Autorin Helga Schneider
"Meine Mutter war KZ-Aufseherin in Auschwitz"

Helga Schneider im April 2022 | Foto: privat
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Helga Schneider (86) ist als Tochter zweier Österreicher in Polen geboren, in Deutschland aufgewachsen und lebt als Autorin in Italien. Obwohl ihre Muttersprache Deutsch ist, verfasst sie ihre Werke ausschließlich auf Italienisch. Ihr Roman "Lasciami andare, madre" (zu Deutsch: Laß mich gehen, Mutter), in dem sie in autobiografischem Rückblick mit der Wiener Mutter, einer Kriegsverbrecherin und NS-Nostalgikerin, abrechnet, sorgte für großes Aufsehen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt.

ÖSTERREICH. Das literarisches Werk von Helga Schneider dreht sich um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Mutter, die im Konzentrationslager Auschwitz als Aufseherin an den Kriegsverbrechen der Nazis beteiligt war. Zum Muttertag sprach Schneider mit den RegionalMedien über ihre Gefühle, mit denen sie als Tochter einer KZ-Aufseherin durchs Leben geht, über ihre Kindheit in Berlin und am Attersee, und ihre Eindrücke, die sie im "Führerbunker" als Kind erfahren hat.

RegionalMedien Austria: Sie haben mehrere Bücher geschrieben, in denen Sie die Geschichte Ihrer Familie aufarbeiten. Hatten Sie Schuldgefühle, als Sie erfahren haben, dass Ihre Mutter KZ-Aufseherin in Auschwitz war?
Helga Schneider: Sie war eine Aufseherin in Lager Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück. Es war schrecklich für mich. Ich habe erst 30 Jahre nach dem Krieg erfahren, dass sie in Berlin überlebt hat und nach Wien gegangen ist. 30 Jahre lang habe ich nichts von ihr gehört! Meine Familie hat mir nie irgendwas von meiner Mutter erzählt. Es war ich selbst, die über ihren Verbleib erfahren wollte.

Wie war es, als Sie ihrer Mutter das erste Mal begegnet sind?

Nachdem ich erfahren habe, dass sie lebt und in Österreich wohnt, kontaktierte ich sie. Sie sagte zu mir: „Komm mich doch in Wien besuchen!“ Ich bin also mit meinem damals fünfjährigen Sohn sofort nach Wien gefahren. Ich hatte gehofft, dort eine Mutter zu finden. Der Moment, als sie mir dann erzählt hat, dass sie KZ-Aufseherin in Auschwitz-Birkenau war und mir Fotos von ihren alten Uniformen gezeigt hat, und ich verstanden habe, dass sie immer noch so ein Nazi war, habe ich mich furchtbar schlecht gefühlt. Aber nun war ich einmal da. Sie hat mir gesagt, dass sie überzeugt war, dass dieser „Juden-Schmutz“, wie sie es nannte, beseitigt werden musste. Da ist mir klar geworden, dass ich besser nicht nach Wien hätte fahren sollen, dass das wahrscheinlich ein großer Fehler war. Nach zwei Stunden musste ich einfach von ihr weg, ich hielt es nicht mehr aus. Mir ist dort klar geworden, dass ich mich nicht in das Leben dieser Frau hineinziehen lassen wollen würde – schließlich war sie eine Frau, die als Aufseherin in Auschwitz fungierte und es nicht bereut hat! Es war ein Schock für mich. Ich habe dann also meinen Sohn genommen und bin gegangen. Danach wollte ich nichts mehr von ihr wissen.

