Ruhe auf Rezept: Dämpfende Pillen im Altenheim

Lethargisch, mit leerem Blick: Nicht immer stecken Krankheit und alter dahinter, mitunter sind es Tabletten. | Foto: bilderbox.at
  • Lethargisch, mit leerem Blick: Nicht immer stecken Krankheit und alter dahinter, mitunter sind es Tabletten.
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Sie sind müde, weggetreten oder schlafen: Menschen, die dämpfende Medikamente schlucken, sind in Altenheimen keine Seltenheit. Früher kamen in Einrichtungen oft Gurte zum Einsatz, um Demenzkranke, die verwirrt umherirren, an ihrem Platz zu halten. Heute werden schwierige Patienten oft mit Tabletten fixiert. Im Fachjargon: Durch Freiheitsbeschränkung mittels Medikation.

„Viele Bewohner, die zu uns kommen, schlucken deftige Psychopharmaka. Manche Institutionen halten die Leute so einfach ruhig“, sagt Birgit Schatz, Pflegedienstleiterin im Pflegezentrum Graz-St.Peter. „Wir holen dann unsere Neurologin, die die Klienten oft neu einstellt. Leider haben einzelne Verantwortliche hier viel Spielraum.“

In der Theorie sollte Missbrauch seit 2005 ausgemerzt sein: Seither sind alle Freiheitsbeschränkungen in Heimen und Kliniken gesetzlich geregelt und müssen gemeldet werden (siehe unten). Die Zahl der Meldungen von medikamentösen Ruhigstellungen ist seitdem österreichweit starkgestiegen: 2007 verzeichnete man an einem Stichtag 1350 derartige Fälle, 2012 waren es 3200. Der Anteil der Medikamente an allen Beschränkungen ist von sieben auf 23 Prozent geklettert. Mechanische Maßnahmen sind in Summe rückläufig. Am häufigsten sind aber immer noch seitliche Gitter an Betten.

Hohe Dunkelziffer
Ob die Zahl der Fälle steigt oder ob sie durch die Meldepflicht sichtbar werden, ist schwer zu sagen. „Beschränkungen durch Medikamente sind schwer zu kontrollieren“, sagt Heinz Wagner, Leiter der Bewohnervertretung Steiermark. Sie prüft die Fälle im Auftrag des Bundes. Trotz des Gesetzes steht nun der Verdacht im Raum, dass mit den Medikamenten teils großzügig umgegangen wird. „Wir sehen nur die Fälle, die gemeldet werden“, so der Bewohnervertreter. Das Problem: Diese Ruhigstellungen sind bei Kontrollen kaum zu entdecken: „Hat jemand einen Gurt, sehe ich das. Wenn jemand aber still im Rollstuhl sitzt, fällt es nicht auf.“
Eine hohe Dunkelziffer ortet Gerald Milcher, Leiter des SHVPflegeheims in Kapfenberg, der sich auf das Thema spezialisiert hat: „Aus meiner Erfahrung schätze ich, dass mehr als die Hälfte nicht gemeldet wird.“

Verbesserungsbedarf gibt es bei gemeldeten Beschränkungen oft, wie Bewohnervertreter Wagner sagt: „In rund der Hälfte der Fälle regen wir etwas sanftere Methoden an“ (siehe unten).

Schwammige Regelung
Ein großes Problem in der Praxis: Der Druck, der auf Ärzten und Pflegekräften lastet. Kritisiert wird hier der niederige Personalschlüssel in der Altenpflege in der Steiermark. „Wenige Mitarbeiter müssen starre Vorgaben erfüllen. Leisten Bewohner Widerstand, kommen auch Medikamente zum Einsatz“, sagt Wagner. Auch für Milcher ist klar: „Sind Mitarbeiter überfordert, gibt es mehr Ruhigstellungen – auch wenn das Gesetz Personalmangel nicht als Grund anerkennt.“

Graubereiche sieht Wagner zudem anderswo: Viele Medikamente wirken mehrfach, etwa dämpfend und gegen Verwirrung. Als Beschränkung gelten sie nur, wenn die Ruhigstellung eine Absicht des Arztes ist und nicht bloß Nebenwirkung. Sonst ist keine Meldung nötig. „Dem Arzt eine Absicht nachzuweisen, ist aber schwer.“ Vor allem, wenn einige Ärzte wenig Interesse an der Meldepflicht zeigen, kritisiert der Bewohnervertreter.

