Wie Frauen sich helfen
Gewaltschutz beginnt vor dem ersten Schlag

- Erster Schritt raus aus der Gewalt: Im Gewaltschutzzentrum finden Betroffene psychosoziale und juristische Hilfe – kostenlos und anonym.
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Alle zwei Wochen wird in Österreich eine weibliche Person ermordet. Femizide sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Über 2.700 Frauen ließen sich im Vorjahr in den steirischen Gewaltschutzzentren beraten. Im Gespräch mit MeinBezirk erklärt Geschäftsführerin Marina Sorgo, warum Gewaltschutz möglichst früh ansetzen muss und weshalb unsere Gesetze trotz allem eine Vorreiterrolle innerhalb Europas einnehmen.
STEIERMARK. Sie haben Angst, sie fühlen sich schuldig und oft schweigen sie jahrelang. Wenn Frauen im Gewaltschutzzentrum Steiermark Hilfe suchen, haben sie meist eine längere Leidensgeschichte hinter sich. Denn Gewalt beginnt nicht mit einem Faustschlag. Sie beginnt mit Worten, Kontrolle, Erniedrigung, schildert Marina Sorgo, Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Steiermark, die selbst jahrelang als Sozialarbeiterin im Grazer Frauenhaus tätig war: "Die psychische Gewalt ist immer eine Vorstufe zur körperlichen Gewalt."
3.841 gefährdete Personen wurden im Jahr 2024 in den steirischen Gewaltschutzzentren betreut, 1.603 davon nach einem Betretungs- und Annäherungsverbot. Neben dem Standort in Graz gibt es noch sieben weitere Gewaltschutzzentren in Bruck an der Mur, Feldbach, Hartberg, Leibnitz, Leoben, Liezen und Voitsberg. 77 Prozent der Hilfesuchenden waren im letzten Jahr weiblich. Demgegenüber standen 2.689 Gefährder, die zu 89 Prozent männlich waren. Die meisten neuen Betretungs- und Annäherungsverbote wurden in den Bezirken Graz (489), Graz-Umgebung (176) und Bruck-Mürzzuschlag (118) ausgesprochen.
Die Fallzahl ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.
- 2020: 2.990 Fälle
- 2021: 3.286 Fälle
- 2022: 3.543 Fälle
- 2023: 3.820 Fälle
- 2024: 3.841 Fälle

- Marina Sorgo ist Diplomsozialarbeiterin, Trainerin und Gründerin des Gewaltschutzzentrums Steiermark.
- Foto: Gassler/MeinBezirk
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Scham als unsichtbare Barriere
"Scham- und Schuldgefühle sind ganz wesentliche Hemmnisse", erklärt Sorgo. Gerade in familiären Beziehungen sei der Schritt nach außen besonders schwer – oft schämen sich Betroffene, dass sie in der Situation sind, externe Hilfe zu benötigen. Es gehe deshalb nie darum, Menschen zu einem Schritt zu drängen, sondern ihnen Entscheidungshilfen zu bieten. "Wir tun nichts, was die Menschen nicht wollen." Diese Haltung sei im Gewaltschutz essenziell, da Gewaltbetroffene oft erleben, dass ihnen die Entscheidungsfreiheit genommen wurde. In den heimischen Zentren wird daher ein "Empowerment-Prinzip" verfolgt: Betroffene sollen wieder die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen, mit emotionaler wie juristischer Unterstützung.
"Ich möchte, dass wir so sichtbar werden wie Apotheken. Jeder soll wissen, wenn ich Hilfe brauche, kann ich da hingehen."
Marina Sorgo, Geschäftsführerin Gewaltschutzzentrum Steiermark

