Europa
Schöne Menschen
Auf der Ringstraße kann man noch bis Ende Mai den Heldenplatz-Zaun entlang eine Reihe großer Portraitfotos sehen. Es sind schöne alte Menschen, würdevolle, ernste Gesichter. Neben den Bildern je eine kleine Tafel, woraus ersichtlich wird, dass die Jüngsten 1939 geboren sind, die Ältesten 1922. Einige sind schon verstorben.
Die Fotos wurden 2014 gemacht. Der Künstler Luigi Toscano hatte die Idee, uns mit der Tatsache zu konfrontieren, dass diese schönen alten Menschen alle in der Hölle waren, in einem oder mehreren Konzentrationslagern der Nazis, auf Todesmärschen, in der Typhus-Baracke - und die meisten im Klein- und Kleinstkindalter. Sie haben durch 1000 Zufälle überlebt, die meisten verloren ihre Familie. Auch jüngere Geschwister - 2-3-jährige! - wurden ermordet. Warum? Weil sie zufällig jüdisch waren. Oder weil ein Onkel Kommunist war. Oder der Vater irgendwo einen regimekritischen Witz erzählt hatte.
Für die alten Menschen war es eine Überwindung, sich fotografieren zu lassen, denn sie wollten ungern ihre alten Wunden aufreißen, aber sie haben das Anliegen des Künstlers verstanden: Mahnen, erinnern, wozu menschenverachtende, verlogene Politik führt, die Menschen gegeneinander aufhetzt und ausspielt; die Verachtung der "anderen", die Kontrolle über die Medien und die Verbreitung von fake news. Damals gab es kein Internet, es erfolgte per Küchenradio ("Volksempfänger"). - Leider gehören Politiker, die so etwas im Sinn haben, noch immer nicht der Vergangenheit an, sie treiben bis heute ihr Unwesen. Ein vereintes Europa kann ein starker Schutz dagegen sein, solidarisch, hilfreich - vorausgesetzt, wir müssen uns nicht mit Dummheiten wie Brexit und unzeitgemäßem Nationalismus herumschlagen.
Luigi Toscano (geb. 1972) ist das Kind italienischer Gastarbeiter in Mannheim, er war Dachdecker und Fensterputzer. Heute ist er ein wichtiger Fotograf und Filmemacher.
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