Spät geboren, früh verloren
Warum 30 Prozent an Nachwuchstalenten im Fußball abhanden kommen

Kinder, die im selben Jahr geboren sind, können laut Experten beim biologischen Alter einen Altersunterschied von bis zu sechs (!) Jahren aufweisen: Das hat zur Folge, dass in ein und derselben Fußball-Nachwuchsmannschaft ein biologisch Zehnjähriger gegen einen biologisch 16-Jährigen spielen muss. Der ÖFB hat mit dem §3a Abhilfe geschaffen. Doch ob dieser zur Anwendung kommt oder nicht, liegt in der Willkür des Trainers. | Foto: Pixabay
12Bilder
  • Kinder, die im selben Jahr geboren sind, können laut Experten beim biologischen Alter einen Altersunterschied von bis zu sechs (!) Jahren aufweisen: Das hat zur Folge, dass in ein und derselben Fußball-Nachwuchsmannschaft ein biologisch Zehnjähriger gegen einen biologisch 16-Jährigen spielen muss. Der ÖFB hat mit dem §3a Abhilfe geschaffen. Doch ob dieser zur Anwendung kommt oder nicht, liegt in der Willkür des Trainers.
  • Foto: Pixabay
  • hochgeladen von Mag. Anna Trummer

Es sind jährlich etwa 30 Prozent an Nachwuchstalenten, die im Fußball abhanden kommen. Grund dafür ist ein System, das erwiesener Maßen grob benachteiligend wirkt. Der wichtigste Grund, warum dieses System bis dato noch nicht geändert wurde, ist Trägheit, so ein Experte.



ÖSTERREICH. "Das haben wir doch immer schon so gemacht, warum sollten wir das jetzt ändern." Sätze so oder so ähnlich sind Standard-Antworten all jener, die an einem System festhalten, das systematisch Nachwuchsspieler benachteiligt. Dadurch entgehen dem Österreichischen Nachwuchs laut Schätzungen aus der Sportwissenschaft etwa 30 Prozent: Nämlich all jene, die von Juli bis Dezember geboren sind und noch mehr jene, die langsamer wachsen als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Bevorzugt vom System werden hingegen eher jene, die von Jänner bis Juni geboren sind und die schneller wachsen, als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Diese erkennt das System als "talentiert".
Je später im Jahr ein Talent geboren ist, umso geringer ist die Chance auf eine sportliche Karriere.

Dezemberkinder um ein Drittel geringere Chance

Wie kann das sein? Ist es Zufall, dass viel mehr Fußballtalente im ersten Halbjahr geboren werden und eher wenige talentierte Kinder im Dezember? Mitnichten. Wissenschaftler haben die Verschiebung zulasten der Zweitsemester untersucht und einen Namen dafür gefunden: RAE. Der Relative Alters-Effekt. Kurz: Talente gibt es genauso viele im zweiten Halbjahr, nur das System Fußball etwa im Österreichischen Nachwuchs fördert sie seltener, sortiert sie früher als "schwach" aus, wodurch sie später weniger Chance haben, im Profisport Fuß zu fassen. Ein Talent, das im Dezember geboren ist, hat keine gute Ausgangslage, sagt Karsten Görsdorf vom Institut für Spielanalyse in Potsdam:

„Die Chance ist weniger als ein Drittel von der eines Januarkindes."

  Der Experte bestätigt, dass auch in Teams der ersten und zweiten Bundesliga in Deutschland Geburtstagsfeiern von in Deutschland ausgebildeten Kickern höchst selten im November oder Dezember stattfinden, drei Viertel der Profikicker sind in der ersten Jahreshälfte geboren.


10-Jährige gegen 16-Jährige: Fair?

