nein. Licht. Kein Glühen, kein Strahlen. Nur... Ruhe. Wie der Moment, bevor man einschläft. Kein Gesicht. Keine Stimme. Aber da. Warm. Wach.
„Was bist du?“, fragte ich. Keine Antwort. Nur ein Blick – oder ein Gefühl. Als würde mir jemand sagen: „Das ist dein Weihnachten.“
Ich bin müde. Müde schon seit Jahren. Kein Schlaf hatte gereicht. Kein Rausch war tief genug. Doch jetzt… wird es endlich still. Ganz still. Nicht um mich. In mir.
Ich schließe die Augen.
Und das Letzte, was ich denke, ist kein Gedanke.
Es ist….
Am Morgen fand ein Journalist einen Mann. Eingeschneit, wie eine Statue. Der Schnee hatte ihn fast gänzlich bedeckt. Nur sein Gesicht ragte heraus – mit einem gefrorenem Lächeln.
Die Polizei kam. Machte Fotos. Schrieb Berichte. „Männlich, circa 60, keine Papiere, kein Geld. Erfroren um 4:00.“ Fall abgeschlossen.
Aber der Journalist… Der blieb noch einen Moment. Zog seine Mütze ab. Und flüsterte: „Stier um Vier….“
Er schrieb einen Artikel über den Toten im Wiener Weihnachtsschnee und sorgte dafür, dass der Sandler nicht von dieser Welt ging, ohne dass jemand von ihm Notiz genommen hatte!
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