Ein radikales Frauenleben
Was wird von uns Menschen sichtbar, wenn es keine Masken mehr gibt und keine Kostüme? Was erblickt man in der Nacktheit der Herzen und der Verzweiflung?
Raten Sie, wovon ich gerade zu erzählen beginne! Ich habe mich gewundert, als ich mich in die Geschichte vertiefte. Wir müssen wohl immer wieder hinter vertraute Kulissen steigen, um erneut staunen zu können.
Eine französische Ordensfrau, im Denken geschult an Voltaire, Camus und Malraux, fragte sich im Herbst des Lebens nach den Fundamenten ihres Armutsgelübdes. Das ist für sich schon ein sehr ungewöhnliches Tableau.
Schwester Emmanuelle wurde 1908 geboren, trat mit 21 in einen Orden ein. Bis zum 62. Lebensjahr wirkte sie als Professorin für Literatur und Philosophie, pflegte in ihrer pädagogischen Arbeit sokratische Prinzipien. Sie stammte selbst aus gehobener Mittelschicht, unterrichtete Kinder dieses Milieus im Gymnasium. Vieles weist darauf hin, daß sie deutlich vom Existentialismus beeinflußt war.
Die Reflexion ihres Armutsgelübdes mündete in einen radikalen Schluß: Persönliche Besitzlosigkeit bei einer Existenz in den Gefielen des Wohlstands ist noch nicht einmal der Vorhof dessen, was das Wort Armut meint.
Emmanuelle ging über das Denken hinaus, das Gedachte erzwang Taten. Also brach sie zu den Müllsammler Ägyptens auf, um leibhaftig zu erproben, was ihre Orientierung taugt. Dieses konsequente Leben einer schließlich Hundertjährigen streifte eine Nonne aus einem koptisch-orthodoxen Orden. Mit ihrer Hilfe wollte Emmanuelle ihr Arabisch verbessern.
Kleiner Einschub: Orthodoxe Kirchen sind „autokephal“, was bedeutet, jede hat ihr eigenes Oberhaupt, ihre Eigenverantwortung. Es gibt da keine Zuordnung auf eine zentrale Persönlichkeit hin, wie es der Bischof von Rom für die Katholiken ist. Diese ganze Geschichte läuft also auf eine ökumenische Situation hinaus, da die Frauen ja in einer muslimisch dominierten Welt wirkten.
Schwester Sara, ihrerseits Oberin eines aktiven Ordens, notierte zu jener Begegnung: „Ich verstand nicht sofort alle deine Gedanken, aber von Anfang an nahm ich große Übereinstimmung zwischen uns wahr.“
Das hatte weitreichende Konsequenzen. Beide wurden sich einig: Ohne Bildung läßt sich Elend nicht zurückdrängen. Das erhielt hohe Priorität. Aber das Engagement der Frauen richtete sich beispielsweise auch gegen weibliche Beschneidung. Oder sie mußten sich manchmal damit begnügen, jemandem eine Weile Gesellschaft, persönlichen Beistand zu sichern, wo sonst nichts mehr übrig war, um Kummer zu mildern.
Schwester Sara zeichnete ihre Erinnerungen und Reflexionen auf, um so auf anderer Ebene herauszuarbeiten, worum es in diesen Prozessen ging. Dabei verwendete sie das Stilmittel eines fiktiven Dialogs mit Emmanuelle. Daß diese Aufzeichnungen nun auch in einem feinen, literarischen Deutsch vorliegen, ist der Übersetzerin Anna Handler zu verdanken.
Handler hat früher in Gleisdorf Religion und Französisch unterrichtet, lernte Schwester Emmanuelle 1982 in Gleisdorf kennen. Sie begleitete die Nonne seither in Österreich bei Vorträgen und Predigten als Sprachmittlerin. Daher ist nicht nur diese anregende Lektüre über zwei ungewöhnliche Frauenleben für uns greifbar. Handler weiß aus persönlicher Anschauung zu berichten, Emmanuelle habe im Orient Armut, Hunger, Leid und Krieg gesehen.
Der Tod, so schien ihr klar, sei nicht nur das Ende menschlichen Leids sondern auch die Grenze für alles Schöne. Also suchte Emmanuelle nach Aspekten, die über diese Grenze hinausreichen könnten. Handler sagt über Emmanuelle: „Alles, was bei ihr etwas bewirkt hat, ist aus der Erfahrung gekommen.“
Schwester Sara
„Schwester Emanuelle. Meine Freundin und Mutter.“
(Unser Leben für die Müllsammler von Kairo)
Tyrolia Verlag
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