Laut Sportwissenschaft gibt es Beweise, dass es gerade in der Pubertät massive Unterschiede in der körperlichen Entwicklung gibt. So bestehen etwa bei den 12- und 13-Jährigen die größten Unterschiede zwischen biologischem Alter und kalendarischem Alter. Das bedeutet, dass beispielsweise zwei Zwölfjährige die kalendarisch im selben Monat geboren sind, ungleicher nicht sein könnten: Der eine könnte bereits den Körper eines 16-Jährigen haben, der andere erst den eines Zehnjährigen. Beide sind zwar chronologisch zwölf Jahre, aber beim biologischen Alter weisen sie einen körperlichen Altersunterschied von bis zu sechs (!) Jahren auf. Das hat zur Folge, dass in ein und derselben Mannschaft im Österreichischen Nachwuchs der biologisch Zehnjährige gegen einen biologisch 16-Jährigen spielen muss. Einfach, weil sie im selben Monat geboren sind und sie laut Nachwuchsreglement in Österreichs Fußballnachwuchs (Stichtag 1.1.) "gleich alt" sind.  Ein Schelm, der jetzt glaubt, Trainer würden dem biologisch Jüngeren nach dem Maßstab eines Zehnjährigen messen. In der Praxis wird er am Alter der 12- bis 13-Jährigen gemessen, wenig überraschend finden die zuständigen Trainer seine Leistung dann eher "schwach", weil er sich "weniger durchsetzen" könne, er wird weniger Einsätze bei Matches bekommen, meist auf der Ersatzbank sitzen und man wird eher versuchen, ihn "als untalentiert" auszusortieren. Zeit, sich zu entwickeln, auch körperlich, wird seitens der Vereine Spielern nur äußerst selten gegeben. Hingegen attestieren Trainer oder Scouts dem biologisch 16-jährigen Fußballtalent. Laut Sportwissenschaft unterstreicht diese geübte Praxis einmal mehr, dass sich speziell Verbände wie der ÖFB und auch die Landesverbände überlegen müssen, welche Möglichkeiten es gibt, das Nachwuchstraining sinnvoller zu gestalten. Man könnte sich fragen: Ist es nicht sinnvoller, auch in den Meisterschaften so zu spielen, dass man nach biologischem Alter vorgeht? International wird das im Nachwuchs bereits durchgeführt.

Ein Fußballtalent, das im Dezember geboren ist, hat keine gute Ausgangslage, um Fußballprofi zu werden. „Die Chance ist weniger als ein Drittel von der eines Januarkindes", so ein Experte. | Foto: Pixabay
  • Ein Fußballtalent, das im Dezember geboren ist, hat keine gute Ausgangslage, um Fußballprofi zu werden. „Die Chance ist weniger als ein Drittel von der eines Januarkindes", so ein Experte.
  • Foto: Pixabay
  • hochgeladen von Mag. Anna Trummer

Wann ein Spieler „unterspielen“ darf

Der ÖFB hat das Problem erkannt und daher vor zwei Jahren eine "Kann-Regelung" eingeführt:

  1.  Nach §3a des Reglements sind Spieler – sofern im jeweiligen Bewerb zulässig – auf ihr Verlangen (auch) in der niedrigeren Spielklasse spielberechtigt, sofern sie nachweisen, dass sie biologisch retardiert sind.
  2. Biologisch retardiert sind solche Spieler, deren biologische Entwicklung zumindest ein Jahr und zwei Monate verzögert ist.
  3. Der Nachweis ist dabei mittels eines ärztlichen Attests, in dem das Knochenalter nach der Tanner-Whitehouse-Methode (oder einer gleichwertigen Methode) festgestellt wird, für jede Spielsaison zu führen. 
  4. Diese Spieler gelten als Spieler der niedrigeren Spielklasse (retardierter U15-Spieler gilt als U14-Spieler).
  5. Die Spielberechtigung in der niedrigeren Spielklasse ist im „Fußball-Online-System“ anzumerken.


