„Ich war eine Antwort auf Hitler“

Foto: Neuhold

WOCHE: Wie sind Sie als Kind mit dem Holocaust in
Berührung gekommen?

Ruth Kaufmann: Ich bin in der Israelitischen Kultusgemeinde Graz aufgewachsen – in den Häusern neben der Synagoge. Vor der Schoah gab es in der Gemeinde 2500 Menschen, 18 davon sind zurückgekehrt, darunter meine Eltern. Ich bin in einem Haus mit den Überlebenden groß geworden. Viele hatten Nummern auf ihren Unterarmen tätowiert.

Wie war das Trauma für Sie spürbar?

Meine Großmutter hat nie das Haus verlassen. Über den Holocaust wurde vor mir aber nicht geredet. Ich habe immer alle in ihren Wohnungen besucht und hatte das Gefühl, dass ich als Kind für das Leben gestanden bin. Ich war eine Antwort auf Hitler.

Wann haben Sie verstanden, was passiert ist?

In der Volksschule hat ein Mädchen zu mir gesagt: „Mit einer Sau-Jüdin“ spiele ich nicht.“ Da habe ich plötzlich vieles verstanden.

Schon Ihre Großeltern waren in der Israelitischen Kultusgemeinde aktiv …

Mein Ururgroßvater war Gründungsmitglied. Auch mein Großvater war aktiv, er war auch im jüdischen Fußballverein Hakoah engagiert.

Welche Rolle spielt der jüdische Glaube in Ihrem Leben heute?

Der Shabbat ist für mich ein Ruhetag, aber ich bin nicht streng religiös. Ich mag kein Fleisch, deshalb esse ich recht koscher.

Sie haben das „Haus der Namen“ initiiert und nun eröffnet: ein Holocaust-Gedenkzentrum unter der Synagoge. Sind wir zu wenig aufgeklärt über die Geschehnisse?

Es gibt Bedarf an der Ausstellung, das höre ich oft von Lehrern. Wir wollen damit ja nicht nur Wissen über den Holocaust vermitteln, sondern auch Mitgefühl schaffen. Deshalb erzählen wir die Geschichten von Opfern aus Graz. Im Fokus stehen die zwei Kinder Bertl und Adele. Er hat überlebt, sie nicht.

Wo ist heute mehr Mitgefühl nötig?

Alle Menschen brauchen Mitgefühl. Und jede Stadt braucht Bewusstsein für ihre Geschichte, damit so etwas nicht wieder passiert.

Erleben Sie, dass es heute Ausgrenzung von Menschen gibt?

Besorgniserregend finde ich links- und rechts-extreme sowie islamistische Gruppen.
Die Kinder, die unsere Ausstellung besuchen, geben Hoffnung: Sie sind tolerant.

Haben Sie als Frau je Diskriminierung erfahren?

Die Kultusgemeinde ist eine Männerdomäne, ich war die erste Frau als Präsidentin. Da muss man sich stärker durchsetzen. Ich arbeite gut mit Männern zusammen, aber es gibt auch bei uns respektlose Männer sowie respektlose Frauen. Alle Menschen haben Schwächen.

Gibt es für Sie weibliche Stärken?

Frauen arbeiten eher im Team, sind aber oft weniger hierarchiebewusst.

Sie sind Psychotherapeutin. Was hat Sie dazu bewogen?

Ich möchte die Menschen verstehen, auch ihre
Abgründe, und Sie bei einem guten Leben unterstützen.

Ihr Ziel für die Zukunft?

Jetzt kann man das „Haus der Namen“ nur nach Anmeldung besuchen. Ich möchte fixe Öffnungszeiten schaffen, dafür brauchen wir Geld für mehr Sicherheitspersonal. Alle jüdischen Einrichtungen brauchen das – in Graz ist nie etwas passiert, aber anderswo schon. Was ich auch erwähnen möchte: Im Zentrum gibt es auch Feiern. Man muss beides können: trauern und feiern.

WOCHE-Wordrap


Mein erster Gedanke in der Früh:
Ich freue mich auf das Schöne, was der Tag bringt.
Mein letzter Glücksmoment: als ich meinen neun Monate alten Enkel im Arm hatte.
Ein Lied, bei dem ich laut mitsinge: Hava Nagila
Als TV-Heldin wäre ich: Ich wäre keine Heldin, am
ehesten Pippi Langstrumpf.

Steckbrief:

Geboren: 1958
Ist: Psychotherapeutin
Seit 2010 Präsidentin des Israelitischen Kultusvereins

Push-Nachrichten auf dein Handy
MeinBezirk.at auf Facebook verfolgen
Die Woche als ePaper durchblättern
Newsletter deines Bezirks abonnieren

1 Kommentar

?

Du möchtest kommentieren?

Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.

Du möchtest selbst beitragen?

Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.