Volk und Kultur
Warum sagt man so leicht „Volkskultur“, obwohl es uns so schwer fällt, etwas klarer zu machen, was wir damit meinen?
Wer dabei nur an Volkstanz, Trachtendirndl und Dreigesang denkt, das Korbflechten und die Herrrgottschnitzerei einrechnet, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert hinter unseren kulturellen Erfahrungen.
Gehen wir doch einfach einmal davon aus, daß ein Mensch, wenn er Feierabend hat, weder von der Wissenschaft, noch von sozial höher aufgestellten Kreisen zugerufen bekommen möchte, was seine Kultur zu sein hat.
Wir stehen also gemeinsam und ganz unangestrengt im Vorzimmer der Volkskultur, wenn wir fragen: Was erbaut die Menschen, wenn Broterwerb und Alltagsbewältigung ruhen dürfen?
Diese Frage wird besonders interessant, wenn wir berücksichtigen, daß praktisch jeder Mensch ein kreatives Potential hat, welches emotional am erfreulichsten zu Wirkungen kommen kann, wo es nicht zweckgebunden wird, sondern sich um seiner selbst willen entfalten darf.
Das ist übrigens die radikalste Gemeinsamkeit mit Erscheinungsformen der Gegenwartskunst: Eine Sache um ihrer selbst willen gut machen wollen, weil einem das Erbauung und Befriedigung verspricht.
Genau dieses Bedürfnis hat noch ein Versprechen, wie es viele Menschen in ihrer Arbeitswelt kaum kennen und in sozialen wie familiären Bindungen eher zurückstellen müssen: Selbstbestimmung.
Nun ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung macht Selbstbestimmung quasi auch zum Beruf und schafft dabei ein wirtschaftliches Erfolgslevel, auf dem die Selbstbestimmung mehr ausmacht als diverse Zwänge, die wir alle kennen.
Wer im Selbstzweck einer Tätigkeit Erbauung und Erfüllung sucht, wer ästhetische Erfahrungen sucht, also Wahrnehmungserfahrungen, ob nun auf musischem Gebiet oder in trivialeren Genres, bewegt sich auf dem Feld der Volkskultur.
Da nun die eigne Erbauung dabei gegenüber anderen Zusammenhängen den Vorrang hat, werden die meisten Menschen, wenn sie den Boden der Volkskultur betreten, keine Belehrungen brauchen. Sie werden Zurufe, die Verhaltensweisen oder Qualitätskriterien betreffen, einfach ignorieren; zu Recht, wie ich meine.
Am Anfang kann nur die eigene Neugier stehen und was einem selbst gefällt, ganz egal, was andere davon halten oder was etwa in einer Bildungsdebatte als „erstrebenswertes Niveau“ gilt. Um es etwas polemisch verkürzt auf den Punkt zu bringen: Wir haben alle auch ein Recht auf billige Unterhaltung. Wer das in Abrede stellt, ist ein Schnösel.
Daß dabei die Chance besteht, durch Wahrnehmungserfahrungen seinen Geschmack zu verfeinern und damit für neue Irritationen und nächste Erfahrungen reif zu werden, ist bloß eine Option von mehreren möglichen Wegen, die uns allen offen stehen.
Um es deutlich zu machen: wer sich aufgerafft hat Aquarelle zu malen, genießt dabei unbedingt die Freiheit, Jahrzehnte nichts dazuzulernen. Für einen Profi-Künstler wäre das sein Aus, für Kreative im Kontext der Volkskultur ist es ein selbstverständliches Recht.
Wer sein Leben lang ein Fan von Andreas Gabalier oder Helene Fischer bleibt, genießt dabei eine zeitgemäße Deutung der Volkskultur, auch wenn „Kulturhüter“ das erfahrungsgemäß bestreiten. Daß solche Fans meist darauf verzichten, raffinierte, virtuose Volksmusik kennen und lieben zu lernen, steht auf einem anderen Blatt.
Unsere Erfahrung besagt, daß trivialere, simplere Formen leichter zu einem Gegenstand der Massenkultur werden, weshalb wir in Fragen von Bildungskonzepten und Kulturpolitik Unterscheidungen und Bewertungen treffen müssen. Wenn das aber zum Anlaß wird, populärere Kulturphänomene zu denunzieren, finden wir uns sehr schnell in soziokulturellen Sackgassen wieder.
Das spricht nicht gegen eine kritischen Kulturdiskurs und es verlangt auch in der praktischen Kulturarbeit, immer wieder klare Positionen zu suchen. Vor allem im Einsatz öffentlicher Mittel, wo es um Kulturbudgets geht, ist da ein mögliches Streitgespräch förderlich, wird es unverzichtbar bleiben, daß Proponenten und Proponentinnen ihre Gründe nennen. Die sind in der Kulturpolitik dann auch Ausschließungsgründe. Wo ein Jahresbudget Grenzen hat, ist das, was die Einen bekommen, eben das, was den Anderen ausgeschlagen wird.
Aber zurück zum Ausgangspunkt dieser Erörterung. Mein Großvater Richard, Steinmetz von Beruf, mußte sich noch nicht fragen, ob die Massenkultur verwässert habe, was ihn kulturell bewegte. Als Handwerker erlebte er, wie das Handwerk durch die Industrie abgewertet wurde. Da hatte er seine Heimat in der agrarischen Welt, die Klachau im Schatten des Grimming, längst verlassen.
Ich weiß aus seinen Erzählungen noch manches, was er gesehen und erlebt hat, aber das ist schon Jahrzehnte nicht mehr, was wir uns unter Volkskultur vorstellen können. Volkskultur ist vor allem das, was sich auftut, wenn Menschen die Erwerbsarbeit und andere Alltagspflichten ruhen lassen dürfen, um dann selbstbestimmt ihren emotionalen, kulturellen und ästhetischen Bedürfnissen nachzugehen. Was sonst?
+) Zum Thema [link]
Kommentare
Du möchtest kommentieren?
Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.