Spieler sind – sofern im jeweiligen Bewerb zulässig – auf ihr Verlangen (auch) in der niedrigeren
Spielklasse spielberechtigt, sofern sie nachweisen, dass sie biologisch retardiert sind.
(2) Biologisch retardiert sind solche Spieler, deren biologische Entwicklung zumindest ein Jahr und
zwei Monate verzögert ist. Der Nachweis ist mittels eines ärztlichen Attests, in dem das
Knochenalter nach der Tanner-Whitehouse-Methode (oder einer gleichwertigen Methode) festgestellt wird, für jede Spielsaison zu führen.
(3) Diese Spieler gelten als Spieler der niedrigeren Spielklasse (retardierter U15 Spieler gilt als U14
Spieler).
(4) Die Spielberechtigung in der niedrigeren Spielklasse ist im „Fußball-Online“ System anzumerken.  | Foto: https://www.oefb.at/oefb/Vorschriften-fuer-den-Nachwuchsspielbetrieb-gueltig-ab-01-Juli-2020-.pdf
  • Spieler sind – sofern im jeweiligen Bewerb zulässig – auf ihr Verlangen (auch) in der niedrigeren
    Spielklasse spielberechtigt, sofern sie nachweisen, dass sie biologisch retardiert sind.
    (2) Biologisch retardiert sind solche Spieler, deren biologische Entwicklung zumindest ein Jahr und
    zwei Monate verzögert ist. Der Nachweis ist mittels eines ärztlichen Attests, in dem das
    Knochenalter nach der Tanner-Whitehouse-Methode (oder einer gleichwertigen Methode) festgestellt wird, für jede Spielsaison zu führen.
    (3) Diese Spieler gelten als Spieler der niedrigeren Spielklasse (retardierter U15 Spieler gilt als U14
    Spieler).
    (4) Die Spielberechtigung in der niedrigeren Spielklasse ist im „Fußball-Online“ System anzumerken.
  • Foto: https://www.oefb.at/oefb/Vorschriften-fuer-den-Nachwuchsspielbetrieb-gueltig-ab-01-Juli-2020-.pdf
  • hochgeladen von Mag. Anna Trummer

"Machen wir nicht"

Soweit die Regelung. Doch die Praxis ist eine andere. Viele im Fußballnachwuchs Verantwortlichen kennen diese Regelung entweder gar nicht, und selbst wenn sie bekannt ist, wird sie dennoch nicht angewandt. Oft aus einem ganz banalen Grund: "Das haben wir doch immer schon nicht gemacht, warum sollten wir das jetzt ändern." Johannes Uhlig vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien ist seit etwa 30 Jahren in der TrainerInnenausbildung tätig, war selbst bereits Trainer mehrerer Vereine (u. a. beim Wiener Sportclub, im Nachwuchs von Austria Wien und Rapid Wien sowie beim U-17 Frauen-Nationalteam) und Sportdirektor des Wiener Fußballverbandes. Er war maßgeblich dafür verantwortlich, dass der §3a ins ÖFB-Reglement aufgenommen wurde.
 

Drei Spieler, aller im selben Jahr geboren, könnten biologisch nicht unterschiedlich sein. Ein krasser Nachteil für den biologisch Jüngeren. Tatsächlich belegen Studien, dass früh im Jahr geborene Spieler, also relativ Ältere, deutlich öfter in den Kader kommen als Spätgeborene. So sind die Jänner-Geborenen in der ÖFB U16-Auswahl gegenüber der Verteilung in der Gesamtbevölkerung überrepräsentiert sind. Biologisch Jüngere werden in der Praxis oft aussortiert oder geben ob Negativ-Spirale auf. Ein Talenteverlust, der laut Experte vermeidbar wäre. | Foto: https://www.mobilesport.ch/fussball/alterseffekte-im-sport-biologisches-alter-und-entwicklungsstand/
  • Drei Spieler, aller im selben Jahr geboren, könnten biologisch nicht unterschiedlich sein. Ein krasser Nachteil für den biologisch Jüngeren. Tatsächlich belegen Studien, dass früh im Jahr geborene Spieler, also relativ Ältere, deutlich öfter in den Kader kommen als Spätgeborene. So sind die Jänner-Geborenen in der ÖFB U16-Auswahl gegenüber der Verteilung in der Gesamtbevölkerung überrepräsentiert sind. Biologisch Jüngere werden in der Praxis oft aussortiert oder geben ob Negativ-Spirale auf. Ein Talenteverlust, der laut Experte vermeidbar wäre.
  • Foto: https://www.mobilesport.ch/fussball/alterseffekte-im-sport-biologisches-alter-und-entwicklungsstand/
  • hochgeladen von Mag. Anna Trummer

