Türkis-blaues Sozialhilfe-Gesetz
Verfassungsgerichtshof hebt Kernpunkte der Sozialhilfe-Neu auf

Foto: VfGH/Achim Bieniek

Der VfGH befindet am Dienstag zwei Bestimmungen des türkis-blauen Sozialhilfe-Gesetzes für verfassungswidrig. 

ÖSTERREICH. Konkret hebt der Verfassungsgerichtshof (VfGH) zwei Bestimmungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes sowie eine Bestimmung des Sozialhilfe-Statistikgesetzes auf. Das gab der VfGH am Dienstag bekannt. 

Verfassungswidrig sind demnach die Regelungen betreffend der Höchstsätze für Kinder sowie die Verknüpfung der Sozialhilfe mit Sprachkenntnissen. Im Grundsatzgesetz sieht der VfGH aber keinen Verstoß und Eingriff in die Zuständigkeit der Länder. Die Gewährung von Leistungen bei sozialer Hilfsbedürftigkeit sei „an sich Sache der Länder“. „Der Bund ist jedoch zuständig, auf diesem Gebiet Grundsätze für die Landesgesetzgebung aufzustellen“, hieß es.

Das Türkis-Blaue Prestigeprojekt wurde im Frühjahr 2019 verabschiedet. 21 SPÖ-Mitglieder des Bundesrates hatten den VfGH deswegen angerufen. 

Gerstorfer: "handwerklich schlampiges Gesetz"

In Ober- und Niederösterreich hätte die Sozialhilfe Neu mit 1. Jänner in kraft treten sollen. In den weiteren sieben Ländern wollte man die Entscheidung des Höchstgerichts abwarten. Aus dem Büro der oberösterreichischen Landesrätin Birgit Gerstorfer (SPÖ) hieß es am Dienstag, dass nun der Verfassungsdienst am Wort sei. Ihr Ressort habe den Verfassungsdienst beauftragt, zu klären, wie man die Entscheidung des VfGH "rechtlich abarbeiten" könne. Gerstorfer rechne mit einem Ergebnis binnen Tagen. Die Landesparteivorsitzende sprach von einem "handwerklich schlampigen Gesetz", der VfGH habe diese schwarz-blaue Ungerechtigkeit nun gestürzt.  

VfGH: "Schlechterstellung von Mehrkindfamilien"

Das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz sieht laut VfGH Höchstsätze für verschiedene Haushaltskonstellationen vor. Die Höchstsätze für Erwachsene orientieren sich am System der Ausgleichszulage. Dagegen habe der VfGH keine Bedenken. Für Kinder sieht das Gesetz ein abweichendes System vor: Danach beträgt der Höchstsatz der Sozialhilfeleistung für das erste Kind 25 Prozent und für das zweite Kind 15 Prozent. Für das dritte und jedes weitere Kind sind 5 Prozent des Ausgleichszulagenrichtsatzes vorgesehen. Bei Kindern liegen also abweichende Höchstsätze vor. "In dieser Regelung liegt eine sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien" vor, so der VfGH. Diese Regelung könne dazu führen, dass der notwendige Lebensunterhalt bei Mehrkindfamilien nicht mehr gewährleistet sei.

"Arbeitsqualifizierungsbonus" verfassungswidrig

Ebenfalls vom VfGH gekippt wurde der "Arbeitsqualifizierungsbonus", also der verpflichtende Nachweis qualifizierter Deutsch- oder Englischkenntnisse. Demnach war ein Anteil von mindestens 35 Prozent der Sozialhilfeleistung von der Vermittelbarkeit des Anspruchsberechtigten am österreichischen Arbeitsmarkt abhängig. Die Bestimmung sah vor, dass diese Vermittelbarkeit dann gegeben ist, wenn zumindest das Sprachniveau B1 (Deutsch) oder C1 (Englisch) nachgewiesen werden kann. Es sei offenkundig, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt weder Deutsch auf B1-Niveau noch Englisch auf C1-Niveau erforderlich sei, urteilte der VfGH. Personen könnten "aus mannigfaltigen Gründen (Lern- und Leseschwächen, Erkrankungen, Analphabetismus uvm.) nicht in der Lage sein", ein  derart "hohes Sprachniveau zu erreichen, aber dennoch am Arbeitsmarkt vermittelbar sein", begründet der VfGH seine Entscheidung.

Als verfassungswidrig sieht der Verfassungsgerichtshof außerdem die Bestimmung des Sozialhilfe-Statistikgesetzes: Demnach seien „sämtliche Behörden“  verpflichtet den Ländern „die zu Zwecken der Aufrechterhaltung und Vollziehung des österreichischen Sozialhilfewesens erforderlichen Daten“ elektronisch zur Verfügung zu stellen, wie es in der Bestimmung heißt. "Diese Regelung lässt offen, welche Behörden im Einzelnen welche Daten zu übermitteln haben", und verstoße somit gegen das Datenschutzgesetz, hieß es vom VfGH.

Erleichterung bei SPÖ und Grünen

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner begrüßte am Dienstag das Urteil des VfGH und bezeichnete das Gesetz der geplatzten Rechtsregierung als "unmenschlich".

Der grüne Abgeordnete Markus Koza twitterte: "Zwei besonders harte Maßnahmen sind damit weg. Sehr gut." Koza ist auch Teil der Koalitionsverhandlergruppe zum Thema Sozialpolitik. Die unterschiedlichen Positionen von ÖVP und Grünen zur Mindestsicherung sollen eine Hürde bei den Verhandlungen gewesen sein.

ÖVP Klubobmann August Wöginger kommentierte die Entscheidung des VfGH per Aussendung: Er könne "die Entscheidung absolut nicht nachvollziehen und sie widerspricht vollkommen unseren politischen Überzeugungen". Aber Entscheidungen des VfGH seien in einem Rechtsstaat, auch wenn man sie inhaltlich ablehne, endgültig, so Wöginger.

FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl übte scharfe Kritik an der Entscheidung: "Die Verfassungsrichter setzen ihre Segel ganz offensichtlich für die sich abzeichnende schwarz-grüne Regierung. Der ÖVP wird dadurch erspart, auf Druck der Grünen Entscheidungen selbst zurücknehmen zu müssen, welche dank der FPÖ beschlossen wurden und bei der Bevölkerung überaus gut ankamen."

NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker sah sich in seiner seiner Skepsis gegenüber der türkis-blauen Reform der Mindestsicherung bestätigt. Jetzt sei der Zeitpunkt, die Chance für eine Neuregelung zu nützen.

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