Holocaust-Gedenktag 2024
Über eine "Leih-Oma" aus der Nazi-Zeit
Daniela Pichler besuchte ihre "Leih-Oma" Gertrude M. (Name v. d. Red. geändert) über zwei Jahre hinweg fast jede Woche. Was sie teilten: das Interesse für Politik. Was sie trennte: ein im Nationalsozialismus geformtes Weltbild. In dieser Reportage berichtet die 31-Jährige über ihre Erfahrungen und das Leben ihrer "Leih-Oma".
GRAZ. Daniela Pichler und Gertrude M. trafen sich von 2021 bis 2023 einmal pro Woche im Rahmen eines Besuchsprojektes des Roten Kreuz. Sie verbrachten ihre Zeit mit Tee trinken, Nachrichten schauen und angeregten Gesprächen über Politik und Geschichte. In diesem Gastbeitrag berichtet Pichler (mehr über die Autorin liest du am Ende des Textes) über das Leben der im Nationalsozialismus aufgewachsenen Gertrude M. und ihre jeweils gegensätzlichen Ansichten auf das Gestern und Heute.
Im Ohrensessel im Wohnzimmer
2023
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„Donn bin i gsponnt, wos Sie von mir wissen wollen.“ Ihre Augen strahlen als wir uns zum Interview gegenübersitzen.
Sie ist nicht meine richtige Oma, ich nenne sie meine “Leih-Oma”. Trotz ihres Alters lebt Getrude M. zu Hause, Tochter und Enkelin kommen sie regelmäßig besuchen. Seit Kurzem unterhält 24-Stunden-Pflegerinnen, die abwechselnd aus Rumänien, Kroatien und Slowenien kommen. „Die können alle net guat deutsch“, obwohl sie dankbar für die Unterstützung bemerke ich ihren Hang zur Ausländerfeindlichkeit immer wieder.
1932
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Adolf Hitler bekommt die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen, Engelbert Dollfuß wird Bundeskanzler und die NSDAP Hitlerbewegung in Österreich erhält erstmals Zugewinne mit Parolen wie: „500.000 Arbeitslose – 400.000 Juden – Ausweg sehr einfach! Wählt nationalsozialistisch!“
Gertrude M. besucht eine Schule in Graz. Mit 15 Jahren wird sie begeistertes Mitglied des Bundes Deutscher Mädel, eine 1930 im Deutschen Reich gegründete Organisation innerhalb der Hitlerjugend und in Österreich zunächst verboten. „Des wor so harmlos wos wir gmocht hobm. Wir sind zusommmenkommen, hobm steirisch getonzt, gesungen, sind gwandert aufn Schöckl rauf.“
In der Zwischenzeit schaltet Engelbert Dollfuß das Parlament nach und nach aus und wandelt die Republik in einen austrofaschistischen Ständestaat. 1934 wird er bei einem Terroranschlag durch die NSDAP ermordet. Sein Nachfolger Kurt Schuschnigg bemüht sich um bessere Beziehungen mit den Nationalsozialisten, die NSDAP wird zugelassen.
1938
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Gertrude M. und ihr Familie ziehen in die Nähe von Graz.
Vor dem Rathaus der steirischen Hauptstadt, die als "Hochburg des Nationalsozialismus" bezeichnet wird, wehen Hakenkreuzfahnen. Am 12. März 1938 wird Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen. „Na da waren wir begeistert!“
„Dann war sowieso alles anders.“
Am 1. September 1939
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... greift das Deutsche Reich Polen an und beginnt damit das, was in den zweiten Weltkrieg mündet. Widerstand wird von nationalsozialistischen Machthabern im Keim erstickt.
Dass der Nationalsozialismus, der zunächst wirtschaftlichen Aufschwung bedeutete, negative Seiten hatte, sieht Gertrude M. nicht wirklich. „Najo, freilich gibt es Schattenseiten. Aber i hob jo Orbeit gehobt und Geld verdient.“
Auch das mit den Konzentrationslagern, „hobm wir schon mitgekriegt. Die KZs hots schon in der Dollfuß-Zeit gegeben, wo die NS Leut zuerst eingsperrt worden sind. Beim KZ bei Messendorf bin i immer mit dem Bus vorbeigfohrn.“ Die Gefangenenlager, „des hätt nicht sein dürfen.“ Nach einer kurzen Pause aber rechtfertigt sie: „Aber i frag mi: Warum bin i denn eingesperrt? – Weil i irgendwas Blödes gsogt oder gmocht hob.“
Dass Millionen Juden in KZs im Deutschen Reich eingesperrt und ermordet wurden, „das war schon Wahnsinn!“ Sie schüttelt den Kopf. “Aber des konn i mir net vorstellen. I kenn niemanden, der eingsperrt worden ist.“ Sie spricht schnell und laut. „I weiß net, wos sie gsog hobm und wos sie geton hobm.“ Sie will das Thema beenden. „Ich. weiß. es. nicht.“ Sie schaut aus dem Fenster.
1940
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... gilt Graz als „judenrein“.
1941
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... fällt die erste Bombe auf Graz. Der Kriegshilfsdienst wird ausgerufen und die Pflicht auf ein Jahr an der Heimatfront verlängert, um den “kämpfenden Brüdern und Vätern zum Endsieg zu verhelfen”.