Spät geboren, früh verloren

Seine Meinung dazu:

"Der Paragraf 3a ist eine sehr gute Maßnahme, aber es ist festzustellen, dass sie beinahe kaum in die Praxis umgesetzt wird. Wir wissen aus der Sportwissenschaft, dass besonders die biologisch Jüngeren, die in ihrer Entwicklung verzögerten Spieler und Spielerinnen, gegenüber den entwicklungsbeschleunigten Spielern und Spielerinnen große Nachteile haben. Retardierte Spieler sind oft kleinwüchsiger, sind schmächtiger und haben gegenüber den größeren Spielern und Spielerinnen vor allem physische Nachteile. Und wenn man den Relativen Alters-Effekt (RAE) hernimmt, der besagt, dass viele Spieler und Spielerinnen, die in der Startelf der Teams spielen, vor allem im ersten Quartal von Jänner bis März geboren sind, dann ist das ein Beweis dafür."

Foto: https://docplayer.org/13114831-Potentiale-der-nachwuchsfoerderung.html
  • Foto: https://docplayer.org/13114831-Potentiale-der-nachwuchsfoerderung.html
  • hochgeladen von Mag. Anna Trummer

Die Fakten zum Relativen Alters-Effekt (RAE)

  • Konkret besagt der Relative Alters-Effekt (RAE), dass innerhalb eines Jahres – oder genauer: innerhalb eines Selektionszeitraumes – früh geborene Sportler gegenüber jenen, die in einem späteren Monat geboren sind, systematisch bevorzugt werden.
  • Demnach sind in einer Stichprobe häufiger Geburtsdaten anzutreffen, die im Beginn des Selektionszeitraumes liegen.
  • Wissenschaftlich formuliert ist dann vom RAE die Rede, „wenn die Geburtsdaten einer Stichprobe nicht proportional zu den Geburtsdaten des entsprechenden Ausschnitts der Normalbevölkerung verteilt sind.“ (LAMES et al. 2008). 
  • Durch den RAE fallen viele Talente „durch“oder müssen in Verbindung mit einer schlechten Periodisierung verletzungsbedingt mit dem Leistungssport aufhören.
  • Andererseits werden relativ ältere Spieler wegen vorübergehender Leistungsvorsprünge gefördert, obwohl sie langfristig keine Perspektive haben (Fuchslocher et al., 2011).

Früh Geborene im Kader überrepräsentiert 

Tatsächlich belegen Studien, dass früh im Jahr geborene Spieler, also relativ Ältere, deutlich öfter in den Kader kommen als Spätgeborene. So sind die Jänner-Geborenen in der ÖFB U16-Auswahl gegenüber der Verteilung in der Gesamtbevölkerung um 11,7 Prozentpunkte überrepräsentiert, in der U17-Auswahl sogar um 16,7 Prozentpunkte, berichtet der Standard. Uhlig dazu:

"Der Grund dafür liegt auf der Hand, beziehungsweise am Körper: Zwischen einem Jänner-Geborenen und einem Dezember-Spieler liegen elf Monate Altersunterschied, sie werden aber nach denselben Maßstäben des Leistungssports beurteilt (Anmerkung der Redaktion: Stichtag 1.1.), was grundsätzlich eine Benachteiligung des Jüngeren bedeutet."


