Ärztemangel
Gesundheitssystem "vor größtem Umbruch seit dem Krieg"

In der "Runde der Regionen" diskutieren Gesundheitsexpertinnen und -experten die brennendsten Fragen zum Gesundheitssystem. Von links nach rechts: Andreas Huss, Richard Brodnig, Maria Jelenko, Karin Martin, Katharina Reich, Peter Voitl | Foto: RegionalMedien Austria/Markus Spitzauer
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  • In der "Runde der Regionen" diskutieren Gesundheitsexpertinnen und -experten die brennendsten Fragen zum Gesundheitssystem. Von links nach rechts: Andreas Huss, Richard Brodnig, Maria Jelenko, Karin Martin, Katharina Reich, Peter Voitl
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Wahlarzt- und Kassenarztsystem, veraltete Ausbildungskonzepte und Ärztemangel – in einer hochkarätig besetzten "Runde der Regionen" der RegionalMedien Austria debattierten erfahrene Gesundheitsexpertinnen und -experten über die brennendsten Fragen zum österreichischen Gesundheitssystem. Diskutiert wurde, was genau verbessert werden soll – Einigkeit herrschte darüber, dass für eine zukunftsfite Gesundheitsversorgung jedenfalls vieles verändert werden muss.

ÖSTERREICH. Trotz einer verhältnismäßig hohen Dichte an praktizierenden Ärztinnen und Ärzten – 5,2 auf 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner – existiert in Österreich eine Schieflage im Gesundheitssystem: Zu wenig Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner, Ärztinnen und Ärzte wandern ab und viele Kassenplätze bleiben unbesetzt. Die Gründe sind mannigfaltig und erstrecken sich von Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen bis hin zu geografischen und finanziellen Aspekten.

Auf Einladung der RegionalMedien Austria und der "Hausärzt:in" diskutierten Katharina Reich, Sektionsleiterin für öffentliche Gesundheit, Richard Brodnig, Allgemeinmediziner und Obmann der Jungen Allgemeinmedizin (JAMÖ), Andreas Huss, ÖGK-Arbeitnehmer*innen-Obmann und Peter Voitl, Kinderarzt und Leiter eines Kindergesundheitszentrums, über die dringlichsten Herausforderungen im österreichischen Gesundheitswesen.

Attraktivierung der Allgemeinmedizin

Ein Problemfeld wurde in der Allgemeinmedizin geortet, die unter werdenden Ärztinnen und Ärzten nicht unbedingt das beste Image besitzt. Eine geografische Schieflage und damit ein regionaler Mangel sind die Folgen. Die Attraktivierung der Allgemeinmedizin sei deshalb bereits seit Jahren ein Thema, erklärt Sektionschefin Katharina Reich und versichert: "Wir beschäftigen uns sehr intensiv damit."

"Wir wissen, dass es in sehr vielen Punkten Nachhol- und Aufholbedarf gibt. Es ist uns bewusst, dass wir ein bisschen moderner, breiter und regional diverser werden müssen. Wir müssen attraktive Arbeitsbedingungen schaffen." Katharina Reich

Für junge Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner stehe die Verbesserung der Qualität der Ausbildung an oberster Stelle, wie der Jungarzt Richard Brodnig betonte. Viele Turnusärztinnen und -ärzte, die sich zunächst für Allgemeinmedizin entschieden haben, wechseln im Laufe der Ausbildung das Fach:

"Wir verlieren diese jungen Ärztinnen und Ärzte in der Ausbildung." Richard Brodnig 

Aber auch die Arbeitsbedingungen seien ein wichtiges Thema, so Brodnig. Vor allem die Betreuungszeit pro Patientin oder Patient sei für junge Ärztinnen und Ärzte wesentlich. Diese hätten gerne mehr Zeit – das könnten sie sich mit dem derzeitigen Entlohnungssystem allerdings nicht leisten, so Brodnig. 

Unbesetzte Kassenplätze

Mit Imageproblemen haben in Österreich auch Kassenstellen zu kämpfen, was sich in vielen unbesetzten Kassenplätzen zeigt. In der Kindermedizin seien derzeit rund 15 Prozent an Kassenstellen unbesetzt, erklärte der Kinderarzt Peter Voitl. Gründe habe das viele.

"Es gibt Dinge, die im niedergelassenen Bereich einfach ärgerlich sind." Peter Voitl

So sei zum Beispiel das Nebenbeschäftigungsverbot im Kassenbereich ein großes Problem. Viele Medizinerinnen und Mediziner wollen laut Voitl sowohl im Spital als auch nebenbei in einer Ordination arbeiten. Das Kassensystem verbiete eine solche Beschäftigungsform allerdings, was vor Kassenstellen abschrecken würde.

Als problematisch sieht Voitl auch das Honorarsystem im Kassenbereich. So seien beispielsweise die Mutter-Kind-Pass-Honorare seit 30 Jahren nicht mehr an die Inflation angepasst worden. "Da geht es nicht nur um das Geld, da geht es auch um Wertschätzung", betonte der Kinderarzt. Zudem gäbe es große regionale Unterschiede. So verdiene beispielsweise ein Kassen-Kinderarzt in Wien im Durchschnitt 360.000 Euro im Jahr, in Niederösterreich hingegen nur 240.000 Euro – "ein Überbleibsel aus der historischen Zeit der Gebietskrankenkassen", so Voitl. 