„Beschränkungen durch Medikation sind vom Gesetz leider schwammig geregelt“, sagt er. „Das ist auch aufgrund der Überalterung ein großes Thema.“
Elisabeth Pötler

Was das Gesetz sagt

Seit 2005 regelt das Heimaufenthaltsgesetz, wann und wie Menschen in Kliniken, Pflege- und Altenheimen in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt werden dürfen.
Betroffen sind Personen, die psychisch krank sind (etwa dement) und für sich oder andere eine ernsthafte Gefahr darstellen. Es darf keine andere Möglichkeit geben, um die Situation zu regeln.
Die Beschränkungen hindern Betroffene daran, sich fortzubewegen und erfolgen ohne oder gegen ihr Einverständnis. Umgesetzt werden sie mechanisch, etwa mit Gurten, elektronisch oder medikamentös.
Die Einrichtungsleiter müssen die Maßnahmen inklusive ärztlicher Diagnose melden. Überwacht werden die Fälle von der Bewohnervertretung des Vertretungsnetzes. Sie prüft vor Ort, ob alles gerechtfertigt scheint und schalten im Verdachtsfall das Gericht ein. Dann werden die Beschränkungen von einem Sachverständigen genau geprüft.

Der Alltag im Heim

Eine Herausforderung sind verwirrte Patienten, die nachts aktiv sind. „Gerade der Nachtdienst ist dünn besetzt“, weiß Pflegedienstleiter Milcher. Hier greift man oft zu Schlafmitteln um zu verhindern, dass Klienten herumgehen, stürzen und sich verletzen.
Die nächtliche Unruhe könnte man aber auch anders in den Griff bekommen, meint Milcher: Mit Beschäftigung tagsüber. „Viele Bewohner warten im Bett vom Frühstück auf Mittag- und Abendessen. Da kann am Abend niemand schlafen“, sagt der Krankenpfleger. Spiele oder Spaziergänge in Begleitung wären oft eine Lösung. Das Problem: „Das ist personell kaum machbar.“

„Leider fehlt das Personal“

Facharzt sagt: Ideale Bedingungen könnten Ruhigstellung verhindern.

Kann es sein, dass im Alltag zu oft ruhig gestellt wird?
Christian Jagsch: Das kann sein, es geschieht aber sicher ohne böse Absicht. Die gesetzliche Regelung kommt erst
langsam in der Praxis an. Wichtig ist ein Austausch zwischen Ärzten, Einrichtungsleitern und Bewohnervertretern.

Wo liegt da das Problem?
Alle Seiten haben mitunter etwas andere Vorstellungen davon, wie der Alltag ablaufen sollte. Das liegt aber meistens
an Wissenslücken.

Welche Rolle spielt die Anzahl der Pflegekräfte?
Eine große. Leider fehlt es ganz grundsätzlich am Personal: Im Idealzustand hätten wir einen Betreuungsschlüssel von 1:2 und bräuchten fast keine Beschränkungen. Das ist aber in der Praxis leider nicht umsetzbar.
Unabhängig davon wäre es gut, wenn mehr Pfleger und Hausärzte eine geriatrische Zusatzausbildung machen. Auch eine Spezialisierung der Heime, etwa auf Demenz, wäre sinnvoll.

Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf?
Alte Menschen nehmen oft zu viele Medikamente, die sich mit der Zeit ansammeln. Die Wechselwirkungen untereinander sind aber schon ab vier Mitteln nicht abschätzbar. Dabei kann es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen.

Primar Christian Jagsch leitet die Abteilung für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie an der Landesnervenklinik Sigmund Freud.

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