Warum das biologische Alter zählt

Körperliche Nachteile verschärfen Ungerechtigkeit zulasten des Jüngeren: Neben dem chronologischen ist das biologische Alter von Bedeutung. Dieses gibt an, wie weit der Körper eines Spielers im Vergleich mit Altersgenossen entwickelt ist. Auch hier unterscheidet man zwischen Früh- (Akzelerierten) und Spätentwickelten (Retardierten). Uhlig:

"Manche Kinder wachsen eben schneller, andere wachsen später (siehe PHV: Peak Height Velocity). Das ist ganz normal, aber für viele schon zu spät. Denn da sind sie schon einige als "untalentiert" oder "körperlich schwach" von den Leistungsvereinen "aussortiert" worden. In diesem Kontext muss aber ganz klar und differenziert festgehalten werden, dass nicht jeder retardierte Spieler ein Talent ist und vice versa nicht jeder Akzelerierte ein Antitalent. Entscheidend ist auch immer der Umstand, wieviel Impact (Einfluss) der jeweilige Spieler zum bestimmten (Entwicklungs-)Zeitpunkt auf das aktuelle Spielgeschehen seines Teams nehmen kann.“

Der RAE ist weitestgehend Ausdruck einer Bevorteilung von körperlich weiter entwickelten Spielern. Von dieser Bevorzugung profitieren jedoch nicht nur relativ ältere Spieler, sondern auch Spieler, deren körperliche Beschaffenheit gemessen an ihrem relativen Alter fortgeschritten ist (Vgl.: 2.). Bestimmend für diese anthropometrischen Eigenheiten eines Sportlers ist das biologische Alter. Mit dem biologischen Alter (BA) ist der Zustand des Körpers gemeint, der normalerweise einem bestimmten Alter ungefähr entspricht. Demgegenüber ist mit dem chronologischen Alter (CA) die geläufige zeitliche Altersangabe gemeint, die sich nach dem Geburtsdatum errechnet. Der körperliche Entwicklungsstand wird aus der Differenz des biologischen und chronologischen Alters ersichtlich.

 | Foto: Müller et al 2015a
  • Der RAE ist weitestgehend Ausdruck einer Bevorteilung von körperlich weiter entwickelten Spielern. Von dieser Bevorzugung profitieren jedoch nicht nur relativ ältere Spieler, sondern auch Spieler, deren körperliche Beschaffenheit gemessen an ihrem relativen Alter fortgeschritten ist (Vgl.: 2.). Bestimmend für diese anthropometrischen Eigenheiten eines Sportlers ist das biologische Alter. Mit dem biologischen Alter (BA) ist der Zustand des Körpers gemeint, der normalerweise einem bestimmten Alter ungefähr entspricht. Demgegenüber ist mit dem chronologischen Alter (CA) die geläufige zeitliche Altersangabe gemeint, die sich nach dem Geburtsdatum errechnet. Der körperliche Entwicklungsstand wird aus der Differenz des biologischen und chronologischen Alters ersichtlich.

  • Foto: Müller et al 2015a
  • hochgeladen von Mag. Anna Trummer

Die Negativspirale der biologisch Jüngeren

Im Hochleistungssport, z.B. bei der Aufnahme in eine Fußballakademie mit 13 bzw. 14 Jahren, stechen Frühgeborene bzw. Frühentwickelte eher hervor, weil sie kräftiger und schneller sind. Scouts würden diese Spieler eher als "talentiert" beurteilen. Die Folge: Lob von allen Seiten, ein Push für das Selbstbewusstsein, was wiederum die Leistung erhöht. Genau gegenteilig herum wirkt es für retardierte, spätgeborene Spieler: Sie sind körperlich unterlegen, stechen im Vergleich mit größeren, älteren in der Mannschaft nicht heraus, werden als weniger talentiert erkannt und bekommen Negativfeedback.