Sie haben ihre Mutter dann aber doch noch einmal getroffen?
Nach 1971 sind weitere 27 weitere Jahre vergangen, bis ich ein zweites Mal nach Wien gefahren bin. Sie war noch am Leben, aber schon sehr alt. Ich dachte mir, dass sie sich im Alter vielleicht geändert hat, ich wollte am Ende ihres Lebens mit ihr Frieden schließen. Aber es war genau das Gleiche. Sie war immer noch dieser Nazi, immer noch überzeugt von der Sache – was für eine seltsame Frau! Damals bin ich wirklich zornig geworden. Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ich habe in Wien begonnen, ihr konkrete Fragen zu stellen: Was hast du damals dort gemacht? Was hast du mit den Frauen angestellt? Und sie hat mir schreckliche Sachen erzählt. Dass sie Frauen auf Tische, auf Paletten angebunden hat, sodass der SS-Arzt seine schrecklichen Experimente machen konnte. Ich habe ein – wie soll ich sagen – grausames Spiel begonnen, habe sie gefragt, ob sie sich dabei nicht hin und wieder ein bisschen gut gefühlt hat, oder ob sie nicht hin und wieder hinterfragt hat, was sie da eigentlich tat. Ich habe ihr gesagt, wenn du mir nicht alles erzählst, siehst du mich nie wieder, usw.

Wie ist es dazu gekommen, Bücher über Ihre Mutter zu schreiben?
Als ich nach diesem Besuch wieder zurück nach Bologna gekommen bin, fühlte ich mich wahnsinnig schlecht. Da war so viel Emotion – ich war furchtbar wütend auf diese Frau. Eine Freundin hat mir dann gesagt: Du musst das alles aufschreiben, was du bei diesem letzten Besuch über sie erfahren hast. Ich habe mich hingesetzt und habe das Buch geschrieben: „Lass mich gehen, Mutter“. Das wurde ein großer Welterfolg, wurde in mindestens 15 Sprachen übersetzt. Auch 20 Jahre später war es immer noch erfolgreich. Meine 15 Bücher sind historische Mahnmäler.

Tut Ihnen das heute noch weh, dass Sie so eine Mutter hatten?
Schauen Sie, wenn Sie eine Mutter hätten, die einen gewöhnlichen Fehler begangen hat, können Sie ihr vielleicht verzeihen. Für mich ist das anders. Wenn man nämlich eine Mutter hat, die solche furchtbaren Dinge gemacht hat, dann trägt man ein schweres Gewicht mit sich. Sie trug die Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich frage mich oft: "Wieso ich? Wieso habe gerade ich eine so schlechte Mutter, die nach Auschwitz gehen wollte und unschuldige Menschen misshandelt und ihnen solche schrecklichen Dinge angetan hat?" Es ist ein furchtbares Gefühl, auch Schuldgefühle, die niemals aufhören. Weil ich weiß, dass sie in Auschwitz unschuldigen Frauen ganz schreckliche Dinge angetan hat. Unschuldige Frauen, die dort arbeiten mussten, hat sie gedemütigt, misshandelt…

Wieso haben Sie Schuldgefühle?
Ich hatte eine jüdische Freundin, die in Auschwitz war. Sie hat mir erzählt: "Helga, wenn man in Auschwitz ankam, haben sie einem alle Kleider weggenommen und diese Aufseher haben einen mit einem bestimmten Blick angeschaut, mit dem sie ausdrückten, was sie mit einem anstellen würden. Das muss man sich vorstellen. Daher spüre ich eine große Schuld, ja. Weil diese Mutter trägt die Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Als ich meine Mutter das zweite Mal in Wien gesehen habe, spürte ich bei ihr keine Reue. Sie hat mir gesagt: 'Als unser Führer Selbstmord begangen hat, sah ich im Leben keinen Sinn mehr'. Verstehen Sie, sie hat ihre Zukunft auf Adolf Hitler gebaut! Und das, obwohl sie zwei Kinder hatte! Sie müssen wissen, sie hat uns zwei Kinder in Berlin zurückgelassen. Mein Bruder war damals 19 Monate alt. Ich war vier Jahre alt.

