Gefangen im falschen Körper

Wenn das Geschlecht ein anderes sein sollte als das biologische vorgibt, brauchen Jugendliche vor allem Zeit und Unterstützung. | Foto: Jan H. Andersen_Fotolia
  • Wenn das Geschlecht ein anderes sein sollte als das biologische vorgibt, brauchen Jugendliche vor allem Zeit und Unterstützung.
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Ungefähr einer von 10.000 männlichen Jugendlichen und eine von 15.000 weiblichen Jugendlichen haben den Wunsch, ihr biologisches Geschlecht zu verändern. Nicht berücksichtigte Wünsche dürften noch höher sein. Dasselbe gibt es natürlich auch bei schon erwachsenen Personen. Junge Menschen, die vom biologischen Geschlecht her männlich/weiblich sind, aber fühlen und spüren, dass ihr soziales Geschlecht (Gender) weiblich/männlich ist, nennt man Transgender Menschen. Sie sind vom Wunsch beseelt, ihr biologisches Geschlecht dem sozialen Geschlecht anzupassen.

Eine Frage des Hormonhaushalts

Woher dieser Wunsch kommt, dass manche Männer eine weibliche soziale Geschlechtsidentität haben und umgekehrt, ist bislang völlig ungeklärt. Manche Forschungen weisen darauf hin, dass zwischen der 12. und der 16. Schwangerschaftswoche zu wenig oder zu viel Testosteron ausgeschüttet wird und dass dies für den sozialen Geschlechterwunsch prägend sein könnte. Geklärt ist aber nichts.
Daneben gibt es gar nicht so wenige junge Menschen, die in Zeiten des Erwachsenwerdens, also in der Pubertät und der Adoleszenz zwischen 8 und 15 Jahren unsicher werden, ob ihre soziale Geschlechterrolle und -identität zwischen „Weibchen“ und „Männchen“ hin und her pendelt. Dies nennt man Genderfluid. Manchmal kann im Hintergrund auch eine psychische Erkrankung sein, eine heraufziehende Persönlichkeitsstörung oder gar eine Psychose, die zu Unsicherheit über die Geschlechteridentität führt.

Dauerhafter Wunsch

Doch es gibt eben Menschen, bei denen der Wunsch nach Veränderung des biologischen Geschlechts, entsprechend der sozialen Geschlechtsidentität, überdauernd ist und keine Laune, kein Ausprobieren und kein Ergebnis einer psychologischen Problematik. Diese Kinder, Jugendlichen und jungen Menschen haben es dann nicht leicht, weil ihnen mit Misstrauen und Unverständnis, ja oft auch mit Abwertung und Verachtung begegnet wird. Sie verdienen es aber in ihrem Sein gehört, akzeptiert und respektiert zu werden. Und sie verdienen Unterstützung. Der Wunsch als Mann eine Frau zu sein, oder als Frau ein Mann zu sein, hat übrigens rein gar nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun, also ob heterosexuell oder homosexuell.
Oft trauen sich diese jungen Menschen nicht, sich mit ihren Wünschen zu outen. Die Folgen sind massive innere Konflikte, die hauptsächlich in depressiven Haltungen, Rückzug und Suizidgedanken zum Ausdruck kommen können.  Wenig verwunderlich, denn wenn die Jugendlichen sich ihren Eltern outen, sind diese meistens schockiert. Auch wenn es bereits Vermutungen gegeben hat: „Er hat immer wie ein Mädchen gesprochen, er hat immer mit Mädchenspielsachen gespielt, er hat sein Zimmer wie ein Mädchenzimmer eingerichtet. Wenn er konnte zog er heimlich Mädchenkleider an.“
Umgekehrt ist das leichter. Es ist eher akzeptiert, dass junge Mädchen burschikos auftreten.

Geduld und Verständnis sind gefragt

Was nun tun? Es braucht vor allem eins – Zeit und Achtsamkeit. Hals über Kopf Schritte zu setzen, um das biologische Geschlecht zu wechseln, verfrüht mit Hormontherapien anzufangen, Pubertätblocker zu nehmen oder sogar unüberlegt operativ vorzugehen ist ein absolutes NoGo. Hier gibt es aber auch eindeutige gesetzliche Regelungen, die uns helfen. Man findet sie auch auf der Website des Gesundheitsministeriums. Wer sich als Mann oder Frau fühlt, aber in einem anderen biologischen Körper lebt, soll dies sorgfältig im Rahmen von Coachings und Untersuchungen prüfen, um andere mögliche dahinterliegende Ursachen, die einen die Geschlechtsidentität wechseln lassen, auszuschließen. Dieser Vorgang muss vor allem von nahen Bezugspersonen durch eines begleitet werden und das ist Akzeptanz.

Hier nun einige Tipps, wie Sie als Eltern damit umgehen können, wenn Ihr Sohn oder Ihre Tochter plötzlich vermehrt den Wunsch äußert, sein oder ihr Geschlecht zu wechseln.

1. Bleiben Sie ruhig, gelassen und freundlich zugewandt.

2. Seien Sie achtsam
und zugleich etwas neugierig. Akzeptieren Sie den Wunsch und lassen Sie sich in guter Atmosphäre erzählen, um was es Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter geht.

3. Versichern Sie ihrem Kind, dass Sie es immer mögen werden, egal wer oder wie es ist. Geben Sie ihm Rückhalt und Sicherheit. Erfahrungsgemäß legen sich dann Genderfluidtendenzen, das heißt Verhaltensweisen, bei denen man mit der Identität spielt.

4. Wenn die Wünsche Ihres Kindes übergreifend sind, dann seien Sie offen und verständnisvoll und lassen Sie sich wieder eines – Zeit. Sagen Sie zu diesem Zeitpunkt „Nein“ zu verfrühten Hormonbehandlungen oder Blockade der Pubertät durch Hormone.

5. Seien Sie zugleich wachsam, ob sich Ihr Kind Hormone auf dem illegalen Markt zu besorgen versucht. Wie das geht? Am besten durch das offene, ehrliche Gespräch auf der Basis gegenseitiger Wertschätzung.

6. Ist der Wunsch überdauernd, beginnen Sie mit Ihrem Kind ein Coaching oder eine Therapie.

Die Website graz.transgender.at kann Ihnen hier weiter helfen. Behandeln die Transgenderwünsche Ihres Kindes vertraulich, behutsam und mit Respekt. Machen Sie allerdings kein schreckliches Geheimnis daraus. Holen Sie sich Hilfe und Unterstützung. Und ansonsten leben Sie mit Ihrem Sohn/Ihrer Tochter so weiter wie bisher. 

Der Experte Dr. Philip Streit

Philip Streit ist klinischer Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut, Lebens- und Sozialberater.
Seit 1994 leitet er das „Institut für Kind, Jugend und Familie“ in Graz.
Telefon: 0316/77 43 44
Web: www.ikjf.at
Leser-Fragen bitte an: redaktion.graz@woche.at oder per Post an „WOCHE Graz“, Gadollaplatz 1/6. Stock, 8010 Graz

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