Matthäus-Effekt: Die als „besser“ eingestuften Spieler werden intensiver gefördert und häufiger Nationalspieler (siehe oben). Sie erhalten mehr Spielzeit und können somit weitere Erfahrungen sammeln, was ihren Entwicklungsvorsprung noch weiter vorantreibt, während ihre jüngeren Kollegen quasi auf der Strecke bleiben. Diese bekommen zunehmend weniger Einsätze und keine spezielle Förderung, wodurch ihre Leistungen stagnieren oder gar zurückgehen. Schließlich verlieren sie den Anschluss.
Dieser Effekt wurde nicht etwa nach dem Ehrenspielführer des DFB benannt sondern nach Kapitel 13, Vers 12 des Matthäusevangeliums (Gleichnis von den anvertrauten Talenten): „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“. 
Michael Romann von der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen geht davon aus, dass durch den Matthäus-Effekt bis zu 15-20% an Talenten aus dem letzten Quartal verloren gehen, während bei Spielern aus dem ersten Quartal etwa 25% gefördert werden, die keine Perspektive haben. | Foto: Matthäus-Effekt (ROMANN/FUCHSLOCHER, 2010).
  • Matthäus-Effekt: Die als „besser“ eingestuften Spieler werden intensiver gefördert und häufiger Nationalspieler (siehe oben). Sie erhalten mehr Spielzeit und können somit weitere Erfahrungen sammeln, was ihren Entwicklungsvorsprung noch weiter vorantreibt, während ihre jüngeren Kollegen quasi auf der Strecke bleiben. Diese bekommen zunehmend weniger Einsätze und keine spezielle Förderung, wodurch ihre Leistungen stagnieren oder gar zurückgehen. Schließlich verlieren sie den Anschluss.
    Dieser Effekt wurde nicht etwa nach dem Ehrenspielführer des DFB benannt sondern nach Kapitel 13, Vers 12 des Matthäusevangeliums (Gleichnis von den anvertrauten Talenten): „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“.
    Michael Romann von der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen geht davon aus, dass durch den Matthäus-Effekt bis zu 15-20% an Talenten aus dem letzten Quartal verloren gehen, während bei Spielern aus dem ersten Quartal etwa 25% gefördert werden, die keine Perspektive haben.
  • Foto: Matthäus-Effekt (ROMANN/FUCHSLOCHER, 2010).
  • hochgeladen von Mag. Anna Trummer

30 Prozent an Talenten gehen verloren

In der Wissenschaft ist dieser Kreislauf als "Matthäus-Effekt" bekannt. Michael Romann von der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen geht davon aus, dass durch den Matthäus-Effekt bis zu 15 bis 20% an Talenten aus dem letzten Quartal verloren gehen, während bei Spielern aus dem ersten Quartal etwa 25% gefördert werden, die eventuell keine Perspektive haben. Laut Uhlig liegt die Zahl höher: Laut Sportwissenschaft seien es etwa 30 Prozent an Fußballtalenten, die aufgrund des aktuellen Systems im Nachwuchs in Österreich verloren gehen.

 


Systemfehler erkannt, doch nichts tut sich

Obwohl die Sportwissenschaft bereits seit Jahrzehnten auf diesen Systemfehler im Nachwuchsfußball hinweist, ihn ausreichend dokumentiert und bewiesen hat, tut sich in der Praxis beinahe nichts. Dem steht vor allem das Spielresultat (!), als scheinbar einzig messbares Kriterium stark im Wege. Um den Systemfehler im Nachwuchsfußball entgegenzuwirken, nimmt Uhlig die Verbände, die "Ausbildungsvereine", die Nachwuchsleiter und die Trainer in die Verantwortung. Doch hier herrsche oft Trägheit:

"Es wäre aus sportwissenschaftlicher Sicht massiv sinnvoll, wenn die Vereine im Training schon darauf Rücksicht nehmen würden, dass beispielsweise ein U13- Spieler, der akzeleriert also biologisch älter ist, eventuell schon ein, zweimal in der Woche bei der U14 mittrainiert. Hingegen etwa ein U13 Spieler, die nach §3a retardiert ist, automatisch in der U12 mittrainiert und dort auch in der Meisterschaft spielt. Das heißt, dass man für das Training verschiedene Leistungsgruppen aufgrund des biologischen Alters installiert (Stichwort: Bio-Banding). Das wäre der erste wichtige Schritt. Eltern können da leider sehr wenig machen. Sie können sich über den §3a nur informieren und versuchen, ob da der Verein auch mitspielt und ihn anwenden will. Aber wenn der Verein nicht will, kann man leider gar nichts machen, auch wenn das aus sportwissenschaftlicher Sicht absolut schwachsinnig ist. Leider. Um das Problem insgesamt zu lösen sind die Verbände gefordert, doch hier herrscht oft Trägheit, und diese verhindert Innovation und ein gerechteres System, von dem der gesamte Fußball profitieren würde."