Sie haben Adolf Hitler als Kind persönlich kennen gelernt, als Sie den Führerbunker durch eine Intervention Ihrer Tante besuchen mussten. Was für Erinnerungen haben Sie daran? Was für einen Eindruck machte er auf Sie?
Ich habe Hitler getroffen, ja. Es war im Führerbunker. Es sollte eine Ehre für mich sein, sagen wir so. Es war ein historischer Moment. Ich habe diese Episode in meinen Büchern festgehalten. Ich habe ihn nur zehn Minuten gesehen. Für diesen Besuch mussten wir uns einem Tuberkulose-Test unterziehen: Man hat uns mit einer Substanz ein Kreuz an die Brust geschmiert, um zu schauen, ob wir innerhalb von 24 Stunden eine Reaktion entwickeln. Weil wissen Sie: Wir Kinder, die Hitler in diesem Bunker besuchten, durften keine Krankheiten dorthin bringen. Und mein Bruder und ich sowie die anderen Kinder mussten uns auch unter eine Quarz-Lampe stellen. Weil Hitler wollte keine ausgemergelten, fiebernden Kinder sehen. Ich erinnere mich noch genau an diesen Bunker. Dann ist Adolf Hitler gekommen, es war das erste Mal, dass ich den Führer gesehen habe. Er ist an mir vorbei gegangen, hat mir die Hand gegeben. 

Helga und ihr Bruder Peter Schneider | Foto: privat

Wie wirkte er auf Sie?
Er wirkte auf mich wie ein alter Opa, er sah schlecht aus, weil er einige Monate zuvor dem berühmten Attentat auf ihn im Führerhauptquartier Wolfsschanze mit einer Sprengladung auf einem Tisch entkommen war. Bei dem Attentat sind dann statt ihm andere ums Leben gekommen. Und wenige Monate danach habe ich ihn gesehen. Ich erinnere mich noch sehr genau an sein Gesicht. Er wirkte alt. Er war zwar erst 56 Jahre alt, aber er war in einem verheerenden Zustand. Im Großen und Ganzen sah man ihm an, dass er noch unter dem Attentat litt. Durch das Attentat war ein Arm nicht in Ordnung, es war der linke, das bemerkte ich. Schauen Sie, ich spürte Mitleid. Ich als kleines Mädchen treffe auf einen Mann, der in einer so schlechten Verfassung ist. Manche fragten mich: Was, du hattet Mitleid mit Adolf Hitler? Aber ich war ja erst etwa sieben Jahre alt. Die ganze Stadt sagte, seine Verfassung sei tadellos. Aber ich, ich stand dort in der ersten Reihe, er sah mir direkt ins Gesicht, als er mir die Hand gab. Sein Gesicht war weiß, wenn nicht grau. Alles ging sehr schnell. Alle machten so ein Getue um den Führer. Es hieß: "Dem Führer geht es gut, er ist in einem super Zustand!'. Aber dort, in diesem Moment in dem Bunker, da sah ich, wie schlecht es ihm ging, wie schlecht er aussah. Das war natürlich eine große Hoffnung. Auf jeden Fall war es auch eine riesige Erfahrung. Denn ich bin die einzige Überlebende in Italien, die jemals in diesem Bunker war. Alle anderen Kinder, die mit mir waren, auch mein drei Jahre jüngerer Bruder Peter sind alle nicht mehr am Leben.

Sie haben auch den damaligen Propagandaminister Joseph Goebbels getroffen?
Ich habe Goebbels ein paar Minuten lang gesehen, im Ministerium für Propaganda. Ich war dort gemeinsam mit meinem Bruder und unserer Stiefmutter. Die Schwester unserer Stiefmutter war eine der Sekretärinnen von Joseph Goebbels.

Wann war das?
Das Zusammentreffen mit Goebbels war noch vor dem Besuch im 'Führerbunker', zwischen 1942 und 1943. 
 
