Kulturarbeit
Funkenflug V
Ich treffe mich seit Jahren regelmäßig mit Hermann Maurer zu Arbeitsessen. Wir sind die Praxis des Kontrastes. Zwei Generationen. Zwei grundverschiedene Lebenswege. Er der Wissenschafter, ich der gewesene Lehrbub. Er mit seinem Arbeitsleben auf mehreren Kontinenten, ich der Provinzler. Er ein Mann, der zu repräsentieren versteht, ich wie ein ungemachtes Bett zu Füßen von Erzengel Gabriel (© Kurt Vonnegut).
Weshalb ich das erzähle? Maurer gehört zu den eher wenigen Menschen in meiner nahen Umgebung, die mit genau solchen Kontrasten völlig entspannt umgehen können. Das eröffnet uns im Nachdenken über anstehende Fragen einen grenzenlosen Spielraum. Wir teilen einen ziemlich ungestümen Wissensdurst.
Ich bestaune, welches Themenspektrum Maurer abdeckt, was mir zeigt, daß sein Geist viel ungeduldiger durch die Welt tobt als meiner, denn wir sind uns unausgeprochen einig: Man kann sich nur zu Themen äußern, die man sich in einem Mindestmaß erschlossen hat; auch wenn wir ja zu allem eine Meinung haben. Man muß also in viele Themen hineingegangen sein, um sich über Gott und die Welt unterhalten zu können.
Was dabei eine spezielle Rolle spielt: Maurer ist Informatiker. Er hat einige Grundlagen dessen entwickelt, was wir anfangs „Neue Medien“ nannten. Das bedeutet, er ist in der „Gutenberg-Galaxis“ ebenso zuhause wie in dieser jungen, radikal neuen Infosphäre, die uns umgibt.
Das war auch unser erster Berührungspunkt in den 1980er Jahren. Im Foyer des Grazer Augartenkinos konnte ich am 5. Oktober 1985 - im Rahmen eines Symposions von Amnesty International - erstmals online gehen. Und zwar per MUPID, einem System, das Maurer mit seinem Team entwickelt hatte. (Das Internet gab es damals noch nicht.)
Mai 2022
Als wir nun unsere Mai-Session abhielten, gab es einem Moment, wo Maurer in einem unwirsch geäußerten Nebensatz meinte: „Bücherlesen und Wissenserwerb zählen heute garnichts mehr!“ Das bezog sich auf unsere kleine Erörterung des Status quo, von dem sich so viele Menschen ganz mühelose Ergebnisse erwarten. Aber die Zeit, um etwas in Ruhe zu bearbeiten, zu entwickeln, wird meist als Vergeudung gesehen.
Keine Sorge! Wir meiden beide die Rolle der Kulturpessimisten. Horizont! Es ging in unserer Betrachtung dann auch um Diderot und D’Alembert, die zwei exponiertesten Enzyklopädisten der Aufklärung. In ihrem epochalen Werk (35 Bände) rangen sie um die Möglichkeit, qualifizierte Informationen zusammenzutragen, thematisch zu ordnen und quasi das verfügbare Wissen der Zeit, soweit es auf hohem Niveau lagerte, verfügbar zu machen.
Diese Enzyklopädie hat das Zeug zur Metapher. Denn, so meine Erörterung mit Maurer, heute hieße das einer „Enzyklopädie 2.0“, aus einem unüberschaubaren Ozean von Daten jene validen Informationen herauszufinden, die uns über angemessene Arbeit den Wissensgewinn möglich machen. Einst das Durchforsten des Mangels, heute das Durchforsten der Überflusses.
Eine kleine Hintergrundfolie
Dabei saßen wir auf der Terrasse des Gasthauses „Zur alten Mühle“. Das liegt an eben jener kleinen Straße, die ich im Jahr 2004 entlang ging, um „Diderot in Vincennes“ nachzustellen. Der Hintergrund: Im heißen Sommer von 1746 verbot die Regierung das Buch „Pensées philosophique“ des französischen Philosophen Denis Diderot. Seine Gegner verbrannten es.
Diderot wurde in Vincennes (vormals Jagdschloß und Residenz) eingesperrt. Jean Jaques Rousseau besuchte ihn dort mehrmals. Um das Geld für die Kutsche zu sparen, ging Rousseau die acht Kilometer von Paris nach Vincennes zu Fuß. Damit ihm beim Gehen die Zeit verging, begann er unterwegs zu lesen.
Also hatte ich 2004 – von der Stadtapotheke Gleisdorf ausgehend - mit dem Tacho meines Autos auf jener Straße die rund acht Kilometer grob vermessen, um ein virtuelles Vincennes zu markieren, das auf der Höhe eines Mais-Ackers lag. Beim folgenden Gang zu Fuß las ich unterwegs „Der Großinquisitor“ von Fjodor M. Dostojewski. Wir landen eben immer wieder bei den Vorleistungen anderer, um voranzukommen.
Relevante Links
Siehe zur Kooperation mit Hermann Maurer unter anderem:
+) Komplexität und Praxis
Zum Thema Netzkultur siehe:
+) Da gibt’s kein Dort (Über Veränderungen im Verhältnis von Zentrum und Provinz)
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