"Ich halte das Honorarsystem, wie wir es in Österreich haben, für höchst überarbeitungswürdig", sagt auch ÖGK-Obmann Andreas Huss. Die Frage nach dem Einkommen sei allerdings eine schwierige. Hier gehe es vor allem um die Relationen zwischen den unterschiedlichen Fachbereichen, so Huss. Aufholbedarf gäbe es beispielsweise in der Allgemein- und Kindermedizin, sowie bei Psychiaterinnen und Psychiatern, und überhaupt überall, wo es um die Hinwendung zu Patientinnen und Patienten gehe. Unterbezahlt seien diese aber keineswegs:

"Mit 6.000 Euro netto ist man in Österreich nicht unterbezahlt." Andreas Huss

Wahlarztsystem abschaffen

Ein Problem der Kassenstellen liege auch darin, dass sich viele Medizinerinnen und Mediziner stattdessen für eine Privat- oder Wahlarztpraxis entscheiden. Huss ist allerdings überzeugt, dass das Kassensystem mit den anderen Formen mithalten könne. Am Einkommen könne es jedenfalls nicht liegen. 

Das Wahlarztsystem sei für Medizinerinnen und Mediziner aber insofern interessant, weil sie dort ihr Honorar selbst festlegen und so mit weniger Arbeitszeit das Gleiche verdienen können. Während ein Wahlarzt einen Patienten behandelt, muss der Kassenarzt also unter Umständen drei behandeln, rechnet Huss vor. 

Der OGK-Obmann hinterfragt allerdings, wie viele der Wahlärztinnen und -ärzte tatsächlich versorgungsrelevant sind. Man habe sich bei der Krankenkasse zuletzt intensiv mit Wahlarztrechnungen beschäftigt und festgestellt, dass hier teilweise obskure Behandlungen angeführt werden, die mit dem Kassensystem eigentlich nichts zu tun hätten.

"Man kommt sich dann, wenn man diese Rechnungen sieht, eher wie beim Schamanen des Mittelalters vor, als wie beim modernen Mediziner." Andreas Huss

Eigenurin- oder Bluttherapien seien an der Tagesordnung. Geht es nach Huss, sollte das Wahlarztsystem abgeschafft werden: "Diese intransparente Vermischung der beiden Systeme – privater und öffentlicher Gesundheitsversorgung – gibt es in ganz Europa nicht und das muss man zumindest infrage stellen."

Spitäler im Wandel der Zeit

Ein weiteres Grundproblem des österreichischen Gesundheitssystems liege in einem veralteten Denken aus der Zeit des Ärzteüberschusses, als es auf eine freie Stelle zehn Bewerberinnen und Bewerber gab, erklärte Voitl.

"Das ist aber nicht mehr so und jetzt ist man plötzlich erstaunt, dass das anders rennt. Das Neue ist, dass die Spitäler als Arbeitgeber plötzlich attraktiv und konkurrenzfähig für die Angestellten werden müssen und daran sind sie nicht gewöhnt." Peter Voitl

Auch Reich betont, dass sich Spitäler an die neuen Gegebenheiten anpassen müssen: "Schön langsam bekommen alle Spitäler mit, dass es um den Wettbewerb der besten Köpfe geht", so Reich. 

Ein wichtiges Thema für die Medizinerin ist auch der Austausch zwischen Krankenhaus- und niedergelassenem Bereich. Immerhin seien die Patientinnen und Patienten auf diesen angewiesen.

"Wir brauchen ein Netzwerk, wo der Spitalsbereich mit dem niedergelassenen in einem strukturierten Miteinander arbeitet. Das sind wir den Patientinnen und Patienten schuldig." Katharina Reich

Gesundheitssystem im Umbruch

Das duale System in der Medizin löst sich zunehmend auf. Medizinerinnen und Mediziner haben aktualisierte Anforderungen an ihren Job und auch Patientinnen und Patienten kommen zum Teil mit neuen Erwartungen und einem anderen Selbstverständnis in Praxen und Spitäler, als noch vor einigen Jahren. Auf all das muss sich das Gesundheitssystem künftig einstellen, um attraktiv und modern zu bleiben, respektive zu werden. Voitl stellte eine radikale Bemerkung in den Raum, die alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestätigten:

"Ich glaube, das medizinische System steht vor dem größten Umbruch seit dem zweiten Weltkrieg." Peter Voitl

An vielen Verbesserungen werde bereits gearbeitet, betonte Reich. Nun sei es erstmals wichtig, die Dinge zum Abschluss zu bringen, die beinahe fertig und tatsächlich unterschriftsreif sind, so die Sektionschefin. Als Beispiel nannte sie, dass Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner schon in Bälde als Fachärztinnen und -ärzte anerkannt werden. Auch eine Überarbeitung der Regelungen zu Primärversorgungseinheiten stehe kurz bevor. Daneben seien die Telemedizin sowie die weitere Digitalisierung des Gesundheitswesens wichtige Themen der Zukunft. Reich gibt sich zuversichtlich, dass der Umbruch des Gesundheitssystems gelingen kann: 

"Wir wissen, was zu tun ist und müssen es nur tun." Katharina Reich

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