Gertrude M. kümmert sich bei einer Einsatzeinheit um verwundete Soldaten, die von der Front zurückgekommen sind. Dort lernt sie auch den Vater ihrer einzigen Tochter kennen, die 1943 auf die Welt kommen wird.
Das letzte Jahr des Krieges ist Gertrude M. bei einer Parteidienststelle. Doch dann intensivieren sich die Bombenangriffe. Sie flieht mit ihrer Tochter und hochschwangeren Schwester. „Wir worn von Graz noch Judenburg zwei Tage unterwegs. Inzwischen worn immer wieder Angriffe. Donn vom Bus runter, irgendwo rein und donn wieder weiter.“
Erinnerungslücken
8. Mai 1945
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Und dann war der Krieg aus.“
Obwohl sie sonst ein sehr gutes Gedächtnis hat, erinnert sie sich nur lückenhaft an die Jahre nach dem Krieg, an die Aufarbeitung, die Entnazifizierung und Besatzung. Oder sie will sich nicht erinnern. In ihrer Erzählung ist sie knapp und spult schnell nach vorn. „Ich weiß gar nicht wie das wor. Die Soldaten sind zum Teil heimkommen, zum Teil in Gefongenschoft. Und donn worn Verhondlungen und a neue Regierung mit dem Figl und den Rotn, den Schworzen und den Kommunisten.“
Freilich sei es eine große Veränderung gewesen, aber „man musste holt orbeiten. Man hot eh leicht a Orbeit gekriegt.“ Sie selbst findet eine Arbeit in der Lederfabrik Steiner. Von ihrem ersten Gehalt kauft sie sich „einen kleinen Radioapparat. Auf Raten abezahlt.“ Sie formt mit ihren Fingern ein kleines Rechteck in der Luft und lächelt stolz.
1950
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heiratet Gertrude M. 17 Jahre dauert die Ehe an, bis sie sich von dem „Pascher“ scheiden lässt. „Mein Monn hot verlongt, dass i mein Geholt an ihn abgeb. Aber meine Schwiegermutter hot gsogt, i soll’s ihm jo net geben!“ Nach der Scheidung kauft sie ihre Eigentumswohnung in St. Leonhard, ihre Eltern, die Getrude M. noch bis zu deren Tod pflegt, leben in der Wohnung direkt nebenan.
Nachdem ihr gekündigt wird, findet sie 1956 im STEWEAG, heute Energie Steiermark, eine neue Stelle. Bis zur Pensionierung arbeitet sie 25 Jahre, 48 Stunden die Woche. Freizeit gibt es wenig.
Und heute...
Juli 2023
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Russland führt seit 17 Monaten Krieg gegen die Ukraine, 1.875 Menschen sind seit Jahresbeginn auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertrunken und die FPÖ hat knapp 30 Prozent der Wahlbevölkerung auf ihrer Seite, mit Parolen wie “Festung Österreich. Grenzen schließen, Sicherheit garantieren” oder “Mehr Wohnungen statt mehr Moscheen”.
Gertrude M. sitzt in ihrem Sessel neben dem großen Fenster, der Fernseher läuft und auf oe24 spricht gerade ein Militärexperte. „Dieser Putin“, sagt sie abrupt, „er ist eine Bestie, da könnens sagen, was‘ wolln.“ Sie schüttelt den Kopf. „Es ist ihm alles Wurscht. 34 Dörfer überschwemmt, die gonzn ormen Menschen.“ Sie hat fast Tränen in den Augen. „Er ist ein Monster.“ Aber bitte keinen Vergleich mit Hitler.
Für Österreich wünscht sie sich, „dass man net olls zu uns rein losst.“ Dass Kriegsflüchtlinge Schutz bekommen sollen, ist „jo freilich, ober dieser radikale Islamismus ist schrecklich.“ Auf meinen Einwand hin, dass der Großteil der Muslime nicht radikal ist und auch nur friedlich leben und arbeiten will, erwidert sie nach kurzem Nachdenken: „Najo, sogn wir so. Es gibt solche und solche Leut. Es gibt jo auch Juden, die nett sind. Es kommt eh immer auf den Menschen drauf an.“ Immerhin. „I weiß eh net, wie des olles weiter gehen wird. Ober i werd des a olles nimmer erleben.“ Sie schaut mich an und lächelt erleichtert.
Damit sollte sie Recht haben. Gertrude M. ist im Juli 2023 zu Hause verstorben.
Über die Autorin
Daniela Pichler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin für "Law and Politics" an der Universität Graz. Das Kennenlernen mit Gertrude M. 2021 beschreibt sie als holprig. Die anfängliche Skepsis der alten Dame legte sich jedoch, als Pichler ihr erzählte, dass sie sich ebenfalls für Politik interessiere. "Nur dass wir fast gänzlich andere Ansichten hatten, wussten wir damals noch nicht", erklärt Pichler.
"Unsere widersprüchlichen Ansichten waren wohl für beide eine Herausforderung. Doch zwischen Versuchen uns gegenseitig umzustimmen und resignierenden Kopfnicken haben wir auch manchmal Kompromisse finden und uns immer mit einem Lächeln verabschieden können."
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