- Gewalt hinterlässt Spuren, oft lange bevor sie sichtbar wird.
- Foto: Random Thinking/Unsplash
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Individuelle Wege statt Schubladendenken
Jeder der rund 3.800 Fälle im Vorjahr wurde daher individuell betrachtet und nach Bedarf von Sozialarbeitenden gemeinsam mit Juristinnen und Juristen evaluiert. Die Betroffenen erhalten neben der Beratung eine Vielzahl an Unterstützungsleistungen, wie Sicherheitspläne, psychosoziale Betreuung und Begleitung vor Gericht mit kostenfreier Rechtsvertretung. Besonders betont wird dabei: "Es ist völlig okay, wenn jemand in der Beziehung bleiben möchte, aber trotzdem Schutz sucht."
Nur rund ein Prozent der Fälle gelten als Hochrisikofälle, in denen schwerste Gewalt droht. In solchen Szenarien erstellt das Zentrum fundierte Gefährdungseinschätzungen, auf deren Basis sogenannte "sicherheitspolizeiliche Fallkonferenzen" einberufen werden. Hier sitzen Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendhilfe, Bewährungshilfe und weitere Beteiligte an einem Tisch, um präventive Maßnahmen zu koordinieren. Seit der Einführung dieser Fallkonferenzen sei kein schwerer Gewaltvorfall mehr passiert.

- Verstehen statt verurteilen: Im Gewaltschutzzentrum wird jede Person individuell beraten, ganz unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Lebenssituation.
- Foto: Gassler/MeinBezirk
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"Gewaltschutz ist eine Querschnittsmaterie"
Das Thema Gewaltschutz wird auch bundespolitisch gerade wieder diskutiert. Bis zum Herbst sollen erste Maßnahmenvorschläge für einen "Nationalen Aktionsplan gegen Gewalt an Frauen (NAP)" am Tisch liegen - MeinBezirk berichtete. Aus steirischer Sicht wünscht sich Sorgo, die auch Bundesverbandsvorsitzende der Gewaltschutzzentren ist, in erster Linie mehr Sichtbarkeit, mehr Vernetzung und langfristige Bildungsarbeit. Trotz der bereits gut ausgebauten Strukturen gebe es Handlungsbedarf, allerdings weniger bei den Gesetzen als bei der öffentlichen Wahrnehmung.
"Österreich hat die besten Gewaltschutzgesetze Europas – besser als viele der oft zitierten skandinavischen Länder", betont sie. Diese hätten zwar einen starken Fokus auf gesundheitspolitische Prävention, doch Österreich sei sicherheitspolitisch hervorragend aufgestellt. "Wir sind allerdings am Ende der Interventionskette", führt die Expertin aus.
"Gewaltprävention beginnt viel früher, nämlich in der Kindheit, in der Familie, in der Schule."
Marina Sorgo mit Blick auf die aktuelle Situation
Gewaltschutz sei eben nicht nur Sache der Polizei oder der Gerichte, sondern der gesamten Gesellschaft. Auch Medien sieht Sorgo hierbei klar in der Verantwortung, indem der Fokus auf Hilfsangeboten und nicht auf den Gewaltexzessen liegen müsse: "Wenn man immer wieder von Femiziden liest und kommuniziert bekommt, dass die Polizei nichts tut – dann trauen sich Betroffene noch weniger, Hilfe zu suchen", warnt sie. Der NAP könne insofern helfen, die bestehenden Maßnahmen weiter auszubauen, etwa durch bessere Täterarbeit, stärkere Prävention und nachhaltige Kooperation über Zuständigkeitsgrenzen hinweg.
- Gehe auf die betroffene Person zu und teile ihr mit, was du beobachtet hast.
- Vermittle der Person das Gefühl, dass du Verständnis hast, wie auch immer sie reagieren wird.
- Signalisiere, dass Gewaltbetroffene keine Schuld an der Gewalt haben.
- Frage nach, welche Unterstützung die betroffene Person haben möchte.
- Biete ihr Zuflucht und Unterstützung an.
- Unternimm nichts, was die betroffene Person nicht will.
- Rede nicht abwertend über die gewalttätige Person.
- Respektiere die Entscheidung der Person – besonders beim Thema Trennung.
- Ruf die Polizei zu Hilfe, wenn du selbst Zeugin oder Zeuge eines Angriffs wirst. Greife nicht selbst ein.
Du möchtest dich beraten lassen?
So erreichst du die Gewaltschutzzentren in der Steiermark
Telefon: +43 316 77 41 99
SMS: +43 8282 709 92 93 33
E-Mail: office.stmk@gewaltschutzzentrum.at
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