Sie haben während des Krieges in Berlin in einem Keller gewohnt. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Ich erinnere mich an alles in Berlin, während und nach dem Krieg. Mein Vater hat 1942 eine andere Frau geheiratet, wir waren mit der Stiefmutter dort. Es war schrecklich in Berlin – für alle. Wir lebten Monate lang in einem Keller eines Hauses in Berlin Steglitz, in der Friedrichsruherstraße. Es gab eine Menge Bomben auf Berlin, quasi ständig Bombardierungen, bei denen wir jedes Mal in diesen Keller geflüchtet sind. Alles brannte, alles war kaputt. Wir mussten zusehen, wie die Hauptstadt in Schutt lag. Berlin war komplett eingeschlossen. Die Stadt war einfach schrecklich – auch nach dem Krieg, als wir zurückgekommen sind. Erst viel später wurde alles sehr schön wieder aufgebaut. Ich bin dann in den 90er Jahren mehrmals mit meinem Sohn dorthin zurück. Berlin ist jetzt wieder wunderschön, wie vor dem Krieg. In den 30er Jahren, bevor Hitler kam, war Berlin eine prachtvolle Stadt. Da waren Straßenbahnen, Autobusse, Museen, schöne Straßen, Lichter, Bars, Geschäfte. Nachdem Hitler kam, war alles zerstört. Ich bin furchtbar wütend, weil ein Diktator alleine dieses Desaster angerichtet, und der Menschheit so viel Schreckliches angetan hat. Heute passiert so eine schreckliche Sache wieder, mit diesem Diktator Putin, in Russland, der in der Ukraine einmarschiert ist. Ich habe die Bombardierungen gesehen, ich habe diesen Krieg gesehen, es macht Schreckliches mit mir, wenn ich heute diese Dinge sehe, die dort passieren.

Was verbindet Sie mit Österreich?
Ich trage Attersee immer noch in meinem Herzen. Die Jahre am Attersse nach dem Krieg waren die einzigen drei Jahre, in denen ich glücklich war. Wir waren arm, aber mein Bruder und ich waren dort glücklich mit unseren Großeltern, die aus Polen geflohen waren. Wir Kinder waren von Berlin dorthin geflüchtet. Da war dieser See vor dem großen Haus. Mein Großvater hat die wenigen Möbel, die wir hatten, selbst gebaut. Ich erinnere mich gut an dieses Haus mit der Großmutter, die als Bäuerin gearbeitet hat, an diese Zeit mit dem herrlichen Brot, der Milch, der Wurst. Wir Kinder sind in die Schule gegangen, wir schliefen in Kinderbetten, wir haben schwimmen gelernt. Immer, wenn ich traurig bin, dann denke ich an diese Zeit mit den Großeltern. Überhaupt bin ich immer glücklich, wenn ich nach Österreich komme. Ich liebe Österreich. Ich habe oft gesagt, wenn ich 30 Jahre jünger wäre, würde ich in Österreich leben. Nicht nur wegen der Großeltern. Heute ist es in Italien schwer geworden zu leben. Ich will nicht näher auf die Hintergründe eingehen. Ich könnte mir jetzt wieder vorstellen, in Österreich oder in Berlin zu leben. 

Sie sprechen ungern Deutsch, obwohl Sie die Sprache perfekt beherrschen. Auch jetzt führen wir das Gespräch auf Italienisch. Warum?
Ich sprach sehr gut meine Muttersprache, aber seit 50 Jahren spreche ich sie nicht mehr. Am Atterssee habe ich sehr gut Deutsch gesprochen. Als ich nach Italien gekommen bin, wollte ich die Sprache nicht mehr sprechen, weil ich auf Deutschland wütend war. Auch wollte ich nicht mehr in der Sprache meiner Mutter sprechen. Und auch jetzt benütze ich Deutsch nicht sehr oft. Wenn ich nach Wien oder Berlin komme, dann spreche ich gut Deutsch. Ich habe damals mein erstes Buch auf Italienisch geschrieben, ich schreibe heute noch auf Italienisch. Aber ich lese täglich deutschsprachige Zeitungen.

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