Siegen statt Spieler entwickeln

Und Uhlig übt Kritik an den Vereinsleitungen. Dort sei nicht das Entwickeln der Spieler oberste Priorität, wie in den Statuten festgehalten, sondern würde nur das momentane Siegen zählen. 

"Wenn wir beispielsweise die U15 bei einem Österreichischen Spitzenklub ansehen, so kann man folgende Beobachtung machen. Da sind 15-Jährige in der U15, die eigentlich nicht 15 Jahre alt sind, sondern biologisch meist älter: Sie sind sehr kräftig, sehr schnell und schon sehr männlich. Damit meine ich, dass die Selektion schon so erfolgt, das akzelerierte Spieler bevorzugt aufgenommen werden, und ich mir nicht ganz sicher bin, ob alle diese Spieler auch talentiert genug sind in Hinblick auf ihre prognostische, technisch-taktische Kompetenz. Das vorrangige Ziel ist mit der U15, U16 oder U18 Meister zu werden. Das ist ja aus leistungssportorientierter Sicht durchaus verständlich. Die Entwicklung des Einzelspielers ist da aber eine eher sekundäre oder tertiäre Angelegenheit. Da geht es vor allem um die Außendarstellung und Reputation, dass man Erfolge erreicht. Die Entwicklung von biologisch jüngeren und vor allem talentierten Spielern, von Spielern, die etwa im letzten Quartal geboren sind, wird dabei vernachlässigt und hat auch keinen Raum. Denn jetzt im Moment zu siegen, ist das Einzige was für Vereinsfunktionäre zählt. Der Blick in die Zukunft, wo wollen wir etwa in drei Jahren sein, ist aktuell nicht relevant.“

"Sie nehmen immer den Größeren"

Und Uhlig berichtet aus der Praxis:

"Wenn ich etwa in meiner Funktion als Experte von einer Akademie gefragt werde, welchen Spieler sie aufnehmen sollen, und ich sage, da gibt es zwei kleine Spieler, die sind sehr, sehr talentiert, und einen großen Spieler, der ist nicht so talentiert, dann nehmen sie natürlich immer den großen Spieler,weil dieser vom Wettspielergebnis her gesehen im Moment am meisten bringt. Das muss man ganz klar sagen. Aus sportwissenschaftlicher Sicht wäre es natürlich viel klüger, die talentierten, wenn auch noch zu diesem Zeitpunkt körperlich kleineren, also retardierten Spieler zu fördern und dafür auf momentane Siege zu verzichten. Aber welcher Trainer oder Funktionär möchte das und kann auch eine solche durchwachsene, aber u. U. später sehr fruchtbare Entwicklungsphase durchstehen?" 

Entscheidungsschwache Spieler ohne Meinung

Laut Uhlig produziert dieses aktuell ausgeübte Nachwuchssystem eine bestimmte Art von Spielern:

"Und zwar jene, die schon in frühen Jugendjahren relativ kräftig und/oder schnell sind, und die idealerweise ohne kritische Meinung sind. Die nicht hinterfragen, die einfach alles machen, was der Trainer sagt, verlässlich und konsequent und das am besten jahrelang."

Mangel an kreativen, dribbelstarken Spielern 

Laut Sportwissenschaft "fördert" das aktuelle "Leistungsmodell Fußball" etwa 25 Prozent an Spielern, die später gar keine Perspektive haben werden, denn gefördert wurden sie in ihrer Jugend von Trainern nur deshalb, weil sie früh im Jahr geboren wurden und damit körperlich überlegen waren, Stichwort RAE. Uhlig:

"Doch im Erwachsenenalter ist der Vorteil der damals Akzelerierten natürlich weg. In Bezug auf Größe und Muskelmasse haben viele Spieler aufgeholt, technisch-taktisch waren sie ohnedies schon immer stark und der einst mentale Vorteil („Ich bin so überlegen“) hat sich oft in einen psychischen, irreversiblen Nachteil verwandelt, indem diese Spieler es schwer aushalten nicht mehr die Besten zu sein und sich oft auch in der Reservistenrolle wiederfinden. Die Folge ist nicht selten ein Ausstieg aus dem Fußball."

So wird regelmäßig der Mangel an kreativen und dribbelstarken Spielern bedauert. Grund: Man hat talentierte, aber retardierte Spieler einfach nicht gefördert. Uhlig:

"Denn wo kreative Spieler nicht gesucht, eingesetzt oder gefördert werden, weil sie für den angestrebten Spielstil nicht relevant sind, wird es auch keine geben."

Klein, aber clever

Die Sportwissenschaft hat belegt, dass retardierte kleinere Spieler oft die intelligenteren Spieler sind: Kein Wunder, musste sie sich doch im Nachwuchs gegen ältere, größere und damit härtere Konkurrenz durchsetzen. Uhlig:

"Da sie oft physisch unterlegen sind, sind sie es gewöhnt, nach neuen Lösungen zu suchen, wodurch sie kreativere und klügere Spieler im Erwachsenenalter werden. Damit genau diese wertvollen Spieler nicht aussortiert werden, sondern diese kreativen Spieler zu Profis reifen können, hat der ÖFB versucht, mit dem §3a eine Lösung anzubieten. Denn das ist auch klar: Unter gleich entwickelten Kameraden tanken biologisch jüngere Spieler Selbstvertrauen und können Führungsqualitäten aufbauen. Doch die Anwendung des §3a ist leider keine Pflicht. Und zu kritisieren ist: Ob der biologisch jüngere Spieler in Österreich tatsächlich die Möglichkeit der Entwicklung bekommt, entscheiden höhere Gremien!“

Strategien zur Lösung

Fakt ist, dass es im Nachwuchssport das Ziel sein muss, Kindern und Jugendlichen eine altersgerechte und -angemessene Ausbildung zukommen zu lassen, um sie bestmöglich zu entwickeln. Dafür müssen die verantwortlichen Trainer auch eine entsprechende Schulung und Sensibilisierung über Themen wie Psychologie im Kindes- und Jugendalter und motorische Entwicklung erfahren.



Internationaler Standard

Oft hilft ein Blick über den Tellerrand: Im Laufe der letzten Jahre wurden etwa in der Schweiz und von Raymond Verheijen innerhalb der Akademie Feyenoord Rotterdams viele Lösungsmöglichkeiten diskutiert und getestet. Diese könnte man auch in Österreich evaluieren. Die wesentlichen Strategien zur Vorbeugung des RAE sehen folgende Punkte vor:


  • späte Selektion (ab U14/15)
  • kleinere Altersgruppen (mindestens halbjährig, bestenfalls quartalsweise)
  • altersgerechte Spielregeln (Spielfeldmaße, Torgröße, Mannschaftsstärke)
  • altersgerechtes Training
  • konstruktive Spielstile
  • Einführung technisch-taktisch fokussierter Analysetools
  • Berücksichtigung des biologischen Alters
  • alters- und kontextgerechte Belastungssteuerung
  • Varianz zwischen den Kadern und teilweise auch Leihsysteme

Quellen:

Wer zu spät kommt, den bestraft der Verband


Der Systemfehler im Nachwuchsfußball: Spät geboren, früh verloren
Der Straßenfußball ist wieder da
Dezemberkinder werden selten Fußballstars
Don’t let your players become a victim to the Relative age effect
The relative age effect in youth soccer across Europe
Unequal Competition as an Impediment to Personal Development: A Review of the Relative Age Effect in Sport

Kommentare

?

Du möchtest kommentieren?

Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.

UP TO DATE BLEIBEN


Aktuelle Nachrichten aus Österreich auf MeinBezirk.at

Neuigkeiten aus deinem Bezirk als Push-Nachricht direkt aufs Handy

MeinBezirk auf Facebook: MeinBezirk.at/Österrreichweite Nachrichten

MeinBezirk auf Instagram: @meinbezirk.at


Du möchtest selbst